BT-Drucksache 17/2855

Aufklärung der in Argentinien während der Zeit der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 verschwundenen deutschen Staatsangehörigen

Vom 2. September 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2855
17. Wahlperiode 02. 09. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz,
Alexander Ulrich, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Aufklärung der in Argentinien während der Zeit der Militärdiktatur von
1976 bis 1983 verschwundenen deutschen Staatsangehörigen

Von 1976 bis 1983 herrschte in Argentinien eine Militärdiktatur unter den
Junta-Chefs Jorge Rafael Videla und Leopoldo Galtieri. Unter den Militär-
diktaturen, die damals das südliche Südamerika beherrschten, zählte die argen-
tinische Militärdiktatur zu den brutalsten. Menschenrechtsverletzungen fanden
in Argentinien in gravierendem Ausmaß statt. Nach Angaben einer argentini-
schen Kommission wurden nachweisbar etwa 2 300 Menschen ermordet und
10 000 verhaftet. Mehr als 30 000 Argentinier verschwanden spurlos. Es ist
davon auszugehen, dass auch sie ermordet wurden. Über 10 000 Opfer sind
bisher nach Angaben der Coordinadora General des Parque de la Memoria
identifiziert, das heißt, ihre Namen und Schicksale sind dokumentiert. Auch
über 100 deutsch- und deutsch-jüdischstämmige Menschen gehören zu den
Opfern und wurden durch die Diktatur verschleppt, gefoltert und ermordet.

Im Oktober 1983 löste die Regierung von Raúl Alfonsín die Militärdiktatur ab.
Die von ihm begonnene politische und juristische Aufarbeitung der Verbrechen
der Militärjunten steht auch heute noch am Anfang. Es ist vor allem den Müt-
tern und Großmüttern der Plaza de Mayo zu verdanken, dass die Erinnerung an
die Verschwundenen wach gehalten wurde und der Prozess der Aufarbeitung in
Gang gekommen ist.

Zu den Verbrechen der Militärdiktatur gehören auch der Raub und die Ver-
schleppung von Kindern schwangerer Häftlinge oder verschleppter und ermor-
deter Frauen. Die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des argentini-
schen Parlaments, die Abgeordnete Victoria Donda, selbst Opfer der Kindes-
verschleppung, berichtet von mehrheitlich ungelösten Fällen. Unter den Ver-
schwundenen befinden sich auch deutsche Staatsangehörige und Kinder
jüdischer Migranten aus Deutschland, denen vom faschistischen Deutschland
die deutsche Staatbürgerschaft aberkannt wurde. Der Parque de la Memoria
nennt folgende Namen unter den vermutet 100 Deutschen, die als gesichert
gelten:

Drucksache 17/2855 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Im Prozess gegen General Jorge Rafael Videla wegen der Ermordung von
Elizabeth Käsemann ist die Bundesrepublik Deutschland Nebenklägerin. Eliza-
beth Käsemann war als Entwicklungshelferin in Argentinien tätig und leistete
Sozialarbeit in den Armenvierteln von Buenos Aires. Sie wurde 1977 von An-
gehörigen argentinischer Sicherheitskräfte verhaftet und an einem geheim ge-
haltenen Ort versteckt und gefoltert. Nach einigen Wochen gaben die argentini-
schen Behörden ihren Tod bekannt, der angeblich bei einem Gefecht eingetre-
ten war. Die Umstände und die anschließende Untersuchung belegen jedoch,
dass sie durch vier Schüsse in den Rücken hingerichtet wurde. Angehörige von
deutschen Verschwundenen erhoben schwere Vorwürfe gegen die damalige
Bundesregierung. In dem Fall von Elizabeth Käsemann ist exemplarisch belegt,
dass trotz eindringlicher Appelle ihrer Angehörigen, die deutschen Behörden
zu wenig unternahmen, um verschleppten deutschen Staatsbürgern zu helfen.

In der Zeit der Militärdiktatur hat die Bundesrepublik Deutschland ihre Be-
ziehungen zur Argentinischen Republik weder reduziert noch hat sie sich nach-
haltig für die Freilassung deutscher Staatsbürgerinnen und Staatsbürger ein-
gesetzt. Mehrfach wurde der damaligen deutschen sozial-liberalen Regierung
unter Bundeskanzler Helmut Schmidt und Außenminister Hans-Dietrich
Genscher vorgeworfen, dass sie mehr Wert auf gute wirtschaftliche Beziehun-
gen zu Argentinien gelegt habe und sich nicht darum gekümmert hätte, dass die
insgesamt etwa 100 entführten deutschen und deutschstämmigen Opfer der
argentinischen Militärjunta überlebten.

