BT-Drucksache 17/4213

Aktuelle Berichte zur Situation des griechischen Asylsystems und Konsequenzen der Bundesregierung hieraus

Vom 14. Dezember 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4213
17. Wahlperiode 14. 12. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Raju Sharma, Jens Petermann und der
Fraktion DIE LINKE.

Aktuelle Berichte zur Situation des griechischen Asylsystems und Konsequenzen
der Bundesregierung hieraus

Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder
erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) hat sich in seinem aktuellen
Bericht über Griechenland vom 17. November 2010 auch mit der Behandlung
von irregulären Migranten und Schutzsuchenden befasst. In den Feststellungen
42 bis 47 und 61 bis 85 geht es dabei insbesondere um die Zustände in den
speziellen Hafteinrichtungen für irreguläre Migranten und den Polizeigewahr-
samsstellen, in denen sich ebenfalls irreguläre Migranten befinden. Nach grie-
chischem Recht ist die Inhaftierung dieser Migranten eine administrative Maß-
nahme, die keiner Anordnung durch einen Richter bedarf. In Verletzung von
Artikel 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention werden auch Asylsu-
chende in solche Hafteinrichtungen verbracht. Die Zustände dort werden als in
vielen Fällen unzumutbar geschildert. Einige Einrichtungen seien überfüllt,
viele in einem baufälligen Zustand, hygienische Einrichtungen mangelhaft, mit
wenig Möglichkeit für die Festgehaltenen, sich im Freien aufzuhalten oder
sportlich zu betätigen. Die medizinische Versorgung sei ebenfalls nicht ausrei-
chend, unter anderem fehle eine überall obligatorische Eingangsuntersuchung
auf ansteckende und Hautkrankheiten. Das Europäische Komitee stellte zudem
fest, dass die festgehaltenen Migranten nicht oder zumindest nicht ausreichend
über ihre rechtlichen Möglichkeiten informiert werden und nur in seltenen Fäl-
len Kontakt zu einem Anwalt oder zu Verwandten aufnehmen konnten. Der UN-
Sondergesandte Dr. Manfred Nowak hatte bereits am 20. Oktober 2010 in einem
Bericht an die UN-Generalversammlung eine Schilderung der Zustände in
diesen Einrichtungen vorgenommen, die er als inhuman und erniedrigend
beschrieb. Er zeigt in seinem Bericht auch, dass das griechische Asylsystem mit
derzeit 52 000 offenen Fällen vollkommen überlastet ist, gleichzeitig aber viele
Schutzsuchende faktisch überhaupt keinen Asylantrag stellen können. Unter den
oben genannten „irregulären Migranten“ dürfte sich also auch eine große Zahl
Schutzbedürftiger befinden, deren Schutzbedürftigkeit aber nicht geprüft wird.
Durch das Rückübernahmeabkommen mit der Türkei bestehe insbesondere für
Flüchtlinge aus dem Iran, Irak und Syrien die Gefahr der Rückschiebung bis in
ihre Herkunftsstaaten – eine Verletzung des non-refoulement-Gebots der Anti-
Folter-Konvention.

Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl hat am 25. November 2010 ebenfalls ei-
nen Bericht vorgelegt, der die Ergebnisse eines Besuchs in der Evros-Region zu-
sammenfasst. In dieser Region an der Landgrenze zwischen Griechenland und
der Türkei ist seit dem 4. November 2010 ein Soforteinsatzteam (RABIT) der
EU-Grenzschutzagentur FRONTEX im Einsatz, dem auch deutsche Beamte an-
gehören. Nach Angaben von Pro Asyl sind die Zustände in den Aufnahme- bzw.

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Abschiebelagern in der Nähe der Grenze katastrophal, sie seien vollkommen
überfüllt, es fehle an sanitären Einrichtungen, Verpflegung und medizinischer
Versorgung. Die Identifizierung der eingereisten Migranten werde in einem we-
nige Minuten dauernden Schnellverfahren durchgeführt, das eine extrem hohe
Fehlerquote aufweise. In diesem Zusammenhang verweist auch Pro Asyl auf die
Gefahr der Verletzung des Zurückweisungsverbotes. Auch die FRONTEX-
Beamten nehmen keine Prüfung der Schutzbedürftigkeit vor, sie übergeben die
aufgegriffenen Migranten lediglich den griechischen Behörden. Von diesen
würde die Entgegennahme von Asylanträgen strukturell verhindert und behin-
dert.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Hat die Bundesregierung den Bericht des CPT zur Situation für Asylsu-
chende und irreguläre Migranten in Griechenland zur Kenntnis genommen,
und was sind ihre Schlussfolgerungen?

