BT-Drucksache 17/2349

Ausmaß von staatlicher und privater Videoüberwachung

Vom 30. Juni 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2349
17. Wahlperiode 30. 06. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jan Korte, Ulla Jelpke, Jens Petermann, Halina Wawzyniak und
der Fraktion DIE LINKE.

Ausmaß von staatlicher und privater Videoüberwachung

Die Überwachung durch Videokameras ist auch in Deutschland eine weitver-
breitete Maßnahme, mit der Straftaten verhindert und aufgeklärt werden sollen.
Jede Videoüberwachung stellt allerdings auch einen Eingriff in die Grundrechte
der von der Überwachung betroffenen Menschen dar.

In den letzten 20 Jahren hat sich die Videoüberwachung (VÜ), beschleunigt
durch den technischen Fortschritt und sinkende Preise, in Deutschland massiv
ausgebreitet. Tankstellen, Tiefgaragen, Bahnhöfe, Innenstädte, Kaufhäuser, Ban-
ken, öffentliche Verkehrsmittel, Hauseingänge, öffentliche Plätze und viele wei-
tere Orte werden überwacht. Nach einem Bericht der Tageszeitung „DIE WELT“
(15. Mai 2010) plant der Bundesminister des Innern, Dr. Thomas de Maizière,
gesetzliche Erleichterungen im Bereich der offenen Videoüberwachung nun
auch für Unternehmen. So soll die VÜ künftig bei öffentlich zugänglichen Be-
triebsgeländen, Betriebsgebäuden oder -räumen zulässig sein. In Deutschland
gibt es bisher nur sehr wenige Studien, die die Effizienz der öffentlichen Video-
überwachung als Instrument der Kriminalitätsbekämpfung untersuchen.

Anders in Großbritannien, das als das am stärksten videoüberwachte Land
Europas gilt. Hier verfolgen mehr als vier Millionen Kameras die Bürger auf
Schritt und Tritt. Diese VÜ hatte sich Großbritannien in den letzten Jahren meh-
rere Milliarden Euro kosten lassen.

Obwohl jede Bürgerin und jeder Bürger Londons statistisch betrachtet im
Durchschnitt 300 Mal pro Tag von Kameras erfasst wird, kommt einem internen
Bericht der London Metropolitan Police zufolge auf 1 000 Überwachungskame-
ras in der britischen Hauptstadt lediglich die Aufklärung von nur einer Straftat.
Die hohen Erwartungen der Bevölkerung in die Closed Circuit Television
(CCTV) würden damit insgesamt enttäuscht, so der Verfasser des Berichts,
Chief Inspector Mick Neville (heise online vom 25. August 2009). Die geringe
Effizienz der VÜ schreibt Mick Neville vor allem einer mangelhaften Auswer-
tung des Videomaterials zu. Vielfach würden die aufgezeichneten Datenmengen
überhaupt nicht gesichtet. Zudem gebe es auch zu wenig geschultes Personal für
diese Aufgabe.

Als eine der ersten europäischen Städte hat Mailand, dessen Kameradichte im
öffentlichen Raum mit derzeit 1 326 städtischen Kameras zu einer der höchsten

Europas zählt (vgl. CORRIERE DELLA SERA vom 13. Mai 2010), eine Soft-
ware eingeführt, die Daten aus öffentlichen Überwachungskameras automa-
tisiert auf zuvor klassifiziertes, unerwünschtes Verhalten analysiert und gegebe-
nenfalls einen Alarm ausgibt. Während herkömmliche Kameras permanente
Panoramaaufnahmen erzeugen, soll das auf biometrischen Verfahren basierende
System genauer hinsehen, den Beamten die Arbeit erleichtern und Hinweise
zum Eingreifen geben.

