BT-Drucksache 17/2351

Ausgrenzung beenden - Einbürgerungen umfassend erleichtern

Vom 30. Juni 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2351
17. Wahlperiode 30. 06. 2010

Antrag
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Jan Korte, Ulla Jelpke, Petra Pau,
Jens Petermann, Raju Sharma, Frank Tempel, Halina Wawzyniak und der Fraktion
DIE LINKE.

Ausgrenzung beenden – Einbürgerungen umfassend erleichtern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Deutsche Bundestag ist besorgt, dass die Zahl der Einbürgerungen in
Deutschland im vergangenen Jahrzehnt fast kontinuierlich zurückgegangen ist.
Im Jahr 2009 waren es mit 96 121 Einbürgerungen nur gut halb so viele wie im
Jahr 2000, als 186 688 Menschen eingebürgert wurden.

Der Deutsche Bundestag kritisiert, dass die Bundesregierung ungeachtet dieser
Entwicklung Einbürgerungserleichterungen ablehnt.

Die zahlreichen und in den letzten Jahren noch erhöhten Hürden der Einbürge-
rung grenzen Migrantinnen und Migranten aus und sorgen dafür, dass sie in der
Bundesrepublik Deutschland „Menschen zweiter Klasse“ bleiben, weil ihnen
gleiche Rechte in allen Lebensbereichen trotz langjährigen Aufenthalts versagt
werden. Drittstaatsangehörige sind ohne Einbürgerung auf allen politischen
Ebenen von Wahlen ausgeschlossen, obwohl sie im Durchschnitt seit etwa
18 Jahren hier leben.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

das Staatsangehörigkeitsgesetz mit dem Ziel umfassender Einbürgerungs-
erleichterungen zu ändern und dabei insbesondere folgende Grundsätze zu be-
achten:

a) Einbürgerungsberechtigt sind Menschen, die seit mindestens fünf Jahren
ihren tatsächlichen Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, unabhängig
vom jeweiligen Aufenthaltstitel.

b) Die deutsche Staatsangehörigkeit wird per Geburt in Deutschland verlie-
hen, wenn zumindest ein Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt hier
hat (ius soli).
c) Mehrfachstaatsangehörigkeiten infolge einer Einbürgerung oder aufgrund
der Geburt in Deutschland werden generell akzeptiert; die Pflicht zur Auf-
gabe der bisherigen Staatsangehörigkeit (§ 10 Absatz 1 Nummer 4 des
Staatsangehörigkeitsgesetzes – StAG) entfällt ebenso wie der Zwang zur
Entscheidung für eine Staatsbürgerschaft nach Erreichen der Volljährigkeit
(so genannte Optionspflicht, § 29 StAG); ehemaligen Deutschen, die ihre
deutsche Staatsangehörigkeit aufgrund des Erwerbs einer weiteren Staats-

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angehörigkeit verloren haben (§ 25 Absatz 1 StAG), wird eine schnelle,
unkomplizierte und voraussetzungslose Wiedereinbürgerung ermöglicht.

d) Der Anspruch auf Einbürgerung besteht unabhängig vom Einkommen oder
dem sozialen Status der Betroffenen; insbesondere ist der Bezug von Leis-
tungen nach dem Sozialgesetzbuch unschädlich.

e) Einbürgerungsberechtigte dürfen nicht auf ihre „innere Gesinnung“ hin ge-
prüft werden, ihre grundrechtlich geschützte Meinungs- und Gewissens-
freiheit ist zu achten.

f) Die Fähigkeit zur einfachen mündlichen Verständigung in der deutschen
Sprache ist ausreichend als Einbürgerungsvoraussetzung.

g) Die Teilnahme an Staatsbürgerschaftskursen ist keine Einbürgerungsvor-
aussetzung; entsprechende Kurse werden als freiwillige und kostenfreie
Angebote und nach den Bedürfnissen der Betroffenen ausgestaltet.

h) Einbürgerungsgebühren sind auf einen symbolischen Betrag zu senken.

i) Die Herabsenkung der „Bagatellgrenze“ außer Betracht bleibender Straf-
taten (§ 12a StAG) durch das EU-Richtlinienumsetzungsgesetz wird rück-
gängig gemacht.

Berlin, den 30. Juni 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Die Zahl der Einbürgerungen liegt aktuell weit unterhalb der Werte, wie sie zu-
letzt noch unter dem bis Ende 1999 geltenden Reichs- und Staatsangehörigkeits-
recht aus dem Jahre 1913 erzielt wurden. Seit der Reform des Staatsangehörig-
keitsrechts ist die Zahl kontinuierlich und um etwa die Hälfte gesunken. Bei
Berücksichtigung von Sonderfaktoren insbesondere für die Jahre 2000 bis 2002
ergibt sich ein Rückgang von 2000 bis heute um über 40 Prozent. Auch in den
letzten drei Jahren der SPD-BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN-Bundesregierung
(2002 bis 2005) lagen die Einbürgerungszahlen wieder unterhalb des Wertes von
1999, in der Regierungszeit der großen Koalition gingen die Zahlen um ein
weiteres Fünftel zurück. Die Behauptung der vorherigen Bundesregierung und
der Bundesbeauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und
Integration, die Einbürgerungszahlen in Deutschland lägen „auf einem hohen
Niveau“ (Bundestagsdrucksache 16/13558, Frage 5), ist angesichts dieser Zah-
len blanker Hohn. Ein Vergleich mit anderen Mitgliedstaaten der EU verdeutlicht
die dramatische Entwicklung (ebd., Tabelle 20): Deutschland lag im Jahr 2007
mit einer Einbürgerungsquote von 1,56 nur an etwa 16. Stelle. Länder wie Frank-
reich (4,21), England, die Niederlande (je 4,5), Schweden (6,84) und weitere ver-
zeichneten mehr als doppelt, dreimal oder sogar mehr als viermal so hohe Ein-
bürgerungsquoten.