2. Hat die Bundesregierung den Bericht des UN-Sondergesandten Dr.
Manfred Nowak zur Situation für Asylsuchende und irreguläre Migranten
in Griechenland zur Kenntnis genommen, und was sind ihre Schlussfolge-
rungen?

3. Hat die Bundesregierung den Bericht von Pro Asyl zur Situation für Asylsu-
chende und irreguläre Migranten in Griechenland zur Kenntnis genommen,
und was sind ihre Schlussfolgerungen?

4. Wie viele Asylverfahren sind derzeit in Griechenland anhängig, wie viele
Asylanträge wurden im Jahr 2010 bislang gestellt, wie hoch war die Zahl
der Anerkennungen und Ablehnungen in der ersten bzw. zweiten Instanz?

5. Wie viele Migrantinnen und Migranten ohne Einreise- oder Aufenthaltspa-
piere reisten nach Kenntnis der Bundesregierung nach Griechenland ein,
ohne einen Asylantrag zu stellen?

6. Welche konkreten Maßnahmen sind im Jahr 2010 von der Bundesregierung
ergriffen worden, um die Asylsituation in Griechenland zu verbessern?

7. Welche konkreten Maßnahmen zur Verbesserung des Asylsystems in Grie-
chenland sind nach Kenntnis der Bundesregierung im Jahr 2010 von Seiten
der Europäischen Union ergriffen worden?

8. Hat die Bundesregierung zur Kenntnis genommen, dass der griechische
Bürgerschutzminister erklärt hat, sein Land sei auch aus finanziellen Grün-
den nicht in der Lage, die Asylsundenden aufzunehmen und zu versorgen?

Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung hieraus, und welche
Maßnahmen sollen ihrer Ansicht nach ergriffen werden, um für eine Entlas-
tung Griechenlands zu sorgen?

9. Hat die Bundesregierung die entsprechenden Hinweise aus dem Bericht
des CPT zur Kenntnis genommen, nach denen es in den griechischen Auf-
nahme- und Abschiebeeinrichtungen Versorgungslücken gab, weil zu-
ständige Behörden Rechnungen nicht bezahlen konnten (Feststellungen
Nummer 66, 73)?

Hat die Bundesregierung eigene Erkenntnisse zu den Auswirkungen der
griechischen Haushaltslage auf das Asylsystem, und wenn ja, welche?

10. Welche Einschätzung vertritt die Bundesregierung zum von Griechenland
beim EU-Rat der Justiz- und Innenminister am 2. und 3. Dezember 2010
vorgelegten Plan zur Verbesserung des Asylsystems in den nächsten drei
Jahren?

Wie wird die Bundesregierung diesen Plan und die darin vorgelegten Maß-
nahmen unterstützen?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4213

11. Wie lautet die monatliche Statistik zu Dublin-Überstellungen, Selbsteintrit-
ten und gescheiterten Überstellungen in Bezug auf Griechenland für die
Monate Januar bis Oktober 2010 (soweit vorliegend, bitte in der Form wie
zu Frage 13 auf Bundestagsdrucksache 17/203 angeben)?

12. Wird das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bis zu erkennbaren sub-
stantiellen Verbesserungen im griechischen Asylsystem an seiner Praxis
festhalten, bei besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen vom Selbstein-
trittsrecht der Dublin-II-Verordnung Gebrauch zu machen?

Um welche Gruppen von Flüchtlingen handelt es sich dabei derzeit?

13. Welche am Dublin-System beteiligten Staaten sind der Bundesregierung
bekannt, die derzeit keine Überstellungen von Asylsuchenden nach Grie-
chenland vornehmen?

14. Welche am Dublin-System beteiligten Staaten sind der Bundesregierung
bekannt, die angekündigt haben, zumindest verstärkt vom Selbsteintritts-
recht Gebrauch zu machen?

15. In welchen der Dublin-Staaten gibt es einen Stopp von Rücküberstellungen
nach Griechenland infolge von Entscheidungen oder Bitten des Europäi-
schen Gerichtshofs für Menschenrechte?

16. Treffen Presseberichte zu (dapd-Meldung vom 30. November 2010), wo-
nach sich die Zahl der (festgestellten) illegalen Grenzübertritte an der grie-
chisch-türkischen Landgrenze seit dem Einsatz des FRONTEX-Sofort-
einsatzteams stark verringert hat, welche eigenen Erkenntnisse hat die
Bundesregierung hierzu?

