BT-Drucksache 17/3421

Ergänzende Informationen zur Asylstatistik für das dritte Quartal 2010

Vom 26. Oktober 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3421
17. Wahlperiode 26. 10. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dag˘delen, Petra Pau, Jens Petermann,
Kersten Steinke, Frank Tempel, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Ergänzende Informationen zur Asylstatistik für das dritte Quartal 2010

Die von der Fraktion DIE LINKE. regelmäßig erfragten ergänzenden Infor-
mationen zur Asylstatistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
(BAMF) sollen Aspekte näher beleuchten, die von der offiziellen monatlichen
Statistik ausgeblendet werden.

Hierdurch wird unter anderem deutlich, welche große Bedeutung Widerrufsver-
fahren in der Asyl-Entscheidungspraxis haben. Im Jahr 2009 wurden über 10 500
Widerrufsverfahren eingeleitet und in über 4 500 Fällen kam es zum Widerruf
einer in der Vergangenheit ausgesprochenen Asyl- bzw. Flüchtlingsanerkennung.

Die offizielle monatliche Asylstatistik enthält auch keine Angaben zum Anteil
derjenigen Asylanträge, für die nach Auffassung der Bundesrepublik Deutsch-
land ein anderer EU-Mitgliedstaat im Rahmen der Dublin-II-Verordnung
(DublinV) zuständig ist. Dies ist jedoch in einem wachsenden Umfang der Fall,
im Jahr 2009 bei etwa einem Drittel aller Asylanträge. Ausgerechnet das oh-
nehin überforderte Griechenland wurde dabei mit 2 288 Ersuchen am häufigsten
– in jedem vierten Fall – wegen der Übernahme von Asylsuchenden aus Deutsch-
land angefragt. Flüchtlinge aus Afghanistan und Irak bildeten dabei die größten
Gruppen der Betroffenen. Hoch brisant ist, dass die Gesamtschutzquote in
Deutschland nach Angaben von Eurostat im zweiten Quartal 2009 bei über
40 Prozent lag (bei afghanischen und irakischen Staatsangehörigen noch einmal
deutlich höher), während sie zum Beispiel in Griechenland nur 1 Prozent betrug.
Von auch nur annähernd gleichen Chancen im europäischen Asylsystem, die das
gegenwärtige Zwangsverteilungssystem rechtfertigen können sollen, kann des-
halb keine Rede sein.

Der Anteil von Minderjährigen an allen Asylsuchenden betrug im Jahr 2009
33,4 Prozent.

Die Fragestellerinnen und Fragesteller haben erfreut zur Kenntnis genommen,
dass das Bundesministerium des Innern seit Anfang 2010 ihrer Anregung folgt,
in den monatlichen Pressemitteilungen maßgeblich auf die Gesamtschutzquote
abzustellen, während dies Anfang 2008 noch mit dem Hinweis abgelehnt wurde,
es stünde ihnen frei, „die nach ihrem eigenen Verständnis relevanten Zahlen zu-

sammenzuaddieren“ (vgl. Bundestagsdrucksache 16/7687, Antwort zu Frage 8).

Bedauerlicherweise war allerdings auch in der Pressemitteilung des Bundes-
ministeriums des Innern vom 21. Januar 2010 fälschlich von fast 440 000 „Asyl-
bewerbern“ die Rede, die im Jahr 1992 angeblich nach Deutschland gekommen
seien, obwohl sich die Zahl „440 000“ auf gestellte Asylanträge (häufig Mehr-
fach- oder Folgeanträge identischer Personen) und nicht auf eingereiste Perso-
nen bezieht. Bei einer realistischen Betrachtung und einer – seit 1995 üblichen –

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Trennung von Asylerst- und Zweitanträgen muss von etwa 272 000 neu einge-
reisten Asylsuchenden bzw. Erstanträgen im Jahr 1992 ausgegangen werden
(vgl. Bundestagsdrucksache 16/7687, Frage 15a). Die Zahl von angeblich
„440 000“ Asylsuchenden im Jahr 1992 war bekanntlich eine maßgebliche Be-
gründung für die faktische Abschaffung des Asylgrundrechts im Jahr 1993.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie hoch war die Gesamtschutzquote (Anerkennungen nach § 16a des Grund-
gesetzes, nach § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes/der Genfer Flüchtlings-
konvention – AufenthG/GFK – und von Abschiebungshindernissen nach § 60
Absatz 2, 3, 5 und 7 AufenthG) in der Entscheidungspraxis des BAMF im drit-
ten Quartal 2010, und wie lautet der Vergleichswert des vorherigen Quartals
(bitte in absoluten Zahlen und in Prozent angeben, bitte auch nach den zehn
wichtigsten Herkunftsländern und der Art der Anerkennung differenzieren:
Asylberechtigung – staatliche/nichtstaatliche Verfolgung; Flüchtlingsschutz –
staatliche/nichtstaatliche Verfolgung; subsidiärer Schutz nach § 60 Absatz 2
und 5 AufenthG – unmenschliche Behandlung, subsidiärer Schutz nach § 60
Absatz 3 AufenthG – Todesstrafe, subsidiärer Schutz nach § 60 Absatz 7
Satz 2 AufenthG – bewaffnete Konflikte, subsidiärer Schutz nach § 60 Absatz 7
Satz 1 AufenthG – sonstige existenzielle Gefahren), und wie hoch war in den
genannten Zeiträumen die Ablehnungsquote, wenn Dublin-Entscheidungen
nicht berücksichtigt werden?

