BT-Drucksache 17/326

Bewaffnete Gruppen in Afghanistan

Vom 18. Dezember 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 17/326
17. Wahlperiode 18. 12. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, Dr. Diether Dehm, Wolfgang
Gehrcke, Annette Groth, Harald Koch, Stefan Liebich, Niema Movassat, Katrin
Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Bewaffnete Gruppen in Afghanistan

Obwohl die Frage des Umgangs mit bewaffneten Gruppen zentral für die Ver-
besserung der Sicherheitslage der afghanischen Bevölkerung und die Chancen
auf einen tragfähigen Friedensprozess in Afghanistan ist, spielte diese in den
bisherigen Afghanistan-Konzepten der jeweiligen Bundesregierung nur eine
untergeordnete Rolle. Weder wurde die Öffentlichkeit in Deutschland über den
Iststand informiert noch wurden Konzepte für den zukünftigen Umgang mit
bewaffneten Gruppen und dem damit verbundenen Aspekt der Verbreitung von
Kleinwaffen und anderen Rüstungsgütern in Afghanistan diskutiert.

Bereits auf der Petersberger Konferenz im Dezember 2002 wurde die Entwaff-
nung, Demobilisierung und Reintegration der verschiedenen bewaffneten Ver-
bände in Afghanistan als ein wichtiges Ziel der Wiederaufbaubemühungen in
Afghanistan hervorgehoben. Diese Bemühungen standen jedoch kontinuierlich
im Schatten der Machtkonsolidierung der Regierung Karsai und den Erfor-
dernissen der militärischen Eskalationsstrategie der NATO. Zwar gelang es im
Rahmen des Disarmament, Demobilisation and Reintegration (DDR)-Pro-
gramms offiziell zwischen 2003 und 2005 etwa 62 000 Angehörigen der
früheren afghanischen Militärstreitkräfte (Afghan Military Forces – AMF) zu
demobilisieren und etwa 63 000 Waffen einzusammeln. Viele alte AMF-Kom-
mandeure wechselten jedoch in die neuen Streitkräfte oder die Polizei und
behielten weiterhin Kontakte zu ihren ehemaligen Soldaten. Außerdem wurde
die Vielzahl anderer bewaffneter Gruppen, z. B. lokaler Milizen und frühere
Mudjahedin-Einheiten, von der Maßnahme nicht erfasst.

Mit dem 2005 begonnenen Programm „Disbandment of Illegal Armed Groups“
(DIAG) sollte das korrigiert werden. Allerdings wurde schnell deutlich, dass
auf Seiten der afghanischen Regierung und der NATO-Staaten der Umgang mit
bewaffneten Gruppen bestimmt war von dem militärischen Kalkül, lokal und
regional Verbündete gegen die Taliban zu gewinnen. In mehrfacher Hinsicht
leistete dieses Kalkül einen erheblichen Beitrag dazu, dem DIAG-Prozess die
Grundlage zu entziehen. Zum einen begannen immer mehr bewaffnete Grup-
pen, inklusive der sogenannten Stammesmilizen, als Reaktion auf das rigorose

Vorgehen im Rahmen der Aufstandsbekämpfung sich wenigstens sporadisch an
den Kämpfen gegen die afghanische Regierung und die ISAF-Truppen (ISAF =
International Security Assistance Force) zu beteiligen. Zum anderen förderten
die afghanische Regierung und die ISAF das Fortbestehen von irregulären be-
waffneten Gruppen, indem sie diese auf lokaler Ebene als Partner gegen die
Taliban einbinden wollten und wollen und damit auch eine Wiederbewaffnung
in Kauf nehmen. Einige Gruppen sollten auch als „reguläre Milizen“ an die
afghanischen Sicherheitsbehörden angebunden werden, wie z. B. 2006 in Form

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der Afghan National Auxiliary Police. Im April 2009 wurden außerdem erst-
mals lokale Milizen als sogenannte Public Protection Units aufgestellt. Es ist zu
befürchten, dass bei solchen Strukturen der Verbleib der ausgehändigten Waf-
fen oder des ausgebildeten Personals noch weniger gewährleistet werden kann,
als es ohnehin schon bei den afghanischen Streitkräften und der afghanischen
Polizei der Fall ist.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Mitglieder von bewaffneten Gruppen wurden seit 2005 entwaff-
net und demobilisiert (bitte aufgeschlüsselt nach Jahren und Zugehörigkeit
zu den einzelnen Gruppierungen)?

2. Welche Tätigkeitsfelder wurden diesem Personenkreis im Rahmen von so-
zialen Reintegrationsmaßnahmen angeboten, und für welche haben sie sich
jeweils entschieden?

3. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über den dauerhaften Verbleib
dieser Personen in den von ihnen gewählten Tätigkeitsfeldern, und wie be-
wertet die Bundesregierung die Nachhaltigkeit der Maßnahmen?

4. Wie viele Waffen welchen Typs wurden seit 2005 von den verschiedenen
bewaffneten Gruppen eingesammelt, und wie wurde anschließend mit den
Waffen verfahren (bitte jeweils aufgeschlüsselt nach Jahren)?

5. Wie viele Geldmittel wurden im Rahmen der Vereinten Nationen, der
NATO, der EU, anderer internationaler Organisationen und durch einzelne
Staaten für die Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration von Mit-
gliedern bewaffneter Gruppen seit 2005 bereitgestellt, und welchen Beitrag
hat Deutschland geleistet (bitte aufgeschlüsselt nach Jahren)?

6. Welche Maßnahmen und Programme für die Entwaffnung, Demobilisie-
rung und Reintegration bewaffneter Gruppen wurden seit 2006 im Zustän-
digkeitsbereich des Regionalkommandos Nord durchgeführt, und welchen
Beitrag hat Deutschland dazu geleistet?

7. Beabsichtigt die Bundesregierung, sich im Bereich der Reintegrations-
programme für ehemalige Mitglieder bewaffneter Gruppen in Zukunft zu
engagieren, und wenn ja, mit welchen finanziellen Mitteln, und an welchen
Projekten in welchem Zeitraum?

8. In wie vielen Provinzen wurden bislang im Rahmen des DIAG-Programms
entsprechende Maßnahmen umgesetzt, und konnte dadurch die Existenz
der bewaffneten Gruppen beseitigt werden?

9. Wie viele afghanische Regierungsangestellte unterhalten nach Kenntnis der
Bundesregierung Kontakt mit bewaffneten Gruppen, und welche Konse-
quenzen zieht die Bundesregierung sowohl bilateral als auch im Rahmen
von ISAF für die Zusammenarbeit mit der afghanischen Regierung?

10. Wie beurteilt die Bundesregierung den Verlauf des DIAG-Programms, und
in welchen Bereichen sieht sie einen Verbesserungsbedarf?

11. Wie hat sich die Anzahl und Stärke der bewaffneten Gruppen seit 2001 ver-
ändert, und welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung daraus für
ihre Afghanistan-Politik?

12. Wie viele bewaffnete Gruppierungen (inklusive der sogenannten Regierungs-
feindlichen Kräfte und sogenannten Opposing Militant Forces) sind nach
Kenntnis der Bundesregierung bzw. nach ISAF-Informationen in Afghanis-
tan derzeit aktiv (bitte aufgeschlüsselt nach Provinzen/Regionalkomman-

dos und Stärke der Gruppen)?

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13. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung jeweils über die Strukturen,
Kommandoebenen und Ziele der verschiedenen bewaffneten Gruppierun-
gen, und worauf stützen sich diese Erkenntnisse (bitte soweit möglich auf-
geschlüsselt nach bewaffneten Gruppen)?

14. Über welche Kenntnisse verfügt die Bundesregierung hinsichtlich der Mit-
gliedschaft von Kindern und Jugendlichen in diesen bewaffneten Gruppie-
rungen, und welche Konsequenzen zieht sie daraus für die eigene Einsatz-
strategie und den Umgang mit Gefangenen?

15. Auf wie viele Mitglieder schätzt die Bundesregierung jeweils die Stärke der
bewaffneten Gruppierungen im Regionalkommando Nord, und welchen
Aktionsbereich haben diese jeweils?

16. Über wie viele Kämpfer verfügen die den Taliban zugerechneten bewaffne-
ten Gruppen nach dem derzeitigen Kenntnisstand der Bundesregierung?

17. Trifft es zu, dass das deutsche Einsatzkontingent mit einigen bewaffneten
Gruppierungen kooperiert, z. B. indem afghanisches Personal für die Be-
wachung von Liegenschaften angestellt wird?

a) Wenn ja, mit welchen bewaffneten Gruppen bzw. ihren Anführern findet
eine solche Zusammenarbeit statt?

b) Wer entscheidet auf Seiten des deutschen Einsatzkontingents über die
Aufnahme von Gesprächen und die Zusammenarbeit mit bewaffneten
Gruppen, und inwieweit geschieht dies in Abstimmung mit der Bundes-
regierung, dem ISAF-Hauptquartier und den afghanischen Behörden?

18. Wie viel afghanisches Wachpersonal wird von der Bundeswehr beschäftigt
(bitte aufgeschlüsselt nach Standorten)?

19. Wie viele ausländische und afghanische private Sicherheitsunternehmen
sind in Afghanistan aktiv, und wie viel Personal beschäftigen diese?

