BT-Drucksache 17/1714

Zukunft des Schengener Informationssystems nach dem erwarteten Scheitern von SIS II

Vom 12. Mai 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1714
17. Wahlperiode 12. 05. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jan Korte, Ulla Jelpke, Harald Koch, Thomas Nord, Petra Pau,
Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Zukunft des Schengener Informationssystems nach dem erwarteten Scheitern
von SIS II

In ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. „Kosten des
Schengener Informationssystems der zweiten Generation“ (Bundestagsdruck-
sache 17/1354) stellt die Bundesregierung „erhebliche Mängel in der grund-
legenden Architektur des Systems“, die eine „mangelnde Stabilität, mangelnde
Performanz, erratische Verhalten, Fehleranfälligkeit“ von SIS II (Schengener In-
formationssystem der zweiten Generation) bestätigten, fest. Zu den technischen
Problemen des SIS II (veralteter nicht erweiterbarer technischer Ansatz, Inkom-
petenz des Vertragsnehmers) kämen auch noch Managementfehler der Kommis-
sion. Da die Bundesregierung den Meilensteintest als „nicht bestanden“ ansieht,
weil in zwei Testläufen zumindest ein „K.o.-Kriterium“ aus den Ratsschlussfol-
gerungen vom Juni 2009 nachweislich verletzt wurde (Einhaltung der Antwort-
zeiten für Suchanfragen, Verletzung des Service Level Agreements – SLA), ob-
wohl der Test nicht unter operativen Bedingungen durchgeführt wurde, plädiert
sie für den Abbruch des Projekts. Da aber derzeit die Mehrheit der Mitgliedstaa-
ten lediglich einer Protokollerklärung, nicht aber einer „dissenting opinion“ in
den Ratsschlussfolgerungen zustimmen wollen, ist die Zukunft nach fast zehn
Jahren Arbeit an SIS II weiter unklar (vgl. Vorbericht zum Rat der Justiz- und
Innenminister am 22./23. April 2010 in Luxemburg).

Aus dem Nachbericht der genannten Ratssitzung vom 27. April 2010 ergibt sich,
dass die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich und Österreich mit ihrer deut-
lichen Kritik erneut in der Minderheit blieben. Der Vorsitz stellte das Erreichen
der wichtigsten Testziele fest und will das Projekt SIS II offensichtlich auf der
bisherigen technischen Basis und Managementbasis weiter verfolgen. Erstaun-
licherweise enthielten sich die deutschen Vertreter in der Abstimmung des
Gemeinsamen Ausschusses (Ausschussdrucksache 17(4)44).

Ungeachtet der „Zweifel an der Realisierbarkeit auf der aktuellen technischen
Basis in angemessenem Zeit- und Finanzrahmen“ von SIS II (ebenda) verfolgt
die Bundesregierung die Zusammenführung des Managements der drei bisher
bedeutendsten Datensysteme – SIS II, Visa-Informationssystem (VIS) und das
europäische Fingerabdrucksystem (EURODAC) – in einer gemeinsamen, eigen-

ständigen europäischen Agentur (Agentur für das Betriebsmanagement von IT-
Großsystemen im Bereich Freiheit, Sicherheit und Recht). Fragwürdig ist das
insofern, als SIS II von Umfang und Bedeutung her als das Kernstück der drei
bisher auf Managementebene zu integrierenden IT-Großsysteme angesehen
werden kann.

Drucksache 17/1714 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Für die Errichtung dieser Agentur liegt jetzt ein von der Kommission nach den
Vorgaben des Vertrags von Lissabon aktualisierter Vorschlag vor (Ratsdok. 8151
vom 6. April 2010). Es besteht durchaus die Gefahr, dass in das Projekt einer
gemeinsamen Agentur von Anfang an die technischen Mängel und finanziellen
Risiken in Millionenhöhe aus dem SIS-II-Projekt mitgeschleppt werden.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Gilt die Zusage Irlands, Großbritanniens und Zyperns, am Schengener Infor-
mationssystem erst ab SIS II teilzunehmen, auch für SIS I+RE (R = Renewal,
E = Evolution)?

Wenn nein, warum nicht?

2. Aus welchen Gründen haben sich die deutschen Vertreter bei der Entschei-
dung um die Fortführung von SIS II auf der bisherigen technischen Basis ent-
halten und somit die Fortführung des von ihr als gescheitert bezeichneten
Projekts ermöglicht?

3. Welche Firmen und Unternehmen waren einzeln oder in Kooperation an der
Entwicklung der technischen Basis und des Betriebsmanagements von SIS
seit der Auftragserteilung 2001 mit welchen jeweiligen Aufgaben beteiligt
(bitte Firmen und Aufgaben konkret aufführen)?

4. Welche Auftragnehmer sind aus Sicht der Bundesregierung für die Hauptpro-
bleme, wie

– Überalterung des gewählten technischen Ansatzes,

– die zu hohe technische Komplexität des Ansatzes, der nicht erweiterbar
ist und deshalb der Ausschreibung widerspricht (siehe Bundestagsdruck-
sache 17/1354)

verantwortlich?

