BT-Drucksache 17/1798

Deutsche Mitverantwortung für den Völkermord an den Armeniern (Nachfrage zu Bundestagsdrucksache 17/824)

Vom 19. Mai 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1798
17. Wahlperiode 19. 05. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Katrin Werner, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, Andrej Hunko,
Harald Koch, Stefan Liebich und der Fraktion DIE LINKE.

Deutsche Mitverantwortung für den Völkermord an den Armeniern
(Nachfrage zu Bundestagsdrucksache 17/824)

Am 24. April 2010 gedachte die armenische Gemeinschaft weltweit des 95. Jah-
restags des Beginns der Massenvernichtung im Osmanischen Reich 1915/1916.
Eine überwältigende Mehrheit der Historiker weltweit bewertet die Massaker
als einen Genozid im Sinne der UN-Konvention von 1948 zur Verhütung und
Bestrafung des Völkermordes. Für den Verfasser dieser UN-Konvention, den
polnisch-jüdischen Juristen und Historiker Prof. Dr. Raphael Lemkin, bildeten
die Vernichtung der Armenier durch das Jungtürkenregime und der vom natio-
nalsozialistischen Deutschland verübte Holocaust am europäischen Judentum
die empirischen Prototypen eines Genozids. Dem eigenen Bericht der Kaiser-
lichen Deutschen Botschaft in Istanbul vom 4. Oktober 1916 sowie zahlreichen
unabhängigen Schätzungen zufolge fielen ca. 1,5 Millionen Armenierinnen und
Armenier dem Völkermordverbrechen zum Opfer. Neben den Armeniern wur-
den auch andere indigene Minderheiten (Aramäer/Assyrer, Griechen) massak-
riert, um das nationalistische Ziel der Jungtürken von einer ethnisch homogenen
Türkei zu verwirklichen.

Das deutsche Kaiserreich trug als wichtigster militärischer Bündnispartner des
Osmanischen Reichs eine klare Mitverantwortung für die Gräueltaten. Die
deutsche Mitverantwortung war umfassend und betraf mehrere Ebenen. Trotz
frühzeitiger und nahezu lückenloser Detailberichte deutscher Diplomaten über
den Verlauf der Deportation und die Massentötung von Zivilistinnen und Zivi-
listen intervenierte die deutsche Reichsregierung nicht mit Nachdruck bei ih-
rem türkischen Verbündeten, um die Vernichtung der armenischen Bevölkerung
abzuwenden. Im Osmanischen Reich stationiertes deutsches Militär bestätigte
seinerseits fallweise das jungtürkische Vorgehen durch die (Mit-)Unterzeich-
nung von Deportationsbefehlen. In der Stadt Urfa befehligte ein deutsches
militärisches Oberkommando sogar die Niederschlagung eines lokalen Selbst-
verteidigungsversuchs der armenischen Bevölkerung, die sich gegen ihre dro-
hende Deportation zur Wehr setzte und niedergemetzelt wurde. Deutsche
Firmen wie Philipp Holzmann AG und die Deutsche Bank AG profitierten
beim Bau der Bagdad-Bahn vom Einsatz zehntausender armenischer Zwangs-

arbeiter, die sie sich kostenlos von der osmanischen Armee „ausliehen“ und
anschließend in den sicheren Tod schickten. Darüber hinaus gewährte Berlin
führenden Verantwortlichen des Genozids, darunter der frühere osmanische
Innenminister und Großwesir (Ministerpräsident), Talaat Pascha, politisches
Asyl und Schutz vor internationaler Strafverfolgung, obwohl die Türkei nach
Kriegsende zwei Mal seine Auslieferung verlangte.

Drucksache 17/1798 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Der Deutsche Bundestag hat im Jahr 2005 in dem einstimmig verabschiedeten
Antrag „Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den
Armeniern 1915 – Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und
Armeniern beitragen“ die Taten der jungtürkischen Regierung beklagt, die zur
fast vollständigen Vernichtung der Armenier in Anatolien geführt haben, und
darin auch sein Bedauern über die „unrühmliche Rolle“ Deutschlands geäußert
(vgl. Bundestagsdrucksache 15/5689). Selbst wenn in dem Bundestagsantrag
die Begriffe „Völkermord“ oder „Genozid“ vermieden wurden, wird die
Vernichtung der Armenier ganz eindeutig im Einklang mit den Kriterien der
UN-Völkermordkonvention beschrieben. Der Deutsche Bundestag hat dem-
nach den Völkermord an den Armeniern zumindest implizit anerkannt, auch
wenn er das Verbrechen nicht bei seinem juristisch korrekten Namen nannte.