20. Wie bewertet die Bundesregierung die Rolle privater Sicherheitsunterneh-
men in Afghanistan?

21. Unterscheidet die Bundesregierung zwischen bewaffneten Gruppierungen
und sogenannten afghanischen privaten Sicherheitsdienstleistern sowie ex-
ternen bzw. internationalen privaten Sicherheitsdienstleistern in Afghanis-
tan, und wenn ja, nach welchen Kriterien?

22. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Existenz und die Ak-
tivitäten der bewaffneten Gruppierungen den Aufbau funktionierender
staatlicher Sicherheitsbehörden sowie die Effektivität und Wirksamkeit der
afghanischen Sicherheitsbehörden schwächen?

23. Mit welchen bewaffneten Gruppen hat ISAF in der Vergangenheit Gesprä-
che geführt über einen möglichen lokalen oder regionalen Waffenstillstand,
über ein gemeinsames Vorgehen gegen die Taliban und/oder über die Inte-
gration in die staatlichen afghanischen Sicherheitsbehörden, und mit wel-
chem Ergebnis?

24. Mit welchen Stammesmilizen bzw. lokalen bewaffneten Gruppen hat ISAF
wann eine Vereinbarung über welche Formen der Zusammenarbeit getrof-
fen?

25. Wie bewertet die Bundesregierung den Beitrag der Afghan National Auxi-
liary Police zur Verbesserung der Sicherheit vor Ort?

26. Wie bewertet die Bundesregierung das Vorhaben von ISAF und afghani-
scher Regierung Public Protection Units aufzustellen bzw. im Rahmen der

Community Defense Initiative erneut in Süd- und Ostafghanistan lokale
Gruppen zu bewaffnen und als Hilfstruppen einzusetzen?

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27. In welcher Form war Deutschland in den Entscheidungsprozess über die
Aufstellung der in den Fragen 10, 11, 12 und 13 erwähnten Verbände bzw.
der Zusammenarbeit von ISAF mit Stammesmilizen beteiligt?

28. Welche Gefahren sieht die Bundesregierung durch die Einbindung von ein-
zelnen lokalen bewaffneten Gruppen seitens der afghanischen Regierung,
der Provinzgouverneure und/oder der ISAF

a) hinsichtlich einer Stärkung der Aufständischen bzw. der Opposing Mili-
tant Forces;

b) hinsichtlich einer möglichen Eskalation von Konflikten zwischen den
verschiedenen Gruppen;

c) hinsichtlich der unkontrollierten Verbreitung von Kleinwaffen in Afgha-
nistan?

29. Mit welchen Maßnahmen will die Bundesregierung im Rahmen der NATO
und der Vereinten Nationen diese Gefahren minimieren?

30. Welche Ausstattung wurde den Stammesmilizen bzw. den lokalen bewaff-
neten Gruppen seit 2002 von der NATO bzw. einzelnen NATO-Staaten so-
wie der afghanischen Regierung zur Verfügung gestellt (bitte aufgeschlüs-
selt nach Gruppierungen)?

31. Welchen Umfang hatte die deutsche Ausstattungshilfe bislang für die ANP
und ANA (bitte unter Angabe der Stückzahl und Bezeichnung des geliefer-
ten Materials und der gelieferten Rüstungsgüter)?

32. An welche afghanischen Polizei- und Armeeeinheiten wurden die deut-
schen Waffen wann ausgehändigt, und wie viele davon befinden sich der-
zeit noch im Besitz der entsprechenden Einheiten?

33. Falls zum aktuellen Verbleib keine Kenntnisse vorliegen, warum wurde bis-
lang versäumt, entsprechende Endverbleibskontrollen regelmäßig durch-
zuführen?

34. Welche Rüstungsgüter will die Bundesregierung im nächsten Jahr an wel-
che afghanischen Sicherheitsbehörden liefern, und welche Maßnahmen
werden ergriffen, um den Endverbleib dort zu gewährleisten (bitte ggf. auf-
geschlüsselt nach belieferten Einheiten)?

35. Wie viele Waffen des deutschen ISAF-Einsatzkontingents wurden seit 2002
als verloren oder gestohlen gemeldet (bitte aufgeschlüsselt nach Jahren),
und welche Anstrengungen hat die Bundeswehr jeweils unternommen und
mit welchem Erfolg, um den Verbleib der Waffen herauszufinden?

36. Wie viel Munition des deutschen ISAF-Einsatzkontingents wurde seit 2002
als verloren oder gestohlen gemeldet (bitte aufgeschlüsselt nach Jahren),
und welche Anstrengungen hat die Bundeswehr jeweils unternommen und
mit welchem Erfolg, um den Verbleib der Munition herauszufinden?

Berlin, den 17. Dezember 2009

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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