Drucksache 17/2349 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

In Deutschland ist die Lage nicht grundlegend anders. Mit der zunehmenden VÜ
des öffentlichen und privaten Raums gehen allerdings oftmals eklatante Rechts-
verstöße einher, wie das Beispiel Niedersachsen zeigt. Viele niedersächsische
Behörden und Kommunen verstoßen beim Betrieb von Videokameras massiv
gegen datenschutzrechtliche Vorschriften. 99 Prozent von 3 345 überprüften Ge-
räten weisen Mängel auf. Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung des
Landesbeauftragten für den Datenschutz (LfD) in Niedersachsen, Joachim
Wahlbrink. Er hatte von Dezember 2008 bis März 2010 Informationen über die
von einem Großteil der Landesbehörden und von 34 Kommunen eingesetzten
Videokameras abgefragt (z. B. Straßen und Plätze, Gebäudesicherung, Schulen,
Badeanstalten, Museen). „Das hatten wir so nicht erwartet: Fast alle überprüften
Behörden und zwei Drittel der überprüften Kommunen ignorieren in irgendeiner
Weise die Datenschutzbestimmungen. Sie hängen keine Hinweisschilder auf,
betreiben die Geräte seit vielen Jahren ohne die vorgeschriebenen schriftlichen
Unterlagen und können mit den Kameras mitunter sogar in den absolut ge-
schützten Bereich von Wohnungen schauen, was schlichtweg grundgesetzwid-
rig ist“, erklärte Joachim Wahlbrink in einer Pressemitteilung (20. April 2010).
Ein System zur videobasierten Gesichtserkennung, das im Mainzer Bahnhof von
der Bundespolizei erprobt wurde, musste vorzeitig aufgegeben werden. Bis zum
September 2007 wurden dafür 183 575,31 Euro aufgewendet, für die Jahre 2008
und 2009 kamen allein für Forschung weitere 220 000 Euro zur Weiterentwick-
lung dieser oder ähnlicher Programme hinzu, die im Bundeshaushalt eingestellt
wurden (Sachinformation für den Bundestagsabgeordneten Roland Claus vom
18. September 2007).

Die Generalbundesanwaltschaft ermittelte vom 16. Juli 2001 bis zum 22. Sep-
tember 2008 gegen drei Berliner wegen des Vorwurfs, die damals als terroristi-
sche Vereinigung eingestufte „militante gruppe“ gegründet zu haben (§ 129a des
Strafgesetzbuchs). Unter anderem waren dabei auf die Haustüren der Beschul-
digten hochauflösende Videokameras gerichtet. Zeitweise wurden die drei
Personen rund um die Uhr von Observationsteams begleitet. Im jetzt veröffent-
lichten Beschluss vom 11. März 2010 erklärt der Bundesgerichtshof (BGH) die
in dem Verfahren durchgeführten Telefonüberwachungen und Observationen
für rechtswidrig (StB 16/09).

Doch auch nichtöffentliche Betreiber von VÜ verstoßen seit vielen Jahren mas-
siv gegen Rechtsvorschriften. So urteilte beispielsweise das Münchner Amtsge-
richt, dass Mieter keine Überwachungskamera im Hauseingang dulden müssen,
da diese das Persönlichkeitsrecht der Mieter verletze. Die Mieter müssten un-
überwacht die eigene Wohnung verlassen und ungestört Besuch empfangen kön-
nen, erklärten die Richter. Selbst wenn die Mieter von der Existenz der Kamera
wüssten, seien sie in ihrer Freiheit eingeschränkt, hieß es im Urteil. Gerechtfer-
tigt sei das Anbringen einer Kamera nur, wenn „eine drohende Rechtsverletzung
anderweitig nicht zu verhindern gewesen wäre“ (Urteil v. 16. Oktober 2009,
Az. 423 C 34037/08).

