BT-Drucksache 17/3579

Freigabe von Akten des Bundesverfassungsgerichts

Vom 26. Oktober 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3579
17. Wahlperiode 26. 10. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jan Korte, Wolfgang Gehrcke, Ulla Jelpke, Petra Pau,
Jens Petermann, Raju Sharma, Frank Tempel, Halina Wawzyniak und der Fraktion
DIE LINKE.

Freigabe von Akten des Bundesverfassungsgerichts

Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) stehen im beson-
deren Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Aufgrund der Stellung als Ver-
fassungsorgan und den weitreichenden Kompetenzen kommt dem Bundesver-
fassungsgericht eine Bedeutung zu, die nicht nur in der deutschen Rechtsge-
schichte einzigartig, sondern auch im internationalen Vergleich Vorbildfunktion
für Verfassungsgerichtsbarkeiten hat. Das Bundesverfassungsgericht ist Hüter
und letztverbindlicher Interpret der Verfassung. Die durch das Grundgesetz ver-
liehenen Befugnisse, Normen als verfassungswidrig aufzuheben, Kompetenz-
streitigkeiten zwischen Bundesorganen oder Bund und Ländern zu entscheiden,
verfassungswidrige Parteien zu verbieten, den Bundespräsidenten seines Amtes
zu entheben oder auf die Entlassung von Richtern zu erkennen, stellen eine be-
sondere und einzigartige Machtfülle in einem gewaltengeteilten Staat dar. Auch
wenn das Bundesverfassungsgericht im Kern als Teil der Judikative anzusehen
ist und allein am Maßstab der Verfassung entscheidet, Politikziele mithin selbst
nicht definieren kann, ist es dennoch – jedenfalls mithilfe der Politik, die ihre
Auseinandersetzungen oft dem Bundesverfassungsgericht als Streitschlichter
überantwortet, aber auch angelegt in der Wahl der Bundesverfassungsrichterin-
nen und Bundesverfassungsrichter durch den Deutschen Bundestag und Bun-
desrat – ein politischer Machtfaktor geworden (Prof. Dr. Jutta Limbach, Präsi-
dentin des Bundesverfassungsgerichts a. D., „Das Bundesverfassungsgericht
als politischer Machtfaktor“, HFR 1996, Beitrag 12, Rn. 8).

Vor diesem Hintergrund besteht ein großes wissenschaftliches und journalis-
tisches Interesse an der Aufarbeitung der Entscheidungen, das sich auch auf den
Entscheidungsfindungsprozess und nicht nur auf das Ergebnis bezieht. Trotz der
umfassenden Kompetenzen und der politischen Implikationen, die ein Höchst-
maß an Transparenz bei der Entscheidungsfindung erwarten lassen, stoßen Wis-
senschaft und Presse nicht nur bei politisch besonders brisanten Entscheidungen
regelmäßig auf erhebliche und kaum überwindbare Widerstände beim Bundes-
verfassungsgericht (und beim Bundesarchiv), wenn sie dessen Akten teilweise
oder vollständig einsehen wollen – mit Rückgriff auf § 30 Absatz 1 Satz 1 des
Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) wird jede Verfahrensakte mit

einem „VS-Stempel“ versehen. Nur unzureichend ausgestaltete Akteneinsichts-
rechte Dritter im Bundesverfassungsgerichtsgesetz und die zwar rechtlich ein-
deutige, aber offenkundig faktisch ungeklärte Stellung des Bundesverfassungs-
gerichts gegenüber dem Bundesarchiv, das dort scheinbar als reine Aufbewah-
rungsverwaltung für die Unterlagen des Bundesverfassungsgerichts angesehen
wird, behindern eine Aufbereitung der Entscheidungen, die auch der großen Be-
deutung des Bundesverfassungsgerichts angemessen ist.

Drucksache 17/3579 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

So berichtet die „FAZ“ (Ausgabe vom 28. August 2010, Nr. 199, S. 33, „2046
weiß man alles über die KPD“), dass diesen Herbst das Plenum des Bundesver-
fassungsgerichts zusammentreten will, um in der Geschäftsordnung eine ein-
heitliche Sperrfrist für die Verfahrensakten von 90 Jahren nach Verkündung der
Entscheidung aufzunehmen – „Fristen dieser Länge kennen nicht einmal die
Archive des Vatikans“.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Gerichtsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht wurden seit
dessen Bestehen abgeschlossen (bitte aufgegliedert nach Jahr des Abschlus-
ses der Gerichtsverfahren am Bundesverfassungsgericht)?

2. Wie viele Unterlagen des Bundesverfassungsgerichts, deren Gegenstand ein
Gerichtsverfahren war (im Folgenden nur noch als Verfahrensakten bezeich-
net), wurden dem Bundesarchiv zur Übernahme angeboten (bitte aufgeglie-
dert nach Jahr des Abschlusses der Gerichtsverfahren am Bundesverfas-
sungsgericht)?

a) Wurden dem Bundesarchiv gemäß § 36 Absatz 1 Satz 1 der Geschäfts-
ordnung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGGO) und entgegen § 2
Absatz 1 des Bundesarchivgesetzes (BArchG) nicht alle Unterlagen, son-
dern ausschließlich Verfahrensakten zu Senatsentscheidungen angeboten?

