BT-Drucksache 17/3867

Demokratieoffensive gegen Menschenfeindlichkeit - Zivilgesellschaftliche Arbeit gegen Rechtsextremismus nachhaltig unterstützen

Vom 23. November 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3867
17. Wahlperiode 23. 11. 2010

Antrag
der Abgeordneten Sönke Rix, Daniela Kolbe (Leipzig), Petra Crone, Sebastian
Edathy, Petra Ernstberger, Martin Gerster, Iris Gleicke, Christel Humme, Ute
Kumpf, Steffen-Claudio Lemme, Caren Marks, Franz Müntefering, Aydan Özog˘uz,
Thomas Oppermann, Mechthild Rawert, Marlene Rupprecht (Tuchenbach),
Rolf Schwanitz, Stefan Schwartze, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Wolfgang Tiefensee,
Dagmar Ziegler, Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD

Demokratieoffensive gegen Menschenfeindlichkeit – Zivilgesellschaftliche Arbeit
gegen Rechtsextremismus nachhaltig unterstützen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die vor zehn Jahren von der rot-grünen Bundesregierung ins Leben gerufenen
Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus und für die Stärkung der Demo-
kratie zeigen Erfolge. Vielerorts wurde der Aufbau demokratischer zivilgesell-
schaftlicher Strukturen vorangetrieben. Die Programme CIVITAS, entimon und
„VIELFALT TUT GUT“ haben innovative Modellprojekte hervorgebracht.
„VIELFALT TUT GUT“ hat zudem deutschlandweit 90 Lokale Aktionspläne
gefördert, die der Vernetzung lokaler Akteure mit kommunalen Verwaltungen
dienen. Die durch das Programm „kompetent. für Demokratie“ geförderten Op-
ferberatungen und Mobilen Beratungsteams leisten eine unschätzbar wichtige
Arbeit und werden immer professioneller.

Dennoch leiden viele Träger unter der Kurzfristigkeit und Prekarität ihrer Finan-
zierung. Gelungene Modellprojekte können deshalb oft nicht langfristig etabliert
werden, Organisationswissen geht verloren, qualifiziertes Personal wandert ab.

Trotz der erfolgreichen Bundesprogramme hat Deutschland weiterhin große
Probleme mit organisiertem Rechtsextremismus; darum besteht kein Anlass zur
Entwarnung. Neonazis und andere Rechtsextreme gehen weiter mit Straftaten
und Gewalt gegen Andersdenkende und die Verfassungsordnung vor. Für die
Menschen stellen sie vielerorts immer noch eine physische Bedrohung für Leib
und Leben dar. Opferverbänden zufolge sind seit 1990 fast 150 Menschen durch
rechte Gewalt zu Tode gekommen. Allein im letzten Jahr sind erneut fast 20 000
politisch rechts motivierte Straftaten verübt worden.

Hinzu kommt auch, dass rechtsextreme Einstellungsmuster in der Bevölkerung

anhaltend hoch sind und sämtliche Bevölkerungsgruppen umfassen. Zustim-
mungsraten von bis zu einem Drittel zu diktaturbejahenden, chauvinistischen,
ausländerfeindlichen, antisemitischen und sozialdarwinistischen Aussagen be-
legen, dass rechtsextreme Einstellungsmuster keine Randphänomene sind, son-
dern der Mitte der Gesellschaft entspringen.

Drucksache 17/3867 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Latente rechtsextreme Einstellungen stellen ein potentielles Risiko für unsere
Demokratie und das friedliche Zusammenleben in unserem Land dar.

Unter den Wählerinnen und Wählern demokratischer Parteien nehmen die Poli-
tikverdrossenheit und Demokratieabstinenz zu. Über 90 Prozent der Menschen
in unserem Land sind jüngsten Erhebungen zufolge der Ansicht, dass sie keinen
Einfluss auf das Handeln der Regierung haben und dass politisches Engagement
keinen Sinn macht. Diese Entfremdung von demokratischer Politik bereitet den
Nährboden für rechtsextreme Wahlerfolge.

Auch in den jüngeren Debatten um Migration und Integration wurden islam-
feindliche und rassistische Haltungen teilweise „salonfähig“ gemacht.

Positiv ist festzustellen, dass die demokratische Zivilgesellschaft an vielen Stel-
len – auch dank der erfolgreichen Unterstützung des Aufbaus lokaler Struktu-
ren – gestärkt worden ist. Bürgerinnen und Bürger verteidigen die Demokratie
gegen Neonazis: im persönlichen Gespräch, in den Bildungseinrichtungen, am
Arbeitsplatz, in den Kommunalparlamenten und nicht zuletzt auch zunehmend
bei Demonstrationen und Blockaden gegen Naziaufmärsche.