17. Sieht die Bundesregierung in dieser effektiveren Grenzabschottung einen
Beitrag für die effizientere Ausgestaltung des griechischen Asylsystems
und allgemein einen Beitrag für ein „Europa des Asyls“, wie es von den EU-
Innenministern proklamiert wurde?

18. Welche Einschätzungen liegen nach Kenntnis der Bundesregierung zu der
Frage vor, welchen alternativen Weg die Schutzsuchenden aus dem Iran,
Syrien, Irak, Afghanistan und Pakistan nun suchen werden, die bislang ver-
sucht haben über die griechisch-türkische Grenze in die EU zu gelangen?

19. Wie ist die Haltung der Bundesregierung zum Vorschlag der EU-Kommis-
sion, den Dublin-Mechanismus in Fällen eines großen Zugangs von Schutz-
suchenden auszusetzen, wenn der gemeinsame Aquis des Flüchtlings- und
Verfahrensrechts voll angewendet wird (JI-Ratstreffen am 8. und 9. Novem-
ber 2010)?

Teilt die Bundesregierung die Befürchtung der Fragesteller, dass durch die
letztgenannte Bedingung ein solches Aussetzen des Mechanismus ins Leere
laufen würde?

20. Welche Haltung vertritt die Bundesregierung zum Vorschlag Großbritan-
niens beim Treffen der EU-Justiz- und -Innenminister am 8. und 9. Novem-
ber 2010, das Tempo der Asylrechtsharmonisierung zu drosseln?

Stehen die zahlreichen Vorbehalte der Bundesregierung gegen den Vor-
schlag der EU-Kommission für eine Neufassung der Flüchtlingsanerken-
nungsrichtlinie (vgl. Bundestagsdrucksache 17/3797) mit diesem Ansinnen
in einem Zusammenhang?

21. Wie weit ist nach Kenntnis der Bundesregierung die Einrichtung einer un-
abhängigen Asylbehörde in Griechenland gediehen, die die Durchführung
der Asylverfahren von den bei den Polizeipräfekturen angesiedelten Asyl-
kommissionen übernehmen sollen (vgl. Antwort der Bundesregierung zu
Frage 4 auf Bundestagsdrucksache 17/1340)?

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22. Kann die Bundesregierung die Angaben des UN-Beauftragen Dr. Manfred
Nowak bestätigen, die eigentlich zuständigen Polizeibehörden würden die
Annahme von Asylgesuchen verweigern und die zuständigen Direktionen
hätten auch nicht die Kapazitäten, sie zu bearbeiten, wie bewertet sie diese
Angaben, und welche Konsequenzen zieht sie daraus?

23. Welche Einschätzung vertritt die Bundesregierung zur Befürchtung des
UN-Beauftragten Dr. Manfred Nowak, Asylsuchenden aus dem Iran, Irak
und Syrien drohe durch das griechisch-türkische Rückübernahmeabkom-
men die Kettenabschiebung in ihre Herkunftsländer und damit eine Verlet-
zung des Zurückweisungsverbotes, und welche Konsequenzen zieht sie dar-
aus?

24. Welche eigenen Erkenntnisse hat die Bundesregierung zum Vorwurf des
UN-Beauftragten Dr. Manfred Nowak und Pro Asyls, die griechische Poli-
zei verhindere systematisch die Asylantragstellung Schutzsuchender und
nehme sie ohne weitere Aufklärung über ihre Situation in Abschiebehaft?

25. Hält die Bundesregierung weiter an der Praxis fest, Überstellungen im Rah-
men des Dublin-Verfahrens nicht anzukündigen und somit ohne (wirk-
samen) Rechtsschutz zu vollziehen, obwohl das Bundesverfassungsgericht
in der mündlichen Verhandlung am 28. November 2010 erkennen ließ, dass
es einen Rechtsschutz mit aufschiebender Wirkung für erforderlich hält?

26. Welche Entscheidungen in der Rechtsprechung zur Frage der Zulässigkeit
von Dublin-Überstellungen nach Griechenland sind der Bundesregierung
inzwischen aus dem Jahr 2010 bekannt (bitte wie in der Anlage zu Fra-
ge 15 auf Bundestagsdrucksache 17/203 beantworten), und welche Schluss-
folgerungen zieht sie aus dieser Rechtsprechung?

Berlin, den 14. Dezember 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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