BT-Drucksache 17/4415

Ergänzende Informationen zur Asylstatistik für das vierte Quartal und das Gesamtjahr 2010

Vom 17. Januar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4415
17. Wahlperiode 17. 01. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dag˘delen, Petra Pau, Jens Petermann,
Kersten Steinke, Frank Tempel, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Ergänzende Informationen zur Asylstatistik für das vierte Quartal
und das Gesamtjahr 2010

Die von der Fraktion DIE LINKE. regelmäßig erfragten ergänzenden Informa-
tionen zur Asylstatistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
(BAMF) sollen Aspekte näher beleuchten, die von der offiziellen monatlichen
Statistik ausgeblendet werden.

Hierdurch wird unter anderem deutlich, welche große Bedeutung Asylwider-
rufsverfahren in der Entscheidungspraxis des BAMF haben. Im Jahr 2009 wur-
den über 10 500 solcher Verfahren eingeleitet und in über 4 500 Fällen kam es
zum Widerruf einer in der Vergangenheit ausgesprochenen Asyl- bzw. Flücht-
lingsanerkennung. In keinem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union
gibt es auch nur annähernd so viele Widerrufsverfahren. Lediglich Frankreich
spricht Widerrufe in einer niedrigen dreistelligen Zahl jährlich aus, in den meis-
ten Mitgliedstaaten gibt es entweder gar keine oder eine nur geringe Zahl von
Asylwiderrufen.

Die offizielle monatliche Asylstatistik enthält auch keine Angaben zum Anteil
derjenigen Asylanträge, für die nach Auffassung der Bundesrepublik Deutsch-
land ein anderer EU-Mitgliedstaat im Rahmen der Dublin-II-Verordnung zu-
ständig ist. Dies ist jedoch in einem wachsenden Umfang der Fall, im Jahr 2009
bei etwa einem Drittel aller Asylanträge. Ausgerechnet das ohnehin überfor-
derte Griechenland wurde dabei mit 2 288 Ersuchen am häufigsten – in jedem
vierten Fall – wegen der Übernahme von Asylsuchenden aus Deutschland an-
gefragt. Flüchtlinge aus Afghanistan und Irak bildeten dabei die größten Grup-
pen der Betroffenen. Hoch brisant ist, dass nach Angaben vom Statistischen
Amt der Europäischen Union in Deutschland 2009 über 30 Prozent der Asyl-
suchenden einen Flüchtlingsstatus erhielten, während dieser Wert in Griechen-
land bei lediglich 0,2 Prozent lag. Von auch nur annähernd gleichen Chancen
im europäischen Asylsystem, die das gegenwärtige Zwangsverteilungssystem
im Rahmen der Dublin-Verordnung rechtfertigen können sollen, kann deshalb
keine Rede sein.

Wenig bekannt ist auch, dass genau ein Drittel aller Asylsuchenden im Jahr

2009 minderjährige Kinder waren.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie hoch war die Gesamtschutzquote (Anerkennungen nach Artikel 16a des
Grundgesetzes, nach § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG)/der
Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und von Abschiebungshindernissen

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nach § 60 Absatz 2, 3, 5 und 7 AufenthG) in der Entscheidungspraxis des
BAMF im vierten Quartal und im Gesamtjahr 2010, und wie lauten die jewei-
ligen Vergleichswerte des Vorjahres (bitte in absoluten Zahlen und in Prozent
angeben, bitte auch nach den zehn wichtigsten Herkunftsländern und der Art
der Anerkennung differenzieren: Asylberechtigung – staatliche/nichtstaatli-
che Verfolgung –, Flüchtlingsschutz – staatliche/nichtstaatliche Verfolgung –,
subsidiärer Schutz nach § 60 Absatz 2 und 5 AufenthG – unmenschliche Be-
handlung –, subsidiärer Schutz nach § 60 Absatz 3 AufenthG – Todesstrafe –,
subsidiärer Schutz nach § 60 Absatz 7 Satz 2 AufenthG – bewaffnete
Konflikte –, subsidiärer Schutz nach § 60 Absatz 7 Satz 1 AufenthG – sons-
tige existenzielle Gefahren –), und wie hoch war in den genannten Zeit-
räumen die Ablehnungsquote, wenn Dublin-Entscheidungen nicht berück-
sichtigt werden?