Die deutsche Industrie hatte darüber hinaus durch Vermittlung und mit Ge-
nehmigung des Auswärtigen Amts von der Militärjunta Aufträge in Milliarden-
höhe erhalten. Die Bundesrepublik Deutschland avancierte in dieser Zeit zum
Waffenlieferanten Nummer 1 für die Diktatur. US-Präsident James Carter hin-
gegen belegte Argentinien wegen der schweren Menschenrechtsverletzungen
mit einem Waffenembargo. Mit deutschen Unternehmen wurden Verträge über
zwei Atomkraftwerke, sechs U-Boote, zehn Fregatten, 220 TAM-Panzer, 300
Schützenpanzer und 187 Zwillingskanonen abgeschlossen und der Diktatur
geliefert. Mit diesen Waffen führte Argentinien Krieg gegen den NATO-Ver-
bündeten Großbritannien.

Auch die damalige Daimler-Benz AG arbeitete eng mit der Militärjunta zu-

Name Vorname Geburtsdatum Datum des
Verschwindens

Seiler Julio Rodolfo 24. 06. 1914 20. 12. 1975

Arasenpchk Mariano 06. 04. 1940 14. 07. 1976

Falk Peter 08. 03. 1936 02. 04. 1976

Oppenheimer Alicia Nora 02. 02. 1954 31. 07. 1976

Wettengel Maximo Ricardo 24. 01. 1946 10. 06. 1976

Zieschank Claudio Manfredo 01. 12. 1951 26. 03. 1976

Dürigen Alberto Luis 11. 07. 1913 13. 01. 1977

Käsemann Elizabeth 11. 04. 1941 08. 03. 1977

Wagner Felisa Violeta Maria 01. 09. 1925 12. 06. 1977

Thanhauser Juan Miguel 21. 09. 1955 18. 07. 1978

Berliner Alfredo José 03. 09. 1950 27. 11. 1979
sammen. Während der Militärdiktatur verschwanden fast alle Mitglieder des
damaligen Betriebsrats von Mercedes Benz in Buenos Aires. Die „Verschwun-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/2855

denen“ wurden nachweislich gefoltert und ermordet, darunter auch drei
Deutschstämmige. Bis zum heutigen Tag hat der Vorstand der heutigen Daimler
AG nichts zur Aufklärung der Vorwürfe unternommen, wonach sich der Kon-
zern in Zusammenarbeit mit der Militärjunta schwerer Menschenrechtsverlet-
zungen schuldig gemacht habe.

In Deutschland kämpft die Koalition gegen Straflosigkeit seit 1998 gegen
Straflosigkeit und für Wahrheit und Gerechtigkeit für die deutschen Ver-
schwunden in Argentinien, für die Aufklärung der Menschenrechtsverbrechen,
die argentinische Militärs während der Diktatur von 1976 bis 1983 an Deut-
schen und Deutschstämmigen begangen haben und dafür, dass die Täter in
Deutschland strafrechtlich belangt werden.

Die Regierungen von Präsident Raúl Alfonsín, die aus dem Kollaps der Militär-
regierung hervorging und Präsident Carlos Menem verabschiedeten unter dem
Druck der Streitkräfte Amnestiegesetze, die die Aufklärung des Schicksals der
Betroffenen und eine Bestrafung der Schuldigen verhinderten. Ein effektives
Mittel, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, sind Verfahren vor ausländischen
Gerichten. Sofern Deutsche von Menschenrechtsverletzungen im Ausland be-
troffen sind, besteht die Möglichkeit, dies in Deutschland strafrechtlich zu ver-
folgen.

Wir fragen die Bundesregierung

1. Welche Informationen liegen der Bundesregierung zu den während der Zeit
der Militärdiktatur in Argentinien ermordeten oder verschwundenen deut-
schen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern vor?

2. Hat die Bundesregierung über die genannten Namen hinaus Kenntnisse
über deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die in Argentinien ver-
schwanden oder ermordet worden sind (wenn ja, bitte weitere Angaben zu
den betreffenden Personen machen)?

