BT-Drucksache 17/2277

Visakodex und Visumverfahren

Vom 23. Juni 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2277
17. Wahlperiode 23. 06. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Jan van Aken, Christine Buchholz, Wolfgang
Gehrcke, Annette Groth, Andrej Hunko, Ulla Jelpke, Harald Koch, Petra Pau, Jens
Petermann, Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

Visakodex und Visumverfahren

Angehörige der Staaten der Europäischen Union benötigen zur Einreise in die
Bundesrepublik Deutschland kein Visum. Alle übrigen Ausländerinnen und
Ausländer sind für Aufenthalte in Deutschland grundsätzlich visumpflichtig.
Kraft Gesetzes (§ 71 Absatz 2 des Aufenthaltsgesetzes) sind die Botschaften
und Generalkonsulate (Auslandsvertretungen) der Bundesrepublik Deutsch-
land für die Visumerteilung verantwortlich.

§ 77 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) sieht in Absatz 2 vor, dass „Die Ver-
sagung und die Beschränkung eines Visums und eines Passersatzes vor der Ein-
reise […] keiner Begründung und Rechtsbehelfsbelehrung [bedürfen]; die Ver-
sagung an der Grenze bedarf auch nicht der Schriftform“. In der Konsequenz ist
das für Betroffene oftmals verheerend. Sie investieren in Verpflichtungserklä-
rungen, Visagebühren, Reisekrankenversicherungen, Unterlagen, Reisen zur
jeweiligen Botschaft etc. und erhalten im Falle einer Ablehnung am Ende nur ein
Schreiben, in dem steht, dass kein Visum erteilt wird und diese Entscheidung
keiner Begründung bedarf. So wird auch nicht erkennbar, an welchem der vielen
möglichen Aspekte (Einkommen, Sicherheitsbedenken, Rückkehrwahrschein-
lichkeit, fehlende Unterlagen usw.) dies gelegen haben mag. Die einzige, unzu-
reichende Möglichkeit ist, gegen die Entscheidung der jeweiligen Auslandsver-
tretung zu „remonstrieren“, viele Betroffene erfahren von den Gründen einer
Ablehnung auch erst indirekt im Rahmen einer Petition an den Deutschen Bun-
destag.

Zweifel an der Verfassungskonformität dieser Regelung werden beispielsweise
in der Kommentierung von Günter Renner geltend gemacht (Ausländerrecht –
Kommentar, Verlag C. H. Beck, München, 8. Aufl. 2005, § 77, Rn. 6 bis 8).
Dass es bei der Versagung eines Visums keiner Begründung bedarf, ist demnach
eine einschneidende Einschränkung rechtsstaatlicher Verfahrensweisen, da die
in Deutschland sonst üblichen Anforderungen an rechtsstaatliche Verfahrens-
weisen außer Acht gelassen werden. Insbesondere, weil die Kontrolle der Zu-
wanderung durch die Visumpflicht vorverlagert und weitgehend den Auslands-
vertretungen sowie Grenzbehörden überlassen wird, hätte es nach Renner nahe
gelegen, die auch schon früher geltenden Restriktionen (§ 23 des Ausländer-
gesetzes von 1965) zu überdenken und zu korrigieren.

Ausländischen wie deutschen Staatsangehörigen ist ein effektiver Rechtsschutz
gegen Maßnahmen staatlicher Gewalt grundrechtlich garantiert (Artikel 19 Ab-
satz 4 des Grundgesetzes; zum Rechtsschutz für Ausländer siehe Bundesver-
fassungsgericht 67, 43). Unabhängig davon, ob der Verwaltungsakt im Inland
erlassen und bekannt gegeben wird oder im Ausland oder an der Grenze, gelten

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die vom Grundgesetz gewährleisteten verfahrensrechtlichen Menschenrechte.
Der Versuch, Rechtsschutz zu erlangen, wird aber ohne Kenntnis und schriftli-
che Mitteilung der Gründe für einen rechtsverweigernden oder sonst eingreifen-
den Verwaltungsakt von vornherein erheblich erschwert. Ausländerinnen und
Ausländer sind so der Gefahr ausgesetzt, zum bloßen Objekt des Verfahrens zu
werden.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie ist der Stand der Umsetzung der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 vom
13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft?

2. Welche wesentlichen Änderungen für die deutsche Visumpraxis und deut-
sches Recht ergeben sich aus der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 bzw. wur-
den bereits ergriffen, insbesondere auch in Hinblick auf die nach Artikel 32
Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 vorgesehene Begründung einer
Visumverweigerung mit Hilfe eines Standardformulars?