Demgegenüber antwortete die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der
Fraktion DIE LINKE. zur juristischen Bewertung der Massaker ausweichend,
dass dies „Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorbehalten bleiben
(sollte)“ (Bundestagsdrucksache 17/824). Des Weiteren erklärte sie, „dass die
Aufarbeitung der ‚tragischen Ereignisse von 1915/16‘ in erster Linie Sache der
betroffenen beiden Länder Türkei und Armenien ist“ (Bundestagsdrucksache
17/824) und die Bundesregierung diesbezüglich die Bildung einer gemein-
samen türkisch-armenischen Historikerkommission unterstütze. Mit dieser
„Sprachregelung“ fällt die Bundesregierung nicht nur weit hinter den Be-
schlusstext des Bundestagsantrags zurück, der „die organisierte Vertreibung
und Vernichtung von Armeniern“ bereits förmlich festgestellt hat (vgl. Bundes-
tagsdrucksache 15/5689), sondern sie blendet auch die oben beschriebene his-
torische Mitverantwortung Deutschlands völlig aus. Im Unterschied zur Legis-
lative spricht sich die Exekutive offensichtlich gegen die Anerkennung der
geschichtlichen Tatsachen aus. Es stellt sich daher die Frage, ob und inwieweit
sich die Bundesregierung überhaupt an den Bundestagsbeschluss gebunden
fühlt und wie sie die Verständigung zwischen Türken und Armeniern fördern
möchte, wenn sie selbst nicht gewillt ist, die Massaker als Völkermord zu be-
zeichnen und den deutschen Schuldanteil an diesem Verbrechen vorbehaltlos
anzuerkennen?

Mit ihrer Haltung entmutigt die Bundesregierung insbesondere die zivilgesell-
schaftlichen Kräfte in der Türkei, die sich für eine kritische Geschichtsaufarbei-
tung einsetzen und die am 24. April 2010 in Istanbul auf öffentlichen Gedenk-
veranstaltungen ihre Anteilnahme am Schicksal der Armenier und die Verurtei-
lung der Verbrechen von 1915 eindrucksvoll zum Ausdruck brachten. Mit ihrer
Unterstützung des Vorschlags der Türkei zur Einsetzung einer türkisch-armeni-
schen Historikerkommission (vgl. Bundestagsdrucksache 17/824) ignoriert die
Bundesregierung zudem die Ergebnisse jahrzehntelanger seriöser wissenschaft-
licher Forschung. Sie erleichtert dadurch den Völkermord leugnenden Kräften
auch in der Bundesrepublik Deutschland, unter Berufung auf die Meinungs-
freiheit, die Vernichtung der Armenier als einen vorgeblichen Akt nationaler
Selbstverteidigung zu rechtfertigen. Erst kürzlich konnte der prominente US-
amerikanische Genozidleugner Justin McCarthy im Rathaus Charlottenburg-
Wilmersdorf von Berlin seine, den Völkermord rechtfertigenden, Thesen propa-
gieren. Während in anderen Staaten die Leugnung des Völkermords pönalisiert
wird, überlässt es die Bundesregierung weiterhin den Nachkommen der Opfer
selbst, mit den psychischen Folgen der Leugnung fertig zu werden.

Vor diesem Hintergrund besteht erheblicher Klärungsbedarf über die Haltung
der Bundesregierung zu den geschichtlichen Tatsachen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1798

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie bewertet die Bundesregierung die Echtheit des umfangreichen Akten-
materials im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts über die Vorgänge
im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs, und hält sie diese
Dokumentensammlung für ausreichend, um die Deportationen und Massa-
ker an den Armeniern nach den Kriterien der UN-Völkermordkonvention zu
bewerten?

a) Falls ja, weshalb ist die Bundesregierung in ihrer Antwort zu Frage 11
der Kleinen Anfrage der Fraktion DIE LINKE. (Bundestagsdrucksache
17/824) darauf nicht eingegangen?

b) Falls nein, worauf gründen sich ihre Zweifel an der Echtheit der Akten-
stücke im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts, und weshalb hat die
Bundesregierung dann Kopien der Dokumente der Türkei übergeben
(vgl. Bundestagsdrucksache 15/5689)?

