BT-Drucksache 17/3721

Verfügbarkeit von Telekommunikationsverbindungsdaten seitens des Bundeskriminalamts und Rückschlüsse auf eine "Schutzlücke" bei der Verbrechensbekämpfung

Vom 8. November 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3721
17. Wahlperiode 08. 11. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jan Korte, Ulla Jelpke, Petra Pau, Jens Petermann, Frank
Tempel, Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Verfügbarkeit von Telekommunikationsverbindungsdaten seitens des
Bundeskriminalamts und Rückschlüsse auf eine „Schutzlücke“ bei der
Verbrechensbekämpfung

In ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. „Vorrats-
datenspeicherung und Sicherheitslücken“ (Bundestagsdrucksache 17/1482)
vom 23. April 2010 teilte die Bundesregierung mit, dass ihr keine statistischen
Angaben darüber vorlägen, in welchen Fällen sich seit Einführung der Vorrats-
datenspeicherung der polizeiliche Zugriff auf sogenannte Vorratsdaten für
Zwecke der Gefahrenabwehr als „ein unverzichtbares Element der Ermittlungs-
initiierung durch Identifizierung von Einzelpersonen, der Struktur- und Netz-
werkaufhellung sowie der Identifizierung von Straftätern bei Entführungs-
lagen“ (Jörg Ziercke, Präsident des Bundeskriminalamts – BKA, vor dem
Bundesverfassungsgericht – BVerfG) erwiesen haben. Genauso wenig lägen ihr
statistische Angaben darüber vor, wie vielen Anordnungsanträgen auf Über-
mittlung der Vorratsdaten mit welchen Begründungen nicht stattgegeben wurde
und ob die Polizei keine alternativen Instrumente zur „Ermittlungsinitiierung“
gehabt hätte. Auch auf die Frage, wie viele Ermittlungsverfahren zu welchen
Straftaten bundesweit als Folge des BVerfG-Urteils eingestellt werden mussten,
konnte die Bundesregierung keine Auskunft geben. In ihrer Antwort sagte die
Bundesregierung zumindest eine Prüfung der Frage, welche Delikte bei einem
vollständigen Verzicht auf Nutzung der Vorratsdaten durch die Polizei über-
haupt nicht mehr verfolgt werden könnten, zu.

Am 7. September 2010 wurde der BKA-Präsident Jörg Ziercke von „dpa“
folgendermaßen zitiert: „Das Bundeskriminalamt sieht sich bei Internet-Krimi-
nalität weitgehend hilflos, weil es seit einem halben Jahr kein Gesetz zur Vor-
ratsdatenspeicherung mehr gibt. 60 Prozent der Ermittlungen gehen ins Leere
[…] und in bis zu 85 Prozent der Fälle kann seit der Entscheidung des Bundes-
verfassungsgerichts die IP-Adresse eines Computers, der für eine Straftat be-
nutzt wurde, keinem bestimmten Nutzer mehr zugeordnet werden.“

Am 29. September 2010 führte der BKA-Präsident in der Sitzung des Innenaus-
schusses des Deutschen Bundestages über zwei Stunden ähnliche Behauptungen
an, um seine Forderung nach der Wiedereinführung der Vorratsdaten-

speicherung zu untermauern. Einige Tage später meldete „DIE WELT“
(3. Oktober 2010), dass ihr ein 16-seitiges Papier des BKA mit der Einstufung
„VS – nur für den Dienstgebrauch“ vorliege, das die Machtlosigkeit des BKA
bei der Verbrechensbekämpfung belege. In „DIE WELT“ heißt es über das
sogenannte BKA-Geheimpapier: „Es listet zahlreiche ungelöste Kriminalfälle
auf: Morde an einem Polizisten und einem Mitglied der Mafia, angedrohte
Sprengstoffanschläge, die Mitgliedschaft in Terrorgruppen und Kinderporno-

Drucksache 17/3721 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

grafie im Internet. Der Grund ist jedes Mal der gleiche: Die Ermittler bekamen
keinen Zugriff auf Telefon- und Internetverbindungsdaten der Täter. Schuld
daran ist die Politik, die in dem Bericht allerdings mit keiner Silbe erwähnt
wird.“

Nach Aussage des bayerischen Innenministers Joachim Herrmann am 12. Okto-
ber 2010 gegenüber der „Passauer Neue Presse“, habe das BKA das Papier im
Auftrag des Bundesministeriums des Innern erstellt.

Nach Angaben des BKA am 8. Oktober 2010 gegenüber ausgewählten Medien-
vertretern forderte die Behörde im Zeitraum vom 2. März bis zum 17. Septem-
ber 2010 bei Telekommunikationsfirmen Daten zu 1 157 Anschlüssen an.
85 Prozent der Auskunftsersuchen betrafen Inhaber von Internetanschlüssen. Zu
880 der erfragten Anschlüsse (76 Prozent) sei dem BKA keine Auskunft erteilt
worden. In 479 der 880 Ermittlungsverfahren (56 Prozent), in denen Tele-
kommunikationsanbieter dem BKA keine Auskunft erteilten, sei die Aufklärung
der Straftat nicht gelungen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wieso erwähnte BKA-Präsident Jörg Ziercke in der Innenausschusssitzung
am 29. September 2010 gegenüber den Mitgliedern des Ausschusses nichts
von der Existenz einer regelrechten Liste ungelöster Kriminalfälle, die nur
aufgrund der fehlenden Möglichkeit der Vorratsdatenspeicherung nicht auf-
geklärt werden konnten, sodass die Abgeordneten davon erst durch die
Medien erfuhren?