Die technische Entwicklung wird auch mit Geldern aus dem Bundeshaushalt
weiter vorangetrieben. So wird aus Geldern des Bundesministeriums für Bil-
dung und Forschung zum Beispiel an der Universität Hannover ein Forschungs-
projekt zur in situ-Erkennung personeninduzierter Gefahrensituationen (Presse-
stelle Uni Hannover, 22. Juni 2010) finanziert, bei dem Aufenthaltsorte und
Bewegungsmuster computergestützt analysiert werden.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Bahnhöfe werden in der Bundesrepublik Deutschland mit Video-
kameras überwacht, und welche Ziele werden mit der Überwachung verfolgt

(bitte nach Bundesländern aufschlüsseln)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/2349

2. Wie viele dieser Bahnhöfe haben Fernverkehr und wie viele nur Regional-
verkehranschluss?

3. Welche Rechtsgrundlagen gelten für diese Überwachung?

4. Wie viele Kameras sind auf den jeweiligen Bahnhöfen installiert, und wel-
che Bildqualität liefern die Geräte (bitte nach Bahnhof, Modell und Jahr der
Installation aufschlüsseln)?

5. Welche dieser Kameras zeichnen lediglich auf?

Mit welchen wird von wem das Geschehen in Echtzeit überwacht, und wel-
che sind an ein System der videobasierten Gesichtserkennung angeschlos-
sen?

6. Wer bzw. welche Sicherheitskräfte werden bei einem videoerfassten Eintritt
welcher Vorfälle oder Beobachtungen von wem alarmiert?

7. Wann, wie oft und wo wurden unmittelbar neben der Polizei auch private
Sicherheitsdienste informiert?

8. Welcher personelle und finanzielle Aufwand entsteht durch den Betrieb der
Kameraüberwachung?

9. Wer ist der jeweilige Betreiber und Betreuer der Kameras und der techni-
schen Infrastruktur (zum Beispiel Bundespolizei, private Unternehmer in
den Bahnhofsanlagen und andere)?

10. Wem gehören rechtlich die Kameras auf den Bahnhöfen und die anderen im
öffentlichen Raum installierten Kameras?

11. Wie, wo und wie lange wird das erfasste Bildmaterial gespeichert, und wer
überwacht die Löschung?

12. Erhalten die auf dem Material erfassten und identifizierten Personen Aus-
kunft darüber, dass sie gespeichert werden?

13. Werden die gespeicherten Bilder auf Anfrage an Dritte übermittelt?

Wenn ja, auf welcher Rechtsgrundlage geschieht das?

Welche Dritte sind das?

14. Welche Rechtsmittel stehen den Gespeicherten zur Verfügung, um die Lö-
schung ihres Bildmaterials verlangen zu können?

15. Wem gehören rechtlich die Filmaufnahmen, die auf den Bahnhöfen aufge-
nommen werden (der DB AG, Sub- oder Tochterunternehmen der Bahn, der
Bahnpolizei, der Bundespolizei, dem BKA, den LKÄ)?

16. Wem gehören die Filmaufnahmen, die im sonstigen öffentlichen Raum ge-
macht werden?

17. Gibt es auch in der Bundesrepublik Deutschland ähnlich wie in Mailand auf
biometrischen Verfahren basierende VÜ?

Wenn ja, wo?

Wenn nein, hat die Bundesregierung Kenntnis von entsprechenden Planun-
gen?

18. Welche Maßstäbe an die Bildqualität der Aufzeichnungen werden von wem
angelegt, damit dieses Material vor Gericht (z. B. als Beweismaterial)
akzeptiert wird?

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19. Wie viele Ermittlungsverfahren führten seit 1. Januar 2009 wesentlich auf-
grund von Bildmaterial aus Überwachungskameras zu Anklagen?

Wie viele endeten mit welchem Strafmaß und mit einer Verurteilung im
Sinne der Anklage (bitte genaue Auflistung)?

20. Welche öffentlichen Räume (z. B. Schwimmbäder, Straßen und Plätze,
Schulen, Museen) werden in Deutschland besonders mit Videokameras
überwacht, wie viele Kameras werden dafür eingesetzt, und welche beleg-
baren Ergebnisse hat diese Überwachung erbracht?

