BT-Drucksache 17/4037

Akteneinsichtsrechte Dritter in Verfahrensakten des Bundesverfassungsgerichtes stärken

Vom 1. Dezember 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4037
17. Wahlperiode 01. 12. 2010

Antrag
der Abgeordneten Jan Korte, Ulla Jelpke, Petra Pau, Jens Petermann,
Raju Sharma, Frank Tempel, Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Akteneinsichtsrechte Dritter in Verfahrensakten des
Bundesverfassungsgerichtes stärken

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das Plenum des Bundesverfassungsgerichts will noch dieses Jahr zusammen-
kommen und in die Geschäftsordnung eine einheitliche Sperrfrist für die Ge-
währung von Akteneinsichts- und -auskunftsersuchen Dritter in Verfahrens-
akten von 90 Jahren gerechnet ab der Verkündung einer Entscheidung aufneh-
men.

Der Deutsche Bundestag begrüßt vor diesem Hintergrund die Resolution des
Deutschen Rechtshistorikertages in Münster vom 15. September 2010 und teilt
die darin geäußerte Auffassung, dass dieses Vorhaben die Erforschung der Zeit-
geschichte erheblich beeinträchtigt, im Hinblick auf die Gewährleistung der
Wissenschaftsfreiheit bedenklich ist und im Übrigen im Widerspruch zu den
gesetzlichen Regelungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes sowie des
Bundesarchivgesetzes steht.

Der Deutsche Bundestag bedauert, dass das Bundesverfassungsgericht mit die-
sem Vorhaben und der bisherigen Handhabung der Gewährung von Aktenein-
sichts- und -auskunftsersuchen Dritter hinter den in dessen eigenen Entschei-
dungen entwickelten Maßstäben zurückbleibt.

Der Deutsche Bundestag ist der Auffassung, dass die bestehenden Sperrfristen
für Akteneinsichts- und -auskunftsersuchen Dritter – insbesondere im Bundes-
archivgesetz – nicht mehr zeitgemäß sind und verkürzt werden müssen. Sperr-
fristen von 30 Jahren und mehr für die Einsicht in Vorgänge der öffentlichen
Gewalt lassen sich auf die Anfänge des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen. Kür-
zere Sperrfristen tragen den seit dieser Zeit gewandelten politischen und gesell-
schaftlichen Verhältnissen Rechnung. Die stetige Verbesserung der Partizipa-
tion an und der Kontrolle der öffentlichen Gewalt durch Bürgerinnen und Bür-
ger – Bestrebungen, die nicht zuletzt ihren Niederschlag im Informationsfrei-
heitsgesetz gefunden haben –, ist für einen zukunftsfähigen modernen
demokratischen Rechtsstaat selbstverständlich. Die rasante Entwicklung zu ei-

ner Informations- und Wissensgesellschaft, vorangetragen durch die zuneh-
mende, alle Lebensbereiche durchdringende Digitalisierung, lässt aber auch die
Halbwertszeit von Informationen, die Dauer sowie die Relevanz von Entschei-
dungsprozessen immer stärker zurückgehen.

Drucksache 17/4037 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, einen Gesetz-
entwurf vorzulegen,

1. der die Akteneinsicht- und -auskunftsrechte Dritter im Bundesverfassungs-
gerichtsgesetz nach Vorbild des Bundesarchivgesetzes konkretisiert sowie
einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Versagung der Akten-
einsicht oder -auskunft vorsieht;

2. der die Angebots- und Übergabepflicht sämtlicher Verfahrensakten des Bun-
desverfassungsgerichtes an das Bundesarchiv nach Maßgabe von § 2 des
Bundesarchivgesetzes auch im Bundesverfassungsgerichtsgesetz aufnimmt;

3. die Sperrfristen im Bundesarchivgesetz um 20 Jahre verkürzt.