2. Wie bewertet die Bundesregierung die vorliegenden Ergebnisse wissen-
schaftlicher Forschung zur Rolle des deutschen Kaiserreichs bei der Ver-
nichtung der osmanischen Armenier, und welche politische Konsequenzen
zieht sie daraus

a) hinsichtlich eines offiziellen Eingeständnisses einer nach der UN-Völker-
mordkonvention strafrelevanten, politischen Mitschuld Deutschlands an
der Vernichtung der Armenier durch Billigung, Beihilfe, Mittäter- und
Nutznießerschaft,

b) hinsichtlich der Überprüfung und Unterstützung möglicher Entschädi-
gungsleistungen für Familien von ehemaligen armenischen Zwangsarbei-
tern, die von deutschen Firmen im Osmanischen Reich beim Bau der
Bagdad-Bahn unter sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen schonungslos
ausgebeutet wurden,

c) hinsichtlich der Bereitschaft, einen politischen Beitrag zur Wiedergutma-
chung zu leisten, beispielsweise im Rahmen eines gemeinsamen deutsch-
armenischen Stiftungsprojekts,

d) hinsichtlich der Verpflichtung, gemäß dem Bundestagsantrag aus dem
Jahr 2005 im Rahmen demokratischer Bildungspolitik über die politi-
schen Hintergründe der Verbrechen an den Armeniern und die historische
Mitverantwortung Deutschlands die Schülerinnen und Schüler auch hier-
zulande aufzuklären (vgl. Bundestagsdrucksache 15/5689)?

3. Wie beurteilt die Bundesregierung die Zugänglichkeit der Unternehmens-
archive der früheren Philipp Holzmann AG und der Deutschen Bank AG
für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die nach den Namen von ehe-
maligen armenischen Zwangsarbeitern und dem Verbleib armenischer Ver-
mögenseinlagen forschen wollen?

4. Aus welchen Gründen unterstützt die Bundesregierung ausdrücklich den Vor-
schlag der türkischen Regierung zur Bildung einer gemeinsamen türkisch-
armenischen Historikerkommission (vgl. Bundestagsdrucksache 17/824),
und vertritt sie hierbei die Ansicht, dass die Nachkommen der Opfer einen
Beitrag zur Geschichtsaufarbeitung in der Türkei leisten müssten?

5. Welche Position vertritt die Bundesregierung hinsichtlich einer alternativen,
aus türkischen und deutschen Vertretern zusammengesetzten Historiker-
kommission, die sich vor Ort in der Türkei der Erforschung und Auf-
arbeitung des Völkermords widmet, und würde die Bundesregierung dies-
bezüglich ggf. der Türkei ihre politische Mitwirkungsbereitschaft signalisie-

ren?

Drucksache 17/1798 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
6. Wie beurteilt die Bundesregierung das Rechtsgutachten, das die mit Wissen
und Billigung der türkischen Regierung im Jahr 2001 kurzzeitig gebildete
Turkish Armenian Reconciliation Commission beim International Center
for Transitional Justice zur Anwendbarkeit der UN-Völkermordkonvention
auf die Massaker und Deportationen im Osmanischen Reich 1915/1916 in
Auftrag gegeben hat?

7. Welche eigene Position vertritt die Bundesregierung zur Anwendbarkeit
der UN-Völkermordkonvention im vorliegenden Fall, und wie bewertet sie
selbst die Deportationen und Massaker an den Armeniern 1915/1916 aus
juristischer Sicht?

8. Welche Möglichkeiten bietet aus Sicht der Bundesregierung gegenwärtig
das deutsche Strafrecht, um die Nachkommen der Opfer vor den Folgen
der Genozidleugnung zu schützen?

9. Was gedenkt die Bundesregierung zu unternehmen, um künftig zu ver-
hindern, dass politische Institutionen in der Bundesrepublik Deutschland
zur Genozidleugnung missbraucht werden können?

10. Könnte nach Einschätzung der Bundesregierung die Pönalisierung der
Völkermordleugnung als eigenständiger Tatbestand ein geeignetes Mittel
sein, um den Opferschutz in der Bundesrepublik Deutschland zu verbessern
(bitte begründen)?

Berlin, den 19. Mai 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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