Die Rechtsextremen sind gerade da stark, wo die Zivilgesellschaft schwach ist.
Dies ist in einigen Regionen der Bundesrepublik Deutschland noch immer der
Fall. Ein Wegfall der Förderung oder eine anhaltende prekäre Finanzierung hat
dort besonders verheerende Folgen. Der Erhalt und die Stärkung der bestehen-
den Trägerlandschaft sind in diesen Gebieten besonders wichtig. Denn die
Stärkung der Demokratie und der Demokratinnen und Demokraten ist der beste
Verfassungsschutz. Politische Aktivitäten gegen Menschenfeindlichkeit und
Angebote, die positive Erfahrungen mit der Demokratie vermitteln, graben den
Rechtsextremisten den Nachwuchs ab.

Rechtsextremismus ist ein konkretes politisch-weltanschauliches Phänomen.
Rechtsextreme sprechen ihren Opfern die Menschenrechte ab. Rechtsextreme
Handlungen, Straftaten und Gewalt entspringen einer konkreten Ideologie der
Ungleichwertigkeit und gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Der Rechts-
extremismus ist deshalb zu Recht Gegenstand der Bundesprogramme. Eine Ver-
mischung oder Gleichsetzung mit dem Linksextremismus oder Islamismus ver-
harmlost den Rechtsextremismus, verschleiert seine Analyse und behindert
seine Bekämpfung.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. dauerhafte Strukturen zu schaffen, die sich nicht nur auf die Bekämpfung von
Rechtsextremismus beschränken, sondern vielmehr die Werte der Demokra-
tie vermitteln. Eine institutionelle Förderung der Arbeit für Demokratie-
entwicklung und gegen Rechtsextremismus muss ermöglicht werden, um
demokratische Alltagskulturen und Konfliktlösungskompetenzen in Zivil-
gesellschaft, Wirtschaft und staatlichen Institutionen zu stärken. Dazu soll ein
Stiftungsmodell zur Bekämpfung von Rechtsextremismus auf Bundesebene
eingerichtet werden;

2. den Schwerpunkt der Programme auf die Auseinandersetzung mit der extre-
men Rechten und die stärkere Vermittlung von Demokratie als Lebens-,
Staats- und Gesellschaftsform zu legen;

3. die für das Haushaltsjahr 2011 geplante Vermischung der bestehenden Pro-
gramme gegen Rechtsextremismus mit anderen Programmen zur Extremis-
musabwehr und die Zusammenlegung der Haushaltstitel gegen Rechtsextre-
mismus mit dem Haushaltstitel gegen Linksextremismus und Islamismus
umgehend rückgängig zu machen;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/3867

4. die für die Bundeszentrale für politische Bildung geplante Kürzung für das
Haushaltsjahr 2011 umgehend rückgängig zu machen und stattdessen ihre
Förderung zu erhöhen;

5. die Förderung der Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus und für
Demokratie auf ein sog. Drei-Töpfe-Modell umzustellen, das folgende Ele-
mente enthält:

a) einen Innovationstopf zur Förderung von Modellprojekten für inno-
vative Ideen,

b) einen Strukturtopf zur langfristigen Förderung etablierter Projekte auch
für überregionale Träger und

c) einen Initiativtopf für die kurzfristige und unbürokratische Beantragung
kleinerer Summen;

6. eine eigenständige, von der Zustimmung der kommunalen Verwaltung
unabhängige Beantragung von Mitteln durch zivilgesellschaftliche Akteure
im Rahmen der Neugestaltung der Projektförderung zu ermöglichen;

7. die Mittel für gut arbeitende Strukturprojekte wie Mobile Beratungsteams
und Opferberatungsstellen um 3 Mio. Euro zu erhöhen und bundesweit
spezialisierte Beratungsstellen für die Opfer rechter Gewalt auszubauen;

8. die Strukturen für eine gelebte Demokratie zu stärken und das bürgerschaft-
liche Engagement in diesem Bereich zu fördern und zu unterstützen;

9. darauf hinzuwirken, dass Kindertageseinrichtungen und Schulen zu Orten
der gelebten Demokratie werden. Sie sind als erste demokratische Sozia-
lisationsinstanz das Fundament für die spätere Entwicklung von Kindern
und Jugendlichen;

10. die Zivilgesellschaft an der Erarbeitung von nachhaltigen Strukturen für
Demokratie und gegen Rechtsextremismus zu beteiligen und den Engagier-
ten, die sich bürgerschaftlich für eine Stärkung der Demokratie einsetzen,
mehr öffentliche Anerkennung zu zollen;

11. einen Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus weiterzuentwickeln und mit
wirksamen und nachprüfbaren Maßnahmen gegen jede Art von Rassismus
auszustatten;

12. eine kontinuierliche und objektive Begleitforschung und Evaluation der
Projekte und Initiativen gegen Rechtsextremismus sicherzustellen und dem
Deutschen Bundestag über die Ergebnisse zu berichten;

13. sich für einen bundesweiten Transfer der bisher entwickelten Qualitäts-
standards der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und Gewalt ein-
zusetzen. Dazu ist die Förderung einer bundesweiten zivilgesellschaftlichen
Koordination nötig, die den Austausch und die Weiterentwicklung von
Qualitätsstandards zu sichern hilft.

Berlin, den 23. November 2010

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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