Wenn ja, wie bewertet die Bundesregierung diese Vorgehensweise des
Bundesverfassungsgerichts vor dem Hintergrund der klaren gesetzlichen
Regelung im BArchG?

b) Wurden dem Bundesarchiv auch die der Verfahrensakte beigefügten Son-
derhefte (vgl. Sennekamp, in: Umbach/Clemens/Dollinger, Bundesver-
fassungsgerichtsgesetz, Mitarbeiterkommentar, § 35a Rn. 11; dort als
„Nichtakten“ bezeichnet), in denen Entscheidungsentwürfe, Voten, Än-
derungs- und Formulierungsvorschläge sowie Notizen des Berichterstat-
ters verwahrt werden, angeboten?

Wenn nein, wie wird dies im Hinblick auf § 2 Absatz 8 BArchG begrün-
det, wonach der Unterlagenbegriff deutlich weitgehender als der Akten-
begriff ist, so dass zu den anzubietenden Unterlagen jedenfalls auch sons-
tige Schriftstücke gehören, die einem Vorgang zugeordnet wurden, um
dem Einwand entgegentreten zu können, dass derartige Teile einer sol-
chen Sachgesamtheit nicht der Anbietungspflicht unterlägen, und wie be-
wertet die Bundesregierung diese Begründung?

3. Wie viele dieser Verfahrensakten des Bundesverfassungsgerichts wurden als
Unterlagen von bleibendem Wert im Sinne von § 3 BArchG eingestuft, zum
Archivgut gewidmet und dem Bundesarchiv übergeben (bitte aufgegliedert nach
Jahr des Abschlusses der Gerichtsverfahren am Bundesverfassungsgericht)?

4. Wie groß ist der durchschnittliche zeitliche Abstand zwischen Abschluss des
Gerichtsverfahrens am Bundesverfassungsgericht und

a) dem Angebot zur Übernahme der Verfahrensakten an das Bundesarchiv,

b) der Widmung zum Archivgut und der tatsächlichen Übergabe an das
Bundesarchiv

(jeweils bereinigt um die Abweichung, die sich aus dem späteren Inkrafttre-
ten des BArchG im Jahr 1988 ergibt)?

5. Wie viele Anträge auf Benutzung dieses Archivgutes wurden bisher gestellt
(soweit erfasst, bitte aufgegliedert nach Zweck und Begründung des Antra-

ges: zu wissenschaftlichen Forschungsvorhaben, journalistischer Aufarbei-
tung und sonstigen Gründen)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/3579

6. Wie vielen Anträgen nach Frage 5 wurde vollständig oder teilweise stattge-
geben, und in wie vielen dieser Fälle wurde der Benutzung nach Verkür-
zung der Sperrfrist stattgegeben (bitte aufgegliedert nach Rechtsgrundlage
der Verkürzung)?

7. a) Wie viele Anträge nach Frage 5 wurden versagt, und welche Versa-
gungsgründe wurden in wie vielen Fällen herangezogen (bitte aufge-
gliedert nach Rechtsgrundlage der Versagung)?

b) Wie viele Widersprüche und Klagen wurden gegen die Versagung erho-
ben, und wie sind diese – soweit sie abgeschlossen sind – ausgegangen?

8. Für wie viele Verfahrensakten wurde die Sperrfrist aus öffentlichem Inter-
esse verlängert?

9. Befindet sich die Verfahrensakte zum KPD-Verbotsverfahren (BVerfG, Ur-
teil vom 17. August 1956 – 1 BvB 2/51 –, = BVerfGE 5, 85-393) im Ar-
chivgut des Bundesarchivs?

Wenn ja,

a) welche Sperrfrist gilt für dieses Archivgut und warum,

b) wie viele Anträge auf Benutzung dieses Archivgutes wurden bisher ge-
stellt (soweit erfasst, bitte aufgegliedert nach Zweck und Begründung
des Antrages: zu wissenschaftlichen Forschungsvorhaben, journalis-
tischer Aufarbeitung und aus sonstigen Gründen),

c) wie vielen dieser Anträge wurde vollständig oder teilweise stattgegeben,

d) wie viele dieser Anträge wurden versagt (bitte aufgegliedert nach Rechts-
grundlage der Versagung),

e) wie viele Widersprüche und Klagen wurden gegen die Versagung erho-
ben, und wie sind diese – soweit sie abgeschlossen sind – ausgegangen?

Wenn nein, warum nicht?

10. Befindet sich die Verfahrensakte zum SRP-Verbotsverfahren (BVerfG, Ur-
teil vom 23. Oktober 1952 – 1 BvB 1/51 –, = BVerfGE 2, 1-79) im Archiv-
gut des Bundesarchivs?