Berlin, den 1. Dezember 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Allgemeines

Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) stehen im beson-
deren Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Aufgrund der Stellung als Ver-
fassungsorgan und den weitreichenden Kompetenzen kommt dem BVerfG eine
Bedeutung zu, die nicht nur in der deutschen Rechtsgeschichte einzigartig, son-
dern auch im internationalen Vergleich Vorbildfunktion für Verfassungsge-
richtsbarkeiten hat. Das BVerfG ist Hüter und letztverbindlicher Interpret der
Verfassung. Die durch das Grundgesetz verliehenen Befugnisse stellen eine be-
sondere und einzigartige Machtfülle in einem gewaltengeteilten Staat dar. Auch
wenn das BVerfG allein am Maßstab der Verfassung entscheidet, Politikziele
mithin selbst nicht definieren kann, ist es dennoch – jedenfalls mithilfe der Po-
litik, die ihre Auseinandersetzungen oft dem BVerfG als Streitschlichter über-
antwortet, aber auch angelegt in der Wahl der Bundesverfassungsrichterinnen
und Bundesverfassungsrichter durch Bundestag und Bundesrat – ein politischer
Machtfaktor geworden (Prof. Dr. Jutta Limbach, Präsidentin des Bundesverfas-
sungsgerichts a. D., „Das Bundesverfassungsgericht als politischer Machtfak-
tor“, HFR 1996, Beitrag 12, Rn. 8).

Vor diesem Hintergrund besteht ein großes wissenschaftliches und journalisti-
sches Interesse an der Aufarbeitung der Entscheidungen, das sich auch auf den
Entscheidungsfindungsprozess und nicht nur auf das Ergebnis bezieht. Trotz
der umfassenden Kompetenzen und der politischen Implikationen, die ein
Höchstmaß an Transparenz bei der Entscheidungsfindung erwarten lassen, sto-
ßen Wissenschaft und Presse nicht nur bei politisch besonders brisanten Ent-
scheidungen regelmäßig auf erhebliche und kaum überwindbare Widerstände
beim BVerfG (und beim Bundesarchiv), wenn sie dessen Akten teilweise oder
vollständig einsehen wollen.

Einzelbegründung

Zu Nummer 1

Die Akteneinsichts- und -auskunftsrechte Dritter in und aus Verfahrensakten
nach § 35a des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) sind nur un-

zureichend ausgestaltet.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4037

Es handelt sich um reine Ermessensvorschriften. Förmliche Rechtsbehelfe ge-
gen Versagungsentscheidungen sind nicht vorgesehen (vgl. Sennekamp, in:
Umbach/Clemens/Dollinger, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Mitarbeiter-
kommentar, § 35a Rn. 16), obwohl die Entscheidung über die Gewährung von
Akteneinsicht und -auskunft durch das BVerfG zweifelsohne nicht der spruch-
richterlichen Tätigkeit, sondern materiell-rechtlich der vollziehenden Gewalt
zuzurechnen ist und mithin ohne Weiteres den Anwendungsbereich des
Artikels 19 Absatz 4 des Grundgesetzes (GG) eröffnet (vgl. BVerfG, NJW
2003, 1924 ff.).

Mit dem Bundesarchivgesetz vergleichbare Regelungen, vgl. § 5 des Bundes-
archivgesetzes (BArchG), zu Sperrfristen und möglichen Ausnahme- bzw. Ver-
kürzungstatbeständen existieren nicht. Diese können jedoch nicht in der Ge-
schäftsordnung des BVerfG (GO-BVerfG) geregelt werden. So steht das Vor-
haben, Sperrfristen von 90 Jahren in der GO-BVerfG vorzusehen, ebenso wie
§ 36 Absatz 1 Satz 2 GO-BVerfG, wonach Akten frühestens nach 30 Jahren seit
der Entscheidung verwertet werden dürfen, im Widerspruch zu § 35b BVerfGG
(vgl. Sennekamp, a. a. O., § 35a Rn. 15 a. E.). Obschon die GO-BVerfG als Or-
gansatzung Rechtssatzqualität hat, beschränkt sich diese auf den Binnenrechts-
kreis der autonomen Organisation des BVerfG und kann darüber hinaus auf-
grund der Normenhierarchie lediglich im Rahmen der Vorgaben des BVerfGG
und dort konkret aus diesem Normenkontext Befugnisse zur ergänzenden Rege-
lung ableiten (vgl. Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 1 Rn. 65 ff.). Unabhän-
gig von der Qualifikation derartiger Sperrfristen in der GO-BVerfG als norm-
konkretisierend oder als ermessenslenkend, lässt § 35b BVerfGG dies schon als
höherrangige Norm vom Wortlaut nicht zu (vgl. Sennekamp, a. a. O.). Es bedarf
im Übrigen keiner tieferen Analyse, dass eine Sperrfrist von 90 Jahren, selbst
wenn sie in der GO-BVerfG geregelt werden könnte, einer Abschaffung des
Akteneinsichts- und -auskunftsrechts entspricht und damit im Widerspruch zu
der auch im Lichte des Artikels 5 GG auszulegenden gesetzlichen Regelung im
BVerfGG stehen würde. Soweit das BVerfG u. a. mit Rückgriff auf § 30
Absatz 1 Satz 1 BVerfGG Akteneinsicht- oder -auskunftsersuchen zurückweist,
vermag dies nicht zu überzeugen; der – vermeintlichen – Geheimhaltungs-
bedürftigkeit von Vorgängen wird gerade durch Sperrfristen Rechnung getragen.
Im Übrigen gibt es weder das Institut eines schutzwürdigen „Kernbereichs judi-
kativer Eigenverantwortung“ noch sind Gründe für ein solches ersichtlich, da
die richterliche Unabhängigkeit für die Zukunft durch die Kenntnis der Bera-
tungsabläufe nicht beeinträchtigt werden kann.