Die Gründe für den massiven Rückgang der Einbürgerungen sind unterschied-
lich. Negative Auswirkungen einer ausgrenzenden Integrationsdebatte der letz-
ten Jahre lassen sich zwar kaum quantifizieren, sie dürften aber erheblich sein.
Die wiederholte Falschbehauptung einer angeblich verbreiteten „Integrations-
unwilligkeit“ oder gar Verfassungsfeindlichkeit von Migrantinnen und Migran-
ten fördert nicht nur Ressentiments und rassistische Einstellungen in der Mehr-

heitsbevölkerung, sondern hält zudem viele derart Ausgegrenzte vom Schritt der

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Einbürgerung ab. Auch zahlreiche Gesetzesverschärfungen unter der SPD-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN- und CDU/CSU-SPD-Bundesregierung der
Jahre 2000 und 2007 sind für den Rückgang verantwortlich: Dass seit dem Jahr
2000 nicht mehr die Möglichkeit besteht, nach der Einbürgerung die vorherige
Staatsangehörigkeit zurückzuerwerben, ist eine maßgebliche Erklärung für den
überdurchschnittlichen Rückgang der Einbürgerungsquote bei türkischen
Staatsangehörigen, die über 90 Prozent derjenigen stellen, die ihre deutsche
Staatsangehörigkeit infolge dieser Regelung seit 2000 verloren haben (a. a. O.,
Tabelle 18/19). Die deutliche Erhöhung der Einbürgerungsgebühren im Jahr
2000 und Verschärfungen bei den nachzuweisenden Sprachkenntnissen in den
Jahren 2000 und 2007 sind weitere maßgebliche Umstände. Auch von den seit
Herbst 2008 obligatorischen Einbürgerungstests geht offenbar eine abschre-
ckende Wirkung aus. Die Bundesbeauftragte der Bundesregierung für Migra-
tion, Flüchtlinge und Integration, Dr. Maria Böhmer, hat bestritten, dass die
vorgenannten Gründe für den Rekord-Einbürgerungsrückgang im Jahr 2008
verantwortlich sind. Stattdessen verwies sie auf eine steigende Zahl hier leben-
der EU-Angehöriger, die wegen ihrer Rechtsstellung als Unionsangehörige eine
deutlich geringere Einbürgerungsneigung aufweisen, und auf Auswirkungen des
ius soli (vgl. Bundestagsdrucksache 16/13707). Allerdings hat sich weder der
Anteil der EU-Angehörigen an allen Ausländerinnen und Ausländern noch die
Zahl der Nichtdeutschen zwischen 2007 und 2008 merklich verändert. Auch in
langjähriger Perspektive erhöhte sich der Anteil EU-Angehöriger von 34 Pro-
zent im Jahr 2002 auf 35 Prozent im Jahr 2009 nur unwesentlich, und ungeachtet
der Einführung des ius soli im Jahr 2000 beträgt die Zahl der in Deutschland
lebenden Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit seitdem konstant etwa
7,2 bis 7,3 Millionen. Beide Faktoren können den massiven Einbürgerungsrück-
gang also nicht erklären.

Der Bundesminister des Innern, Dr. Thomas de Maizière, kündigte im Innenaus-
schuss des Deutschen Bundestages am 27. Januar 2010 eine genauere Unter-
suchung zum Rückgang der Einbürgerungszahlen an. Dabei liegt eine solche in
Form der Großen Anfrage der Fraktion DIE LINKE. zum „Staatsangehörigkeits-
recht und zur Einbürgerungspraxis als Maßstab der Integrationspolitik“ (Bundes-
tagsdrucksache 16/13558) bereits vor. Hieraus geht hervor, dass die Faktoren Auf-
enthaltsdauer, Status und Staatsangehörigkeit der Betroffenen (ebd., Tabellen 1
bis 14) für die Höhe der Einbürgerungsquote erwartungsgemäß zwar eine wich-
tige Rolle spielen. Dies zeigt insbesondere die erhebliche Differenz zwischen
„neuen“ und „alten“ Bundesländern infolge der sehr unterschiedlichen Zusam-
mensetzung der eingewanderten Bevölkerung. Die extrem abweichenden Einbür-
gerungsquoten zwischen den westdeutschen Bundesländern, auf die 98 Prozent
aller Einbürgerungen fallen, können hiermit jedoch nicht erklärt werden: sie
reichten im Jahr 2007 von 1,02 bis 2,63. Baden-Württemberg und Bayern wiesen
mit Werten von 1,02 bzw. 1,11 die mit Abstand niedrigsten Einbürgerungsquoten
der westlichen Bundesländer auf (Bundesdurchschnitt: 1,56), und zwar obwohl in
beiden Ländern der Anteil von nichtdeutschen Staatsangehörigen mit langjähri-
gem, gefestigtem Aufenthaltsstatus und deren Beschäftigungsquote deutlich
höher war als in den anderen Bundesländern. Umgekehrt verzeichneten Schles-
wig-Holstein und Bremen mit 2,63 bzw. 2,0 die höchste bzw. vierthöchste Einbür-
gerungsquote, obwohl hier die Faktoren Aufenthaltsdauer, Status, Arbeitslosig-
keit und Beschäftigungsquote merklich schlechter als im Bundesdurchschnitt
ausfielen.

