BT-Drucksache 17/2325

Menschenrecht auf Freizügigkeit ungeteilt verwirklichen

Vom 30. Juni 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2325
17. Wahlperiode 30. 06. 2010

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dag˘delen, Petra Pau,
Jens Petermann, Raju Sharma, Frank Tempel, Halina Wawzyniak
und der Fraktion DIE LINKE.

Menschenrecht auf Freizügigkeit ungeteilt verwirklichen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Asylsuchende und Geduldete werden in der Bundesrepublik Deutschland erheb-
lich in ihren Möglichkeiten beschränkt, sich frei zu bewegen bzw. ihren Wohn-
sitz selbst zu bestimmen. Menschen, die vor undemokratischen Regimes und
Diktaturen geflohen sind, zu deren Repertoire der Unterdrückungsinstrumente
immer auch die Einschränkung der Bewegungsfreiheit gehört, sehen sich in
Deutschland erneut mit einer menschenrechtswidrigen Verletzung ihrer Selbst-
bestimmung konfrontiert. Mit der Residenzpflicht hat die Bundesrepublik
Deutschland ein landesweites System der Aufenthaltsbeschränkung etabliert,
das in Europa einzigartig ist und das insbesondere die Betroffenen an
schlimmste Zeiten der Apartheid in Südafrika erinnert, in denen aus rassisti-
schen Motiven der Aufenthalt der schwarzen Bevölkerung auf bestimmte Zonen
des Landes beschränkt wurde.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf vorzulegen, um

a) die so genannte Residenzpflicht für Asylsuchende (§§ 56 bis 58, 85 und 86
des Asylverfahrensgesetzes),

b) die Beschränkung des Aufenthalts von Geduldeten bzw. Ausreisepflichtigen
auf das ihnen zugewiesene Bundesland (§§ 12 und 61 des Aufenthaltsgeset-
zes – AufenthG) und

c) wohnsitzbeschränkende Auflagen für subsidiär Schutzberechtigte und andere
aus humanitären Gründen Bleibeberechtigte (§ 12 AufenthG und § 23 Ab-
satz 5 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch i. V. m. den §§ 23, 23a, 24
Absatz 1 oder § 25 Absatz 3 bis 5 AufenthG)

ersatzlos zu streichen.
Berlin, den 30. Juni 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Drucksache 17/2325 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Begründung

Das Recht auf Freizügigkeit ist ein hohes Gut. Es ist unabdingbar, um das Recht
auf freie Entfaltung der Persönlichkeit zu verwirklichen. Die Betätigung in Ver-
einen und Verbänden, die Vereinigung zu kulturellen und politischen Zwecken
und die aktive Beteiligung an der Zivilgesellschaft kommen ohne Bewegungs-
freiheit nicht aus. Wer Menschen diese fundamentalen Rechte nimmt, der will
ihren Ausschluss aus der Gesellschaft, der will den Betroffenen und der Gesell-
schaft klar machen, dass die derart Ausgegrenzten nicht dazugehören und nicht
gleichberechtigt sind. Zu dieser Gruppe von Ausgeschlossenen gehören in
Deutschland insbesondere Asylsuchende sowie geduldete und ausreisepflichtige
Menschen, die zumeist bereits seit vielen Jahren hier leben. Für sie gilt die so
genannte Residenzpflicht: Sie dürfen sich außerhalb einer bestimmten, ihnen
zugewiesenen Zone nur mit einer Verlassenserlaubnis und nur für kurze Zeit
aufhalten. Sogar anerkannte, subsidiär schutzberechtigte Flüchtlinge und Men-
schen mit einem humanitären Bleiberecht unterliegen Aufenthaltsbeschränkun-
gen, weil ihnen eine Wohnsitznahme nur in dem ihnen zugewiesenen Gebiet er-
laubt ist, solange sie auf Sozialleistungen angewiesen sind.

Die Residenzpflicht wurde 1982 als Teil des Asylverfahrensgesetzes eingeführt.
Hatte das Gesetz insgesamt zum Ziel, auf der Ebene des Verfahrensrechts den
Zugang zu Asyl in Deutschland zu erschweren, setzte die Einführung der Resi-
denzpflicht ganz unverhohlen auf Abschreckung. Asylsuchende sollten durch
die Perspektive, über Jahre hinweg während des Anerkennungsverfahrens in ih-
rem Aufenthalt auf die Stadt oder den Landkreis der zuständigen Ausländerbe-
hörde beschränkt zu sein, von einer Flucht nach Deutschland abgehalten wer-
den. Demselben Zweck dienen auch Maßnahmen wie die Zwangsunterbringung
von Asylsuchenden in Lagern und erhebliche Einschränkungen beim Zugang
zum Arbeitsmarkt bzw. Arbeitsverbote für Asylsuchende. Diese Abschre-
ckungspolitik hat zugleich zu einer erheblichen Stigmatisierung von Flüchtlin-
gen und Schutzsuchenden beigetragen, die unter anderem zu den rassistischen
Pogromen und gewalttätigen Übergriffen zu Beginn der 90er-Jahre führte.