2. Wie viele Widerrufsverfahren wurden im dritten Quartal 2010 eingeleitet,
und wie lautet der Vergleichswert für das vorherige Quartal (bitte Gesamtzah-
len angeben und nach den verschiedenen Formen der Anerkennung und den
zehn wichtigsten Herkunftsländern differenzieren)?

3. Wie viele Entscheidungen in Widerrufsverfahren mit welchem Ergebnis gab
es in den vorgenannten Zeiträumen (bitte Gesamtzahlen angeben und nach
den verschiedenen Formen der Anerkennung und den zehn wichtigsten Her-
kunftsländern differenzieren, bitte auch die jeweiligen Widerrufsquoten be-
nennen)?

4. Wie lang war die durchschnittliche Verfahrensdauer im ersten Halbjahr 2010 bis
zu einer rechtskräftigen Entscheidung (d. h. inklusive eines Gerichtsverfah-
rens, bitte auch nach den zehn wichtigsten Herkunftsländern differenzieren)?

5. Wie viele Verfahren im Rahmen der Dublin-II-Verordnung wurden im dritten
Quartal 2010 insgesamt eingeleitet, und wie lautet der Vergleichswert für das
vorherige Quartal (bitte in absoluten Zahlen und in Prozentzahlen die Rela-
tion zu allen Asylerstanträgen sowie die Quote der auf Eurodac-Treffern ba-
sierenden Verfahren und die Quote der Verfahren nach „illegalem“ Grenz-
übertritt ohne Asylgesuch angeben)?

a) Welches waren in den benannten Zeiträumen die zehn am stärksten betrof-
fenen Herkunftsländer, und welches die zehn am stärksten angefragten EU-
Mitgliedstaaten (bitte in absoluten Werten und in Prozentzahlen angeben)?

b) Wie viele Dublin-Entscheidungen mit welchem Ergebnis (Zuständigkeit
eines anderen EU-Mitgliedstaates bzw. der Bundesrepublik Deutschland,
Selbsteintritt nach Artikel 3 Absatz 2 DublinV, humanitäre Fälle nach
Artikel 15 DublinV) gab es in den benannten Zeiträumen?

c) Wie viele Überstellungen nach der Dublin-II-Verordnung wurden in den
benannten Zeiträumen vollzogen (bitte in absoluten Werten und in Prozent-
zahlen angeben und auch nach den zehn wichtigsten Herkunftsländern und
EU-Mitgliedstaaten – in jedem Fall auch Griechenland – differenzieren)?
d) Wie hoch war der Anteil der in Zuständigkeit der Bundespolizei durch-
geführten Dublin-Verfahren bzw. Überstellungen?

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6. Wie viele Asylanträge wurden im dritten Quartal 2010 bzw. im vorherigen
Quartal nach § 14a Absatz 2 des Asylverfahrensgesetzes von Amts wegen für
hier geborene (oder eingereiste) Kinder von Asylsuchenden gestellt, wie
viele Asylanträge wurden in den genannten Zeiträumen von bzw. für Kin-
der(n) unter 16 Jahren bzw. von Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren
bzw. von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen gestellt (bitte jeweils in
absoluten Zahlen und in Prozentzahlen in Relation zur Gesamtzahl der Asyl-
anträge sowie die Gesamtzahl der Anträge unter 18-Jähriger und sich über-
schneidende Teilmengen angeben), und wie hoch war die Gesamtschutzquote
bei unbegleiteten Minderjährigen bzw. bei unter 18-Jährigen?