2. Wie viele Widerrufsverfahren wurden im vierten Quartal und im Gesamtjahr
2010 eingeleitet, und wie lauten die jeweiligen Vergleichswerte des Vor-
jahres (bitte Gesamtzahlen angeben und nach den verschiedenen Formen der
Anerkennung und den zehn wichtigsten Herkunftsländern differenzieren)?

3. Wie viele Entscheidungen in Widerrufsverfahren mit welchem Ergebnis gab
es in den vorgenannten Zeiträumen (bitte Gesamtzahlen angeben und nach
den verschiedenen Formen der Anerkennung und den zehn wichtigsten
Herkunftsländern differenzieren, bitte auch die jeweiligen Widerrufsquoten
benennen)?

4. Wie lang war die durchschnittliche Verfahrensdauer im Jahr 2010 (bzw.
soweit bekannt) bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung (d. h. inklusive
eines Gerichtsverfahrens, bitte auch nach den zehn wichtigsten Herkunfts-
ländern differenzieren)?

5. Wie viele Verfahren im Rahmen der Dublin-II-Verordnung wurden im vier-
ten Quartal und im Gesamtjahr 2010 eingeleitet, und wie lauten die jewei-
ligen Vergleichswerte des Vorjahres (bitte in absoluten Zahlen und in Pro-
zentzahlen die Relation zu allen Asylerstanträgen sowie die Quote der auf
EURODAC-Treffern (EURODAC: Datenbank für Fingerabdrücke von
Asylbewerbern) basierenden Verfahren und die Quote der Verfahren nach
„illegalem“ Grenzübertritt ohne Asylgesuch angeben)?

a) Welches waren in den benannten Zeiträumen die zehn am stärksten be-
troffenen Herkunftsländer, und welches die zehn am stärksten angefrag-
ten EU-Mitgliedstaaten (bitte in absoluten Werten und in Prozentzahlen
angeben)?

b) Wie viele Dublin-Entscheidungen mit welchem Ergebnis (Zuständigkeit
eines anderen EU-Mitgliedstaats bzw. der Bundesrepublik Deutschland,
Selbsteintritt nach Artikel 3 Absatz 2 der Dublin-Verordnung (DublinV),
humanitäre Fälle nach Artikel 15 DublinV) gab es in den benannten Zeit-
räumen?

c) Wie viele Überstellungen nach der Dublin-II-Verordnungen wurden in
den benannten Zeiträumen vollzogen (bitte in absoluten Werten und in
Prozentzahlen angeben und auch nach den zehn wichtigsten Herkunfts-
ländern und EU-Mitgliedstaaten – in jedem Fall auch Griechenland – dif-
ferenzieren)?

d) Wie hoch war der Anteil der in Zuständigkeit der Bundespolizei durchge-
führten Dublin-Verfahren bzw. Überstellungen?

6. Wie viele Asylanträge wurden im vierten Quartal und im Gesamtjahr 2010
(bitte auch die jeweiligen Vergleichswerte des Vorjahres nennen) nach § 14a

Absatz 2 des Asylverfahrensgesetzes von Amts wegen für hier geborene
(oder eingereiste) Kinder von Asylsuchenden gestellt, wie viele Asylanträge

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wurden in den genannten Zeiträumen von Kindern bzw. für Kinder unter
16 Jahren bzw. von Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren bzw. von unbe-
gleiteten minderjährigen Flüchtlingen gestellt (bitte jeweils in absoluten
Zahlen und in Prozentzahlen in Relation zur Gesamtzahl der Asylanträge so-
wie die Gesamtzahl der Anträge unter 18-Jähriger und sich überschneidende
Teilmengen angeben), und wie hoch war die Gesamtschutzquote bei unbe-
gleiteten Minderjährigen bzw. bei unter 18-Jährigen?