Ein signifikanter Zusammenhang besteht hingegen zwischen der Einbürgerungs-
quote und dem praktischen Umgang mit Mehrstaatigkeit (ebd., Tabelle 15): Ge-
nau die beiden Bundesländer mit dem höchsten Anteil akzeptierter Mehrstaatig-
keit – Schleswig-Holstein (61,1 Prozent) und Rheinland-Pfalz (57,9 Prozent,

Bundesdurchschnitt: 52,4 Prozent) – waren zugleich diejenigen mit den höchsten
Einbürgerungsquoten (2,63 und 2,14). Umgekehrt gingen die niedrigen Einbür-

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gerungsquoten in Bayern und Baden-Württemberg mit einem entsprechend nied-
rigen Anteil akzeptierter Mehrstaatigkeit einher (42,5 Prozent bzw. 45,6 Pro-
zent). Noch deutlicher wird der Zusammenhang, wenn die Einbürgerungsquoten
der Bundesländer in Bezug auf Personen bestimmter Herkunftsländer miteinan-
der verglichen werden, denn dann fällt die Staatsangehörigkeit (und damit oft-
mals zusammenhängend: der „typische“ Status, die Aufenthaltsdauer der Betrof-
fenen usw.) als Erklärungsmöglichkeit weg (ebd., Tabelle 14): So war die
Einbürgerungsquote bei türkischen Staatsangehörigen in Schleswig-Holstein mit
2,83 trotz geringerer Beschäftigungsquote und Aufenthaltsverfestigung dort
lebender nichtdeutscher Staatsangehöriger mehr als doppelt so hoch wie in
Baden-Württemberg (1,07) oder Bayern (1,31). In diesem Zusammenhang ist von
Bedeutung, dass Baden-Württemberg seit 2006 als einziges Bundesland einen
diskriminierenden „Gesinnungs-Test“ bei Einbürgerungswilligen aus Ländern
mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung praktiziert.

Auch die Höhe der Sprachanforderungen wirkt sich signifikant auf die Einbürge-
rungsquote aus: Die vier Bundesländer Schleswig-Holstein, Hessen, Bremen
und Rheinland-Pfalz mit den höchsten Einbürgerungsquoten stellten im Rahmen
des im Jahr 2007 noch gegebenen Ermessens („ausreichende“ Sprachkenntnisse)
eher niedrige Anforderungen (ebd., Frage 12g und 12h, Übersicht 2), während
die Bundesländer mit den niedrigsten Quoten, Baden-Württemberg und Bayern,
deutlich höhere Nachweise verlangten. Seit Herbst 2007 ist der Nachweis münd-
licher und schriftlicher Sprachkenntnisse durch ein Zertifikat „Deutsch B1“ ge-
setzlich vorgeschrieben. Dies bedeutete für zahlreiche Bundesländer eine erheb-
liche Einbürgerungserschwernis.

Der Vergleich mit anderen EU-Mitgliedstaaten gibt weitere Hinweise auf mög-
liche Maßnahmen zur Steigerung der Einbürgerungsquote (ebd., Tabelle 20 und
Übersicht 4 und 5): Jeweils sechs von acht EU-Ländern, die besonders hohe Ein-
bürgerungsquoten von über 3,0 aufwiesen, sahen Vor-Aufenthaltszeiten von un-
ter 5 Jahren vor, verzichteten auf den Nachweis eigenständigen Einkommens und
akzeptierten die generelle Mehrstaatigkeit, fünf von ihnen verzichteten zudem
auf einen Einbürgerungstest.

Die Forderung nach Einbürgerungserleichterungen ergibt sich auch aus den Ur-
teilen des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Oktober 1990 zum kommunalen
Ausländerwahlrecht (BVerfGE 83, 37 und 83, 60). Das Gericht stellte fest, dass
es der „demokratischen Idee“ entspreche, „eine Kongruenz zwischen den Inha-
bern demokratischer politischer Rechte und den dauerhaft einer bestimmten
staatlichen Herrschaft Unterworfenen herzustellen“. Das restriktive Einbürge-
rungsrecht in Deutschland steht damit offenbar im direkten Widerspruch zur Idee
der Demokratie.

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