3. Hält die Bundesregierung das nach der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 zu
verwendende Standardformular nach Anhang VI angesichts der dort nur vor-
gesehenen Möglichkeit des Ankreuzens ohne konkreten Bezug zum Einzel-
fall für geeignet und sachgerecht, und genügt dies insbesondere üblichen
rechtsstaatlichen Anforderungen an die Begründung behördlicher Entschei-
dungen (bitte ausführen und begründen)?

a) Gibt es – über das Ankreuzen hinaus – gegebenenfalls die Möglichkeit
einer individuellen, einzelfallbezogenen Begründung, und wenn ja, wie,
und in welchen Fällen?

b) Inwieweit wird die Begründungsform des Ankreuzens insbesondere zu
den Punkten 8 und 9 des Standardformulars für sachgerecht und ausrei-
chend erachtet, insofern die dort vorgegebenen Kurzbegründungen für
eine Ablehnung (Informationen zum Zweck des beabsichtigten Aufent-
halts waren nicht glaubhaft; Absicht, rechtzeitig wieder auszureisen,
konnte nicht festgestellt werden) zwingend mit Bezügen zum Einzelfall
verbunden werden müssten, um nachvollziehbar zu sein?

c) Inwieweit hält die Bundesregierung insbesondere in solchen Fällen, in de-
nen besondere oder auch grundrechtlich geschützte persönliche Interessen
betroffen sind, eine Begründung der Ablehnung durch Ankreuzen der
Standardvorgaben ohne konkreten Bezug zum Einzelfall für ausreichend?

4. Welche genaueren Vorgaben, interne, Hinweise, Rundschreiben und Prak-
tiken gibt es zu der Prüfung der Einreisevoraussetzungen nach Artikel 21
Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009, insbesondere zu den Punkten

a) „Risiko der rechtswidrigen Einwanderung“,

b) Absicht der rechtzeitigen Ausreise und

c) „Gefahr für die Sicherheit der Mitgliedstaaten“?

5. Beabsichtigt die Bundesregierung auch bei Visaverfahren in nationaler Zu-
ständigkeit, eine schriftliche Begründungspflicht bei Ablehnungen einzufüh-
ren, wenn ja, wann und in welcher Form, und wenn nein, welche Gründe
sprechen ihrer Ansicht nach hiergegen?

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6. Wie wird in der deutschen Visumpraxis das Urteil des Oberverwaltungsge-
richts Berlin-Brandenburg vom 18. Dezember 2009 – 3 B 6.09 – umgesetzt,
wonach die eine Visumablehnung begründenden „Zweifel an der Rückkehr-
bereitschaft ein solches Gewicht haben müssen, dass die anzustellende
Rückkehrprognose negativ ausfällt, weil die Wahrscheinlichkeit eines beab-
sichtigten dauerhaften Verbleibs des Ausländers im Bundesgebiet wesent-
lich höher einzuschätzen ist als die Wahrscheinlichkeit seiner Rückkehr“,
und ist es in der gegenwärtigen Praxis nicht so, dass bereits dann eine Ab-
lehnung erfolgt, wenn die Wahrscheinlichkeit eines dauerhaften Verbleibs
der einer Rückkehr entspricht oder wenn sie überwiegt – jedoch nicht „we-
sentlich höher“ ist (bitte begründen, welche konkretisierenden Erlasse usw.
gibt es, wie wird gegebenenfalls eine Abweichung vom genannten Urteil
begründet)?

7. Inwieweit wird nach Auffassung der Bundesregierung durch eine fehlende
oder wenig konkrete Begründung der Visumverweigerung der Beschwerde-
und Rechtsweg für die Betroffenen erschwert, weil die konkreten indivi-
duellen Gründe der Ablehnung unklar bleiben, und welche Konsequenzen
zieht sie hieraus?

8. Inwieweit sieht die Bundesregierung die Gefahr, dass aufwändige Remons-
trations-, Gerichts- und Petitionsverfahren erst dadurch entstehen, dass die
Betroffenen keine für sie nachvollziehbare Begründung der Ablehnung
eines Visums erhalten, und welche Konsequenzen zieht sie hieraus?

9. Wie bewertet die Bundesregierung die derzeitige Visumpraxis, in der eine
Ablehnung eines Visums mangels nachgewiesener „Rückkehrbereitschaft“
regelmäßig bereits dann erfolgt,

a) wenn angeblich keine „familiäre Verwurzelung im Heimatland“ (nicht
verheiratet, keine Kinder etc.) bzw;

b) wenn angeblich keine „wirtschaftliche Verwurzelung im Heimatland“
(z. B. kein Grundbesitz, kein regelmäßiges Einkommen) vorliegt?