3. Welche Informationen hat die Bundesregierung über deutsche Täter bei der
Ermordung und Verschleppung von Regimegegnern in Argentinien bzw.
über Tatbeteiligungen von Deutschen?

4. Hat die Bundesregierung versucht, diesbezügliche Informationen zu be-
kommen?

Wenn nicht, warum nicht?

5. Welche Initiativen sind bisher ergriffen worden, um eine juristische Auf-
arbeitung der Morde zu erreichen?

In welchen Fällen wurde ermittelt, in welchen ist Anklage erhoben worden,
und wo ist die Bundesrepublik Deutschland Nebenklägerin?

6. Welche Informationen liegen der Bundesregierung bezüglich Fällen Ver-
schwundener und Ermordeter in Argentinien vor, deren Eltern als Juden
aus Nazi-Deutschland fliehen mussten?

7. In welcher Weise ist die Bundesregierung tätig geworden, um diesbezüg-
liche Informationen zu erlangen?

8. Wie beurteilt die Bundesregierung den Stand der politischen, moralischen
und juristischen Aufarbeitung der Militärdiktatur in Argentinien?

9. Was hat die Bundesregierung unternommen, um die argentinische Regie-
rung nachhaltig auf die Notwendigkeit der Aufklärung des Schicksals von
Verschwundenen hinzuweisen?

10. Unterstützt die Bundesregierung die argentinische Aufklärungsarbeit und

die Recherchen der Rechtsanwälte der Hinterbliebenen z. B. durch eigene
Aufklärungsarbeit und durch Zugänglichmachung der Archive?

Drucksache 17/2855 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
11. Wie beurteilt die Bundesregierung heute das damalige deutsche Verhalten
der Bundesregierung zur argentinischen Militärdiktatur?

12. Gibt es Lageberichte aus Argentinien aus der Zeit von 1976 bis 1983, in
denen auf die Möglichkeit, dass sich deutsche Staatsangehörige unter den
Verschleppten befinden könnten, aufmerksam gemacht worden ist (wenn
dies der Fall war, bitte Datum des Lageberichts und die dort festgehaltenen
Namen nennen)?

13. Hat die Bundesrepublik Deutschland in der Zeit der Militärdiktatur ihre
Botschafter aus Argentinien abberufen bzw. den argentinischen Botschafter
in Deutschland einbestellt, zum Beispiel, wenn Angehörige von Ver-
schleppten sich an die Bundesregierung wandten?

Wenn nicht, welches waren die Gründe, dies nicht zu tun?

14. In welcher Art ist die damalige Bundesregierung tätig geworden, um das
Leben der verschleppten Deutschen und der deutschstämmigen Jüdinnen
und Juden zu retten?

Waren die Interventionen nach Meinung der jetzigen Bundesregierung aus-
reichend?

15. Ist die Bundesregierung insgesamt der Meinung, dass damals zu wenig zur
Rettung verschwundener Deutscher und deutschstämmiger Jüdinnen und
Juden getan wurde?

16. Beabsichtigt die Bundesregierung, Hinterbliebene zu entschädigen, wenn
die damalige Bundesregierung nicht in ausreichendem Maße zur Rettung
Verschwundener tätig wurde?

17. Sind von der Bundesregierung alle Archive, die die deutsch-argentinische
Geschichte betreffen, öffentlich zugänglich gemacht worden?

18. Beabsichtigt die Bundesregierung eine Aufarbeitung der Geschichte der
deutsch-argentinischen Beziehungen zu veranlassen?

19. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung über die Zusammenarbeit von
deutschen Firmen mit den argentinischen Militärdiktaturen?

20. Hat die Bundesregierung Kenntnis über die Zusammenarbeit deutscher
Unternehmen mit der argentinischen Militärdiktatur, die direkt oder indi-
rekt zur Verhaftung und zum Verschwinden von Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeitern führte?

21. Setzt sich die Bundesregierung für die Aufarbeitung der Geschichte deut-
scher Unternehmen in Argentinien zur Zeit der Militärdiktaturen ein und
unterstützt diese Aufarbeitung?

22. Welche Beiträge hat die Bundesregierung zur Errichtung des Parks der
Erinnerung geleistet bzw. beabsichtigt die Bundesregierung, den Park der
Erinnerung zu unterstützen?

Wenn nicht, warum nicht?

Berlin, den 2. September 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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