In der praktischen Durchsetzung der Residenzpflicht zeigt sich immer wieder ihr
stigmatisierender Charakter. Kontrollen von Aufenthaltspapieren durch die Bun-
despolizei in Bahnhöfen und im Bahnverkehr folgen klar rassistischen Mustern,
kontrolliert werden vor allem jene Menschen, die als vermeintliche „Ausländer“
ohne Aufenthalts- oder Verlassenserlaubnis erkennbar sind. In der Wahrneh-
mung von Unbeteiligten werden durch diese selektiven Kontrollmaßnahmen
und Festnahmen (wenn z. B. keine Verlassenserlaubnis vorliegt) rassistische
Vorbehalte gegenüber angeblich „kriminellen Ausländern“ bestätigt. Selektive
Personenkontrollen signalisieren der Öffentlichkeit, dass es sich bei den betrof-
fenen Gruppen um legitime Objekte von Misstrauen und Vorbehalten handelt,
die zudem der steten Kontrolle bedürfen. Die staatliche Autorität wirkt damit
zumindest indirekt am Fortbestehen von rassistischen Denk- und Deutungs-
mustern mit. Auch auf die beteiligten Beamtinnen und Beamten haben diese
Kontrollen negative Auswirkungen. Sie sind beständig mit Menschen konfron-
tiert, die sich vollkommen zu Recht gegen ihre diskriminierende Behandlung zur
Wehr setzen und gegenüber der Polizei mitunter entsprechend „renitent“ auftre-
ten. Flüchtlingsräte und Selbstorganisationen von Flüchtlingen dokumentieren
regelmäßig einen unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt gegen Menschen,
die sich gegen eine solche Art von Personenkontrollen zur Wehr setzen und
Widerspruch erheben. Tatsächlich wird mit der Residenzpflicht „Ausländerkri-
minalität“ in hohem Maße erst produziert. Ein Viertel aller ausländerrechtlichen
Delikte geht auf Verstöße gegen die Residenzpflicht zurück, so Beate Selders in
einer Untersuchung für den Flüchtlingsrat Brandenburg und die Humanistische
Union („Keine Bewegung! Die ,Residenzpflicht‘ für Flüchtlinge – Bestands-

aufnahme und Kritik“, Berlin 2009). Pro Jahr gibt es demnach mehrere hundert
Verurteilungen zu Geldstrafen über 30 Tagessätzen oder sogar Freiheitsstrafen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/2325

Für die Betroffenen bedeuten diese Verurteilungen häufig auch, dass humanitäre
Härtefall- und Bleiberechtsregelungen für sie deshalb nicht mehr zugänglich
sind, obwohl sie ansonsten alle Kriterien erfüllen und somit durchaus eine
Chance auf ein Bleiberecht hätten.

Die Residenzpflicht ist in Europa einmalig. Nur Slowenien und Österreich ver-
fügen über ähnliche Instrumente, aber kein Land sieht eine Einschränkung der
Bewegungsfreiheit für die gesamte Dauer des Asylverfahrens und darüber hin-
aus vor. Die Bundesregierung hat leider „erfolgreich“ eine Regelung in die so
genannte EU-Aufnahmerichtlinie hineinverhandelt, die räumliche Beschrän-
kungen auf nationaler Ebene zulässt – auch wenn fraglich ist, ob die strenge
deutsche Praxis mit der Richtlinie vereinbar ist.

In einigen Bundesländern werden derzeit die Beschränkungen der Bewegungs-
freiheit gelockert. So bringen die Länder Berlin und Brandenburg Verbesserun-
gen für Flüchtlinge auf den Weg, soweit es auf Landesebene möglich ist. In Bay-
ern wurden Residenzpflichtbereiche für Asylsuchende von den Landkreisen auf
die Regierungsbezirke vergrößert. Die Regierungen Berlins und Brandenburgs
wollen außerdem eine Bundesratsinitiative zur Lockerung der gesetzlichen
Grundlagen einbringen. Doch das können nur erste Schritte auf dem Weg zu
einer gänzlichen Abschaffung der Residenzpflicht sein.

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