5. Wer ist politisch und operativ verantwortlich für die Wahl eines Auftragneh-
mers, der die Forderungen der Ausschreibung nicht erfüllte oder erfüllen
konnte und offensichtlich Probleme hat, „die von ihm ausgewählten techni-
schen Produkte zu beherrschen (z. B.: Datenbank Oracle, Middleware Bea
Weblogic)“ (Bundestagsdrucksache 17/1354), und um welchen Auftragneh-
mer handelt es sich hier?

6. Wer ist aus Sicht der Bundesregierung politisch und operativ verantwortlich
für Managementfehler, wie „beispielsweise das Abnehmen von vertraglichen
Testphasen trotz gravierender Fehler, reaktives Vertragsmanagement und
(den) Verzicht auf Vertragsstrafen trotz Nichteinhaltung vereinbarter Liefe-
rungen durch den Vertragsnehmer“ (siehe ebenda)?

7. In wie vielen Fällen wären nach Ansicht der Bundesregierung Vertragsstrafen
in welcher Höhe gegen welche Auftragnehmer fällig bzw. überlegenswert ge-
wesen?

8. Welche Schritte haben die Bundesregierungen unternommen, um im Laufe
der neun Jahre seit Auftragserteilung durch die Kommission technische Feh-
ler und Fehler des Managements, wie sie in den Fragen 4 bis 7 angesprochen
sind, zu beheben?

9. In welchen Berichten an den zuständigen Innenausschuss des Deutschen
Bundestages wurden die Abgeordneten konkret über die in den Fragen 4 bis 7
genannten Probleme, sowie die in der Antwort auf die Kleine Anfrage der
Fraktion DIE LINKE. (Bundestagsdrucksache 17/1354) genannten weiteren
Schwierigkeiten informiert?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1714

10. Welche der in den Fragen 4 bis 7 angesprochenen Firmen, Auftragnehmer
und Verantwortliche sind zurzeit noch an der Entwicklung von SIS II betei-
ligt, welche waren bzw. sind an der Entwicklung des von der Bundes-
regierung favorisierten französischen Produkts beteiligt?

11. Hat die Kommission überlegt, ob sie Entschädigung von den Auftragneh-
mern oder dem Auftragnehmer für nicht eingehaltene Zusagen in zeitlicher,
technischer und finanzieller Hinsicht einfordert, beziehungsweise gedenkt
sie das zu tun, beziehungsweise hat die Bundesregierung versucht, in der
Kommission solche Entschädigungsforderungen oder Vertragsstrafen
durchzusetzen?

Wenn nein, warum nicht?

12. Zu welchen nachweisbaren, materiellen Sicherheitslücken hat die Nicht-
inbetriebnahme von SIS II seit der EU-Osterweiterung (EU = Europäische
Union) geführt?

13. Werden auch Geheimdienste Zugang zu SIS I+RE haben, und wenn ja,
welche, und wie ist der Zugang der Dienste geregelt?

14. Ist es auch geplant an das SIS 1+RE, VIS und EURODAC anzukoppeln?

Wenn ja, wie hoch sind die Kosten für die technische Umstellung oder
Überarbeitung der genannten Systeme für den EU-Haushalt und den Bun-
deshaushalt?

15. Werden über den EU-Haushalt oder den Bundeshaushalt Zahlungen an
Frankreich getätigt für das im Alleingang entwickelte SIS 1+?

Wenn ja, wie hoch sind diese?

16. Welche Veranlassung hatte Frankreich, eigenständig ein alternatives Sys-
tem zu konzipieren und einzusetzen, und wann hat Frankreich damit begon-
nen?

17. Gab es hierfür einen Auftrag durch die Kommission, den Rat, die franzö-
sische Regierung?

Wenn ja, warum wurde dieser Auftrag ausgelöst, und zu welchem Zeit-
punkt geschah dies?

18. Mit welchen Argumenten hält die Bundesregierung angesichts der wieder-
holt festgestellten Unsicherheiten in technischer, finanzieller und zeitlicher
Hinsicht von SIS II den Aufbau der Agentur für das Betriebsmanagement
von IT-Großsystemen ab Januar 2012 weiterhin für sinnvoll und machbar?

19. Welche massiven datenschutzrechtlichen Bedenken haben die Ansiedlung
der Systeme SIS II, VIS und EURODAC bei einem Mitgliedstaat oder
FRONTEX (Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den
Außengrenzen) oder EUROPOL (Europäisches Polizeiamt) anstelle des
Aufbaus einer eigenständigen Agentur verhindert?

20. Für welche weiteren IT-Systeme könnte die neue Agentur möglicherweise
zuständig werden, wie es die Bundesregierung als weitere Ziele der Verord-
nung zum Aufbau der Agentur (Ratsdok. 8151/10) angibt?

21. Welche Art Forschungsprojekte und Pilotprojekte beziehungsweise welche
konkreten Projekte sollen im Rahmen der Agentur zusätzlich zum Betriebs-
management der IT-Systeme angegangen werden?

Berlin, den 12. Mai 2010
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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