7. Wie lautet die Statistik zu Rechtsmitteln und Gerichtsentscheidungen im Be-
reich Asyl für das Jahr 2010 (soweit vorliegend), und welche Angaben zur
Dauer des gerichtlichen Verfahrens lassen sich machen (bitte wie in der Ant-
wort zu Frage 7 auf Bundestagsdrucksache 17/1717 darstellen)?

a) Hat das BAMF seine Entscheidungspraxis in Bezug auf afghanische Flücht-
linge infolge der Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. Juni
2010 geändert, und wenn ja, inwiefern (bitte möglichst genau ausführen,
Nachfrage zu Bundestagsdrucksache 17/2674, Frage 7a)?

b) Hält das BAMF an Widerrufsverfahren gegenüber anerkannten türkischen
Flüchtlingen wegen einer angeblich dauerhaft und grundlegend geänder-
ten Sachlage in der Türkei fest, obwohl diese Widerrufe von den Gerichten
im Zeitraum 2009 bis 2010 nur zu 10 bis 15 Prozent bestätigt wurden, und
wenn ja, wie ist dies in Anbetracht des hohen prozessualen Aufwands für
alle Beteiligten sowie der damit zusammenhängenden psychischen Belas-
tungen für die Betroffenen zu begründen, und wie hat sich die Rechtspre-
chung zu dieser Frage entwickelt (Nachfrage zu Bundestagsdrucksache
17/2674, Frage 7b)?

c) Wie bewertet und erklärt die Bundesregierung den auffallend geringen
Anteil von gerichtlich bestätigten Widerrufen in Bezug auf Flüchtlinge
aus Togo (2009 bis 2010: 5 bis 10 Prozent), und welche Konsequenzen für
die Widerrufspraxis des BAMF werden hieraus gezogen?

d) Welche Kosten hatte der deutsche Staat für das Jahr 2009 im Zusammen-
hang mit Gerichtsentscheidungen über die Rechtmäßigkeit von Wider-
rufen der Flüchtlingseigenschaft bzw. des subsidiären Schutzes zu tragen?

8. Was sind aus Sicht der Bundesregierung die maßgeblichen Gründe für den
Anstieg der Gesamtschutzquote von zwischen 4,9 und 6,5 Prozent in den
Jahren 2002 bis 2006 auf 27,5 bis 37,7 Prozent in den Jahren 2007 bis 2009?

9. Was sind aus Sicht der Bundesregierung die Gründe für das Absinken der
Gesamtschutzquote auf unter 25 Prozent im laufenden Jahr, und inwieweit
besteht diesbezüglich womöglich ein Zusammenhang mit dem befristeten
Einsatz von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Asylbereich aus anderen
Abteilungen des BAMF (vgl. Bundestagsdrucksache 17/2993, Antwort zu
Frage 39)?

a) Welche Aufgaben wurden diesem befristet eingesetzten Personal genau
übertragen (z. B. bestimmte Herkunftsländer, bestimmte Sachverhalte),
wie wurden diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf ihre Aufgabe vor-
bereitet und insbesondere über die aktuelle Lage in den Herkunftsländern
und die komplexe und aktuelle Rechtsentwicklung informiert?

b) Welche Angaben und Erkenntnisse liegen dazu vor, inwieweit die befristet
im Asylbereich eingesetzten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu anderen
Anerkennungs- bzw. Ablehnungsquoten kommen als das langjährig ein-

gearbeitete Personal?

Drucksache 17/3421 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
10. Wie bewertet und erklärt die Bundesregierung den Umstand, dass im Jahr
2009 über 99 Prozent aller Anerkennungen einer Flüchtlingseigenschaft auf
einer nichtstaatlichen Verfolgung basierten (2008 waren es über 90 Pro-
zent), und inwieweit lässt sich hieraus im Umkehrschluss ableiten, dass die
Anerkennungsquoten bis zum Jahr 2005 womöglich deutlich höher ausge-
fallen wären, wenn bereits damals die nichtstaatliche (und nicht nur die
„quasi-staatliche“) Verfolgung rechtlich grundsätzlich als „asylrelevant“
betrachtet worden wäre (bitte ausführen)?

11. Welche Gründe gibt es nach Ansicht der Bundesregierung für den eklatan-
ten Anstieg der Asylsuchenden im Monat September 2010 aus den Ländern
Serbien und Mazedonien (von 255 auf 800 bzw. von 162 auf 521), und
inwieweit hängt dies nach ihrer Ansicht insbesondere mit der grundsätz-
lichen Befreiung der Staatsangehörigen beider Länder von der Visumpflicht
für Aufenthalte in der EU zusammen (bitte ausführen, auch zur Frage, wa-
rum sich dies gegebenenfalls erst jetzt so bemerkbar macht)?

12. Welche Konsequenzen hatte die Rücknahme des Vorbehalts zur UN-Kin-
derrechtskonvention in der Asyl-Entscheidungspraxis des BAMF in seiner
Rechtsauffassung und im Umgang mit minderjährigen Asylsuchenden
(Änderungen bitte einzeln benennen und möglichst präzise und begründet
antworten, auch insofern kein Änderungsbedarf gesehen wird)?

Berlin, den 26. Oktober 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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