7. Wie lautet die Statistik zu Rechtsmitteln und Gerichtsentscheidungen im Be-
reich Asyl für das Jahr 2010 (soweit vorliegend), und welche Angaben zur
Dauer des gerichtlichen Verfahrens lassen sich machen (bitte wie in der Ant-
wort auf Bundestagsdrucksache 17/1717 zu Frage 7 darstellen)?

a) Wieso hält das BAMF an seiner Entscheidungspraxis in Bezug auf afgha-
nische Flüchtlinge fest, obwohl auch nach den Urteilen des Bundesver-
waltungsgerichts vom 29. Juni 2010 (10 C 9 und 10.09) afghanische
Flüchtlinge, die gegen eine Ablehnung durch das BAMF klagen, in
einem auffallend hohem Anteil durch Gerichte einen Schutzstatus zu-
gesprochen bekommen und diese Klagen in nur sehr wenigen Fällen ab-
gelehnt werden, und welche Schlussfolgerungen zieht das BAMF aus den
genannten Urteilen, zu denen eine schriftliche Begründung inzwischen
vorliegen dürfte (bitte möglichst genau ausführen, Nachfrage zu den Ant-
worten auf Bundestagsdrucksachen 17/2674 und 17/3744, jeweils zu
Frage 7a)?

b) Inwieweit lässt sich anhand der aktuellen Zahlen zur Rechtsprechung be-
züglich der Widerrufe gegenüber türkischen Flüchtlingen die Auffassung
der Bundesregierung belegen, die Bewertung des BAMF, solche Wider-
rufe seien aufgrund einer angeblich dauerhaft und grundlegend geänder-
ten Sachlage in der Türkei gerechtfertigt, könnte sich bei den Verwal-
tungsgerichten durchsetzen, und mit welcher Begründung hält das BAMF
an seiner diesbezüglichen Widerrufspraxis, die in nur geringem Anteil
gerichtlich bestätigt wird, trotz des hohen prozessualen Aufwands für alle
Beteiligten und der psychischen Belastungen für die Betroffenen fest
(Nachfrage zu der Antwort auf Bundestagsdrucksache 17/3744 zu
Frage 7b)?

c) Welche Schlussfolgerungen für seine Widerrufspraxis in Bezug auf aner-
kannte Flüchtlinge aus Togo zieht das BAMF daraus, dass diese Wider-
rufe in nur geringer Zahl gerichtlich bestätigt bzw. zu über 75 Prozent
(Januar bis August 2010) von den Gerichten als rechtswidrig beurteilt
wurden (bitte begründen, Nachfrage zu der Antwort auf Bundestags-
drucksache 17/3744 zu Frage 7c)?

8. Wie bewertet und erklärt die Bundesregierung den Umstand, dass im Jahr
2009 über 99 Prozent (2008 waren es über 90 Prozent) aller Anerkennungen
einer Flüchtlingseigenschaft auf einer nichtstaatlichen Verfolgung basierten
(Wiederholung der insoweit unbeantwortet gebliebenen Frage 10 auf Bun-
destagsdrucksache 17/3744)?

a) Stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, dass dieser enorm hohe
Anteil nichtstaatlicher Verfolgung bei den Anerkennungen auch ohne ge-
naue statistische Kenntnisse zu den Fluchtgründen (in Bezug auf deren
(Nicht-)Staatlichkeit) vor dem Jahr 2005 die Annahme zulässt, dass viele
derjenigen, die heute als „schutzbedürftige Flüchtlinge“ anerkannt wer-
den, vor dem Jahr 2005 nach dem damals geltenden Recht als „nicht-
schutzbedürftig“ abgelehnt worden wären (bitte begründen)?

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b) Welche Schlussfolgerungen ergeben sich hieraus für die in der Vergan-
genheit auch von mehreren Bundesregierungen geäußerte Auffassung,
bei Asylsuchenden handele es sich zu einem hohen Prozentsatz (der z. B.
auf 95 Prozent beziffert wurde) um bloße „Wirtschaftsflüchtlinge“ oder
„Scheinasylanten“ (bitte ausführen)?

Berlin, den 17. Januar 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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