BT-Drucksache 17/1513

Deutsche Entwicklungszusammenarbeit, ziviler Wiederaufbau und zivil-militärische Zusammenarbeit in Afghanistan

Vom 23. April 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1513
17. Wahlperiode 23. 04. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Heike Hänsel, Jan van Aken, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth,
Inge Höger, Andrej Hunko, Harald Koch, Niema Movassat, Alexander Ulrich,
Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Deutsche Entwicklungszusammenarbeit, ziviler Wiederaufbau
und zivil-militärische Zusammenarbeit in Afghanistan

Auf der Afghanistan-Konferenz in London im Januar 2010 sagte die Bundes-
regierung zu, die Mittel für den zivilen Aufbau auf jährlich 430 Mio. Euro zu
erhöhen und sie damit zu verdoppeln. Wie der Bundesminister für wirtschaft-
liche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, ankündigte, sollen allein
im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(BMZ) die Mittel für Afghanistan auf jährlich 250 Mio. Euro angehoben wer-
den.

Seit 2002 leistet die Bundesregierung mit den Durchführungsorganisationen
Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) GmbH, Deut-
scher Entwicklungsdienst gGmbH (DED), KfW Bankengruppe und Inwent – In-
ternationale Weiterbildung und Entwicklung gGmbH Entwicklungshilfe in
Afghanistan, vor allem in den nördlichen Provinzen. Zudem werden im Rahmen
der zivil-militärischen Zusammenarbeit (CIMIC) im Rahmen des Begriffs der
„vernetzten Sicherheit“ mit Bundeswehrkooperation Aufbauprojekte durchge-
führt. Auch eine große Zahl an nichtstaatlichen Entwicklungsorganisationen
(NRO) betreibt in Afghanistan Projekte, die teilweise vom BMZ finanziert
werden.

Laut einer Umfrage von Oxfam zu den Konfliktursachen in Afghanistan
betrachtet die Bevölkerung Afghanistans nach den Konflikten um Land den
Zugang zu Wasser als den zweitwichtigsten Kriegsgrund, noch vor den Warlords
und familiären Konflikten. Der mangelnde Zugang zu sauberem Trinkwasser
zieht vermeidbare Krankheiten wie Tuberkulose, Durchfall und Cholera nach
sich. Formal ist das staatliche Wasserversorgungsunternehmen CAWSS (Central
Authority for Water Supply and Sanitation) für den Betrieb der gesamten Was-
serversorgung Afghanistans zuständig. Der DED betreibt in den Städten Kabul,
Herat und Kundus Vorhaben zum Schwerpunkt Wasser.

Auf der Homepage des DED heißt es, dass mit der afghanischen Regierung als
Arbeitsschwerpunkt die Verbesserung der Energieversorgung vereinbart wurde,

die dazu beitragen soll, ein geeignetes Unternehmensumfeld für die Entwick-
lung des Privatsektors zu schaffen.

Sowohl im Afghanistan Compact (London 2006) als auch in der Afghanistan
National Development Strategy (ANDS, 2008) wurden konkrete Ziele for-
muliert, die bis zu einem definierten Zeitpunkt erreicht werden sollen. Trotz der
hohen Aufwendungen, die bislang für den Aufbau in Afghanistan betrieben
wurden, kritisierten Entwicklungsexperten, dass die bisher erzielten Entwick-

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lungsfortschritte gering seien und das Land weiter unter chronischen Entwick-
lungsdefiziten leide. Afghanistan liegt auf Platz 181 und damit auf dem vorletz-
ten Platz des Human Development Index (HDI). Zudem wird bemängelt, dass
der Umfang der Mittel, die für den zivilen Aufbau in Afghanistan bereitgestellt
werden, nur ein Bruchteil dessen ist, was von Deutschland für den militärischen
Einsatz ausgegeben wird (bislang im Verhältnis circa eins zu vier, seit kurzem
etwa im Verhältnis eins zu zwei).

Entwicklungsorganisationen kritisieren eine fehlende Einbindung der Zivilge-
sellschaft in vorhandene Projekte sowie den großen Anteil von Mitteln, welche
in die Taschen von korrupten Politikern und Warlords fließen, nicht aber bei der
afghanischen Bevölkerung ankommen.