10. Inwieweit ist die Bundesregierung der Auffassung, dass für eine Ablehnung
genügt, wenn einer der beiden in den Fragen 9a oder 9b genannten Punkte
vorliegt, oder müssen beide Punkte vorliegen, oder müssen zusätzliche Um-
stände/Erkenntnisse hinzukommen?

11. Inwieweit sieht die Bundesregierung bezüglich der in Frage 9 dargestellten
Praxis der Ablehnung eines Visums mangels nachgewiesener „Rückkehrbe-
reitschaft“

a) die Gefahr einer Benachteiligung von unverheirateten oder kinderlosen
Menschen bzw. einer sozialen Selektion bei der Visumvergabe insbeson-
dere mit Bezug auf Länder, in denen ein regelmäßiges Beschäftigungs-
verhältnis angesichts der dortigen Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage
nicht vorausgesetzt werden kann;

b) eine Vereinbarkeit dieser Praxis mit der Rechtsprechung des Bundesver-
waltungsgerichts (BVerwG), wonach es bei der Bewertung der Rückkehr-
bereitschaft stets einer abwägenden Einzelfallprüfung bedarf und ein
pauschaler Verweis auf eine fehlende wirtschaftliche oder familiäre Ver-
wurzelung unzulässig ist (BVerwG 1 B 32/98, Beschluss vom 11. März
1998)?

12. Sofern die Bundesregierung bestreitet oder die Auffassung nicht teilt, dass
Visa-Ablehnungen häufig ausschließlich und schematisch mit einer (angeb-
lich) fehlenden familiären und/oder wirtschaftlichen Verwurzelung im Her-
kunftsland begründet werden, welche konkreten Maßnahmen ergreift sie,
um entsprechende Ablehnungen ausschließen zu können?

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13. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem Urteil 4 K
132.09V des Berliner Verwaltungsgerichts, in dem ausgeführt wird, dass es
bei der Frage der „Rückkehrbereitschaft“ keine schematischen Schlussfol-
gerungen und Bewertungen geben kann, etwa der Art, dass bereits das Feh-
len einer Ehe oder von Kindern oder eines regelmäßigen Arbeitsverhältnis-
ses oder Grundbesitzes im Herkunftsstaat als „mangelnde Verwurzelung“
und damit „fehlende Rückkehrbereitschaft“ interpretiert werden könne?

14. Inwieweit wird sich die Bundesregierung dafür einsetzen, dass Prüfungen
der „Rückkehrbereitschaft“ nach weniger strengen Kriterien erfolgen, wenn
eine Verpflichtungserklärung und Kostenübernahme einer einladenden Per-
son vorliegen, so dass dem Staat selbst im Falle einer theoretisch möglichen
Nichtausreise keine diesbezüglichen Kosten entstehen (bitte begründen)?

15. Inwieweit wird sich die Bundesregierung dafür einsetzen, dass Prüfungen
der „Rückkehrbereitschaft“ nach weniger strengen Kriterien erfolgen, wenn
in der Vergangenheit eine Ein- und Ausreise der konkreten Person problem-
los erfolgt ist (bitte begründen)?

16. Inwieweit wird sich die Bundesregierung dafür einsetzen, dass Prüfungen
der „Rückkehrbereitschaft“ nach weniger strengen Kriterien erfolgen, wenn
besonders schutzbedürftige familiäre oder persönliche Bindungen zu Perso-
nen in Deutschland vorliegen (etwa bei Besuchen naher Verwandter, bitte
begründen)?

17. Inwieweit wird sich die Bundesregierung für die Schaffung eines „Verlob-
ten-Visums“ einsetzen, das Betroffenen die Einreise und einen Kurzaufent-
halt in Deutschland erlaubt, um diesen ein näheres Kennenlernen und ein
Überprüfen ihrer Absichten zur Eheschließung und zum Zusammenleben zu
ermöglichen (bitte begründen und bei der Antwort berücksichtigen, dass
nach der derzeitigen Praxis sich Paare genötigt sehen könnten, „verfrüht“ zu
heiraten, weil sie anders ein Zusammenleben in Deutschland nicht realisie-
ren können und ein Besuchsvisum bei möglichen Eheschließungsplänen re-
gelmäßig verweigert wird)?

18. Wie hoch war die Zahl der erteilten Visa für die Jahre 2007, 2008 und 2009,
und wie hat sich diese Zahl prozentual entwickelt im Zeitraum 2000 bis
2009 (bitte immer nach Ländern aufschlüsseln)?

19. Wie hoch war die Zahl der erteilten Visa bzw. der Ablehnungen weltweit in
den Jahren 2007, 2008 und 2009, und wie haben sich diese Zahlen im Zeit-
raum 2000 bis 2009 entwickelt (bitte immer nach Kontinenten differenzie-
ren)?

Berlin, den 23. Juni 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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