Soweit für mehr als 30 Jahre alte Vorgänge, die nicht an das Bundesarchiv ab-
gegeben wurden, Akteneinsichts- und -auskunftsgesuche nach § 35b BVerfGG
entschieden werden, widerspricht dies zudem § 5 Absatz 8 BArchG.

Zu Nummer 2

Das BVerfG nimmt für sich darüber hinaus eine Sonderstellung gegenüber dem
Bundesarchiv in Anspruch, die jeglicher gesetzlichen Grundlage entbehrt.
Nach § 2 Absatz 1 BArchG hat das BVerfG als Verfassungsorgan alle Unter-
lagen, mithin auch alle Verfahrensakten, § 2 Absatz 8 BArchG, die zur Erfül-
lung der Aufgaben nicht mehr benötigt werden, dem Bundesarchiv zur Über-
nahme anzubieten und nach entsprechender Widmung zu Archivgut ggf. zu
übergeben.

Trotz dieser klaren Rechtslage sieht § 36 Absatz 1 GO-BVerfG vor (zum Ver-
hältnis GO-BVerfG zum BArchG, vgl. die Ausführungen zu Nummer 1), dass
nur Senatsentscheidungen – und somit nicht Kammerentscheidungen – ange-
boten und übergeben werden, wobei die den Verfahrensakten beigefügten Son-

derhefte, in denen Entscheidungsentwürfe, Voten, Änderungs- und Formulie-
rungsvorschläge sowie Notizen des Berichterstatters verwahrt werden (vgl.

Drucksache 17/4037 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
Sennekamp, a. a. O., § 35a Rn. 11; dort als „Nichtakten“ bezeichnet), entgegen
§ 2 Absatz 8 BArchG ausgenommen werden. Das Angebot erfolgt auch nicht,
wenn diese Akten für die Aufgabenwahrnehmung nicht mehr erforderlich sind;
im Regelfall wäre dies nach Abschluss des Verfahrens, sondern „frühestens“
nach zehn Jahren. Das BVerfG nimmt für sich darüber hinaus in Anspruch, die
Verfahrensakten lediglich auf Grundlage einer Vereinbarung mit dem Bundes-
archiv und nach Zustimmung des Plenums zu übergeben. Selbst nach Abgabe
an das Bundesarchiv und nach Widmung der Akten zu Archivgut, das der allei-
nigen Verfügungsgewalt des Bundesarchives und den Regelungen des BArchG
unterfällt, seien die maßgeblichen Vorschriften für die Gewährung der Akten-
einsicht und -auskunft weiterhin § 35a BVerfGG (vgl. Sennekamp, a. a. O.,
§ 35a Rn. 7), eine Ansicht, die angesichts § 5 Absatz 8 BArchG keinen Bestand
haben kann.

Diese Verfahrensweise des BVerfG ist auch im Hinblick auf die aus dem Status
als Verfassungsorgan resultierende Pflicht der Verfassungsorgantreue fragwür-
dig.

Zu Nummer 3

Die Begründung ergibt sich aus dem Feststellungsteil. Eine Kürzung soll sich
nicht nur auf die Grundfristen, sondern auch auf die jeweiligen Verlängerungs-
möglichkeiten beziehen.

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.