Eine offizielle Bilanz der Bundesregierung über den Erfolg oder Misserfolg der
durchgeführten und geförderten Projekte bleibt trotz der festgelegten Ziele bis-
lang aus. Diese Bilanz ist allerdings unerlässlich, um Planungen für die Verwen-
dung der zukünftig erhöhten Mittel für den zivilen Aufbau durchzuführen. In
einigen Ländern wie Kanada, wo 2009 der Truppenabzug aus Afghanistan im
Jahr 2011 und die Umwidmung der Gelder für zivile Projekte beschlossen wur-
den, ist ein solcher Bericht über die Auswertung des gesamten zivilen Wieder-
aufbaus bereits Standard; dort wird das Parlament regelmäßig unterrichtet.

Charakteristisch für die zivile deutsche Hilfe in Afghanistan ist die enge Ver-
zahnung zwischen zivilen und militärischen Komponenten, die besonders am
Beispiel der zivil-militärischen Zusammenarbeit (CIMIC) deutlich wird. Ent-
wicklungsorganisationen beklagen jedoch seit Beginn von CIMIC das erhöhte
Gefahrenpotenzial, z. B. in der Nähe von Stützpunkten der Provincial Re-
construction Teams (PRT), welche ihre Entwicklungstätigkeiten teilweise sogar
verhindern. Die Unterordnung des Zivilen unter das Militärische führt zum Ver-
lust der Neutralität der zivilen Helfer und so zu schwindendem Vertrauen bei der
ansässigen Bevölkerung.

Das Afghanistan NGO Safety Office (ANSO) registrierte im Jahr 2009 insge-
samt 172 Übergriffe auf Nichtregierungsorganisationen, 16 von ihnen endeten
tödlich. Nachdem im Oktober 2009 fünf Mitarbeiter bei einem Anschlag in
Kabul ihr Leben verloren, zog die UNO mehr als die Hälfte ihrer rund 1 100 Mit-
arbeiter aus dem Land ab.

Wie in der Zeitschrift „Bundeswehr aktuell“ vom 1. Februar 2010 berichtet
wird, stellt die Bundeswehr im Rahmen des CIMIC-Programms „Cash for
Work“ in Chahar Darreh einheimische Bauern für den Aufbau von militärischen
Außenposten ein. Ziel ist die Schaffung eines sicheren Umfelds für die Bundes-
wehr, indem die Tagelöhner die Infrastruktur für die Bundeswehr und die ört-
liche Polizei verbessern. Für 10 Dollar Lohn am Tag setzen sich die ortsansäs-
sigen Arbeiter einer großen Gefahr aus, da sie durch ihre Zusammenarbeit mit
dem deutschen Militär eine erhöhte Anschlagsgefahr durch die Taliban in Kauf
nehmen.

Nach der Ankündigung des Bundesministers Dirk Niebel im Dezember 2009,
Entwicklungsorganisationen, welche nicht mit der Bundeswehr kooperieren
wollen, müssten sich „andere Geldgeber suchen“, verstärkt sich unter Entwick-
lungsfachleuten die Furcht vor einer noch stärkeren Unterordnung des Zivilen
unter das Militärische.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1513

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Plant die Bundesregierung eine umfassende Bilanz über die bisher durch-
geführten Aufbau- und Entwicklungsprojekte, welche über die regelmäßig
erscheinenden Lageberichte der Bundeswehr hinausgehen?

Wenn ja, für welchen Zeitpunkt?

Wenn nein, wie begründet es die Bundesregierung, dass es einen solchen
Bericht nicht geben soll?

2. Welche Projekte der zivilen Hilfe wurden seit Beginn des ISAF-Mandats
durchgeführt?

Welche waren die Schwerpunkte und wie hoch war die Effizienz der von
den staatlichen Durchführungsorganisationen durchgeführten Projekte
(bitte nach Projekten, Bereichen und Regionen und Höhe der finanziellen
Mittel auflisten)?