21. Werden in der Bundesrepublik Deutschland auch Autobahnen dauerhaft mit
Videokameras überwacht?

Wenn ja, wo, durch wen und auf welcher Rechtsgrundlage geschieht dies?

22. Können die von der Toll Collect GmbH eingerichteten Mautbrücken zur VÜ
des Autobahnbahnverkehrs genutzt werden, und gibt es entsprechende
Pläne, die Mautbrücken in Zukunft so zu nutzen, und welche Veränderun-
gen technischer und rechtlicher Art wären dazu erforderlich?

23. Wie viel Quadratmeter der Fläche der Bundesrepublik Deutschland werden
mit Überwachungskameras erfasst (ggf. Schätzwerte)?

24. In wie vielen Fällen werden derzeit Terrorverdächtige, sogenannte Kontakt-
personen und Gefährder auf welcher Rechtsgrundlage mit Videokameras
überwacht (bitte nach Bundesländern aufschlüsseln)?

25. Wie viele Personen waren seit dem 11. September 2001 von gezielten
Videoüberwachungsmaßnahmen zur Verhinderung oder Aufdeckung von
Straftaten und terroristischen Aktivitäten durch deutsche Sicherheitsbehör-
den betroffen (bitte nach Anzahl, Sicherheitsbehörde und Datum aufschlüs-
seln)?

26. In wie vielen Fällen führte die VÜ zur Verhinderung von Straftaten und zur
Aufdeckung terroristischer Aktivitäten?

27. Wurden die im Rahmen einer temporären VÜ gefilmten unbeteiligten Per-
sonen im Nachhinein über ihre Erfassung informiert?

Wenn nein, warum nicht?

28. Wie viele Videokameras sind in Supermärkten, Tankstellen, Banken, öffent-
lichen Toiletten und anderen Orten derzeit in der Bundesrepublik Deutsch-
land in Betrieb (bitte aufschlüsseln, ggf. schätzungsweise)?

29. Welche Rechtsgrundlagen sind hierfür für Einrichtung und Betrieb entschei-
dend?

30. Wer wertet die Aufzeichnungen dieser Kameras aus?

31. Wer kontrolliert diese Überwachungskameras, ihren laufenden Betrieb und
den datenschutzgerechten Umgang mit Aufzeichnung, Auswertung und
Löschung des Filmmaterials?

32. Welche Dritten haben Zugang zu den Aufzeichnungen dieser privaten
Kameras und auf welcher Rechtsgrundlage geschieht dies?

33. Welche Zugriffsmöglichkeiten haben welche Sicherheitsbehörden des
Bundes und der Länder auf die Aufzeichnungen dieser Kameras?

34. Sind der Bundesregierung Gemeinden, Städte, Örtlichkeiten bekannt, an
denen einmal eingerichtete Videoüberwachungsmaßnahmen eingeschränkt
oder ganz aufgehoben wurden?

Wenn ja, welche sind das, und welche Gründe waren für die Rücknahme

ausschlaggebend?

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35. Welche Studien sind nach Ansicht der Bundesregierung geeignet zur Beur-
teilung von Videoüberwachungsmaßnahmen, und hat sie selbst solche Stu-
dien zu Auswirkungen, Umfang und Effizienz der VÜ in Auftrag gegeben,
und wenn ja, welche sind dies?

Wenn nein, warum nicht?

36. Welche Projekte zur Videoüberwachung und -erkennung, außer dem Ver-
bundprojekt „CamInSens“, das an der Universität Hannover mit etwa
2,6 Mio. Euro gefördert wird, fördert das Bundesministerium für Bildung
und Forschung im Rahmen des Forschungsprogrammes für die zivile
Sicherheit, und in welcher Höhe geschieht dies?

Berlin, den 30. Juni 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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