2. Stimmt die Aussage des bayerischen Innenministers Joachim Herrmann,
wonach die Bundesregierung das BKA mit dem Erstellen der o. g. Liste be-
auftragt habe?

Wenn ja, wann geschah dies?

Wenn nein, wer traf dann die Entscheidung?

3. Wie kam es zu der Veröffentlichung des als „VS – nur für den Dienst-
gebrauch“ eingestuften Papiers in „DIE WELT“ vom 3. Oktober 2010, und
wurden diesbezüglich Nachforschungen und ggf. disziplinarrechtliche Kon-
sequenzen gezogen?

a) Wenn ja, welche?

b) Wenn nein, warum nicht?

4. Soll den Mitgliedern des Innenausschusses des Deutschen Bundestages der
besagte Bericht mit Liste zur Verfügung gestellt werden, und wenn ja, zu
welchem Zeitpunkt?

Wenn nein, warum nicht?

5. Welchen Presseorganen und „ausgewählten Journalisten“, die am 8. Oktober
2010 ins Bundesministerium des Innern geladen wurden, hat das BKA die
besagte Liste zur Verfügung gestellt, und wer traf die Auswahl der Journalis-
ten nach welchen Gesichtspunkten?

6. Wieso behauptete die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine
Anfrage der Fraktion DIE LINKE. „Vorratsdatenspeicherung und Sicher-
heitslücken“ vom 23. April 2010, dass sie keine Angaben darüber habe,
wie viele Ermittlungsverfahren zu welchen Straftaten bundesweit als Folge
des BVerfG-Urteils eingestellt werden mussten, obwohl das BKA für den
Zeitraum vom 2. März bis zum 17. September 2010 eine entsprechende
Liste führte?

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7. Was ergab die angekündigte Prüfung der Frage, welche Delikte bei einem
vollständigen Verzicht auf Nutzung der Vorratsdaten durch die Polizei
überhaupt nicht mehr verfolgt werden könnten?

8. a) In wie vielen der 277 Ermittlungsverfahren, in denen Telekommunika-
tionsanbieter dem BKA Auskunft erteilten, ist die Aufklärung der Straf-
tat dennoch nicht gelungen?

b) Wie viele der 277 Ermittlungsverfahren sind später eingestellt worden,
und wie viele endeten mit welchen Urteilen?

9. Befinden sich unter den 479 laut BKA nach einer Auskunftsverweigerung
nicht aufklärbaren Straftaten auch solche, in denen die Straftat „wesentlich
erschwert oder erst zu einem späteren Zeitpunkt“ aufgeklärt wurde, wie
eine weitere Kategorie des BKA lautet?

Wenn ja, um wie viele Fälle handelt es sich?

10. Wie viele der 983 Auskunftsersuchen zu IP-Adressen betrafen Internet-
verbindungen, die im Zeitpunkt des Ersuchens länger als sieben Tage in der
Vergangenheit lagen?

11. Wie viele dieser mutmaßlichen Straftaten waren innerhalb von sieben
Tagen zur Kenntnis der Polizei oder Staatsanwaltschaft gelangt?

12. Welche Zeitspanne verstrich bei den erfolglosen Auskunftsersuchen an
Internetzugangsanbieter im Zeitraum vom 2. März bis zum 17. September
2010 zwischen dem Zeitpunkt, zu dem die Polizei oder Staatsanwaltschaft
Kenntnis von dem Verdacht der Straftat erlangte und dem Zeitpunkt, zu
dem das Auskunftsersuchen an den Internetzugangsanbieter gerichtet
wurde

a) durchschnittlich und

b) maximal?

13. Ist der Bundesregierung bekannt, dass dem BKA Erfahrungswerte aus
der polizeilichen Praxis vorliegen, die das aktuelle Speicherverhalten der
einzelnen Anbieter in Grundzügen wiedergeben?

Wenn ja, welche Schlussfolgerungen wurden daraus gezogen, und resul-
tierten daraus Anweisungen an das BKA (bitte erläutern)?

14. Wurden die 880 erfolglosen Anfragen an Telekommunikationsanbieter
auch dann gerichtet, wenn dem BKA aus früheren Anfragen bekannt war,
dass der betroffene Anbieter die Anfrage nicht würde beantworten können?

Wenn ja, wieso?

15. Welcher Anteil an Auskunftsersuchen des BKA an Telekommunikations-
anbieter blieb in den Jahren 2007, 2008 und 2009 jeweils unbeantwortet?

16. Welcher Anteil der Auskunftsersuchen des BKA an Internetzugangsanbie-
ter in den Jahren 2007, 2008 und 2009 betraf jeweils Internetverbindungen,
die länger als sieben Tage in der Vergangenheit lagen?

17. Welcher Anteil der Ermittlungsverfahren, in denen das BKA in den Jahren
2007, 2008 und 2009 Auskunftsersuchen an Telekommunikationsanbieter
richtete, blieb jeweils unaufgeklärt?

18. Welcher Anteil der Ermittlungsverfahren, in denen das BKA in den Jahren
2007, 2008 und 2009 Auskunftsersuchen an Telekommunikationsanbieter
richtete, führte jeweils zu einer Verurteilung?

Drucksache 17/3721 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
19. Welcher Anteil der Ermittlungsverfahren, mit denen das BKA im Zeitraum
vom 2. März bis zum 17. September 2010 insgesamt befasst war und die
keine mittels Telekommunikation begangene Straftat zum Gegenstand
hatten, blieb unaufgeklärt?

Berlin, den 8. November 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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