Wenn ja,

a) welche Sperrfrist gilt für dieses Archivgut und warum,

b) wie viele Anträge auf Benutzung dieses Archivgutes wurden bisher
gestellt (soweit erfasst, bitte aufgegliedert nach Zweck und Begründung
des Antrages: zu wissenschaftlichen Forschungsvorhaben, journalis-
tischer Aufarbeitung und aus sonstigen Gründen),

c) wie vielen dieser Anträge wurde vollständig oder teilweise stattgegeben,

d) wie viele dieser Anträge wurden versagt (bitte aufgegliedert nach
Rechtsgrundlage der Versagung),

e) wie viele Widersprüche und Klagen wurden gegen die Versagung erho-
ben, und wie sind diese – soweit sie abgeschlossen sind – ausgegangen?

Wenn nein, warum nicht?

11. a) Wie bewertet die Bundesregierung die Ansicht, § 35a ff. BVerfGG sei
lex specialis insbesondere zu § 5 BArchG (Sennekamp, a. a. O., § 35a
Rn. 7), und wie steht dies im Einklang mit den Rechtsfolgen einer Wid-
mung von Unterlagen zum Archivgut des Bundes, wodurch die alleinige
Verfügungsgewalt über die Unterlagen dem Bundesarchiv zusteht und

sich Ansprüche auf Benutzung des Archivgutes allein nach dem
BArchG richten?

Drucksache 17/3579 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
b) Findet diese Ansicht Berücksichtigung bei der Behandlung von Anträ-
gen zur Benutzung dieses Archivgutes beim Bundesarchiv?

Wenn ja, mit welcher Begründung?

Wie ist in diesem Fall der konkrete Verfahrensgang für die Nutzung die-
ses Archivgutes?

Sieht die Bundesregierung Handlungsbedarf, um die daraus folgende
Sonderstellung des Bundesverfassungsgerichts gegenüber dem Bundes-
archiv und den Benutzern aufzuheben?

c) Wie bewertet die Bundesregierung, dass das Bundesverfassungsgericht
entgegen § 2 Absatz 1 BArchG seine Unterlagen nicht schon dann an-
bietet, wenn es die Unterlagen zur Erfüllung seiner Aufgaben nicht mehr
benötigt, sondern gemäß § 36 Absatz 1 Satz 1 BVerfGGO frühestens
nach 10 Jahren aufgrund einer Vereinbarung mit dem Bundesarchiv?

Welchen Inhalt haben diese Vereinbarungen mit dem Bundesarchiv?

d) Wie beurteilt die Bundesregierung die Einführung von Fristen zur
Anbietung und Übergabe in § 2 Absatz 1 BArchG im Hinblick auf
Unterlagen der Gerichte des Bundes und des Bundesverfassungsge-
richts, die regelmäßig mit rechtskräftigem Abschluss eines Verfahrens
zur Erfüllung der Aufgaben nicht mehr erforderlich sind, so dass entge-
gen der Gesetzesbegründung (Bundestagsdrucksache 11/498, S. 8) in
diesen Fällen eine Fristenregelung daran angeknüpft werden könnte?

12. Hält die Bundesregierung die rudimentären Regelungen des § 35a ff.
BVerfGG – insbesondere im Hinblick auf fehlende gesetzliche Regelungen
zu Sperrfristen und deren Verkürzung – für ausreichend, um der besonde-
ren Bedeutung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts für die
wissenschaftliche und journalistische Auswertung gerecht zu werden?

a) Wenn nein, gibt es Überlegungen innerhalb der Bundesregierung zur
Neuregelung des Akteneinsichtsrechts beim Bundesverfassungsgericht,
und falls ja, wann ist mit einem Gesetzentwurf zu rechnen?

b) Folgt die Bundesregierung der Ansicht, dass die in der Geschäftsord-
nung des Bundesverfassungsgerichts geregelten Sperrfristen aufgrund
der Rechtsnatur der Geschäftsordnung im Verhältnis zu § 35a BVerfGG
nicht geeignet seien, Akteneinsichtsbegehren zurückzuweisen (vgl. Sen-
nekamp, a. a. O, § 35a Rn. 15 a. E.)?

c) Wie bewertet die Bundesregierung die Pläne, die lediglich in der Ge-
schäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts geregelten Sperrfristen,
vgl. § 36 BVerfGGO, auf bis zu 90 Jahre zu verlängern?

d) Wie bewertet die Bundesregierung vor dem Hintergrund der Ausgestal-
tung des Akteneinsichtsrechts als reine Ermessensentscheidung des
Bundesverfassungsgerichts und im Hinblick auf Artikel 19 Absatz 4 des
Grundgesetzes die Ansicht, gegen die Ablehnung von Anträgen auf
Akteneinsicht nach § 35b BVerfGG seien keine förmlichen Rechtsbe-
helfe gegeben (vgl. Sennekamp, a. a. O, § 35a Rn. 16)?

Gab es Verfahren vor anderen Gerichten als dem Bundesverfassungsge-
richt, um ein Akteneinsichtsbegehren nach § 35b BVerfGG durchzuset-
zen (wenn ja, bitte Nennung von Gericht, Aktenzeichen und Fundstelle)?

Berlin, den 26. Oktober 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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