3. Inwiefern haben sich die Lebensbedingungen der Bevölkerung durch die
deutsche Entwicklungszusammenarbeit verbessert?

4. Welche Kriterien setzt die staatliche Entwicklungszusammenarbeit dies-
bezüglich an?

5. Wie hoch ist die Effektivität der geförderten Projekte hinsichtlich der
sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung in Afghanistan (bitte nach den
objektiven Parametern Kinder- und Müttersterblichkeit, Analphabetenrate,
Arbeitslosenrate, Lebenserwartung – Vergleich 2002 und 2009 – auflisten)?

6. Wie hoch ist die Effizienz der eingesetzten Mittel?

7. Wie hoch ist der Anteil der Verwaltung, der Sachmittel und der Personal-
kosten der Durchführungsorganisationen an den Gesamtausgaben der ein-
gesetzten Mittel?

8. Wie sind die Einkommensentwicklung und Einkommensverteilung in
Afghanistan seit 2002?

Wie viel haben ein Lehrer, ein Arzt, ein Polizist, eine Krankenschwester, ein
einheimischer NGO-Mitarbeiter und ein ausländischer NGO-Mitarbeiter
2002 verdient?

Wie viel haben ein Lehrer, ein Arzt, ein Polizist, ein einheimischer NGO-
Mitarbeiter und ein ausländischer NGO-Mitarbeiter 2009 verdient?

9. Wie viele Gelder sind bisher in das Nationale Solidaritätsprogramm und in
den regionalen Entwicklungsfonds geflossen vor dem Hintergrund der
Kritik nichtstaatlicher Entwicklungsorganisationen, der deutschen Hilfe in
Afghanistan mangele es oft daran, die Projekte mehr an den Bedürfnissen
der betroffenen Afghaninnen und Afghanen auszurichten (bitte auflisten
nach Jahr, Region und Projekt)?

10. Wie viel Geld hat die Bundesregierung in diesem Jahr für diese beiden Pro-
gramme eingeplant?

Wofür sollen die neuen Mittel verwendet werden?

11. Wie beurteilt die Bundesregierung die Wirksamkeit der bisher geleisteten
Projekte im Rahmen des Nationalen Solidaritätsprogramms und des regio-
nalen Entwicklungsfonds?

12. Wie stellt sich die Bundesregierung zur Kritik, die deutsche Entwicklungs-
hilfe flösse hauptsächlich in Regionen, die von intensiveren militärischen
Konflikten geprägt seien, und zu wenig Geld würde in abgelegene Regio-

nen investiert, die eine friedlichere Entwicklung und somit günstigere Be-
dingungen für einen erfolgreichen Wiederaufbau aufweisen?

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13. Plant die Bundesregierung, bei der Verwendung der neuen und erhöhten
Fördersumme dem Rat von Experten zu folgen und stärker abgelegene
Regionen zu berücksichtigen?

Wenn nein, wie begründet sie ihre Ablehnung?

14. In welcher finanziellen Höhe unterstützt die Bundesregierung Projekte zur
Wasser- und Energieversorgung (bitte Projekte und Projektträger nach Jahr
und Investitionssumme angeben)?

15. Unterstützt die Bundesregierung auch staatliche Projekte zur Wasserversor-
gung, z. B. im Rahmen einer Stärkung und Ausweitung des CAWSS und
somit der staatlichen Infrastruktur?

Wenn ja, in welcher Höhe (bitte auflisten nach Region, Durchführungsorga-
nisation und Höhe der finanziellen Unterstützung)?

16. Wie viele Projekte der Privatisierung in den Bereichen der Daseinsvorsorge,
insbesondere im Bereich der Wasserversorgung, wurden seit 2002 nach
Kenntnis der Bundesregierung in Afghanistan durchgeführt?

An welchen Privatisierungsprojekten waren Experten im Rahmen der deut-
schen Entwicklungszusammenarbeit beteiligt?

17. Ist vorgesehen, im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit
die Privatisierung der CAWWS zu unterstützen (bitte erläutern und begrün-
den)?

18. Liegen der Bundesregierung Informationen über geplante Privatisierungen
in anderen Bereichen, z. B. der Gesundheitsversorgung, vor?

Wenn ja, in welchen Bereichen?

19. Wie schätzt die Bundesregierung das Abwassersystem in Kabul ein?

Ist die Bundesregierung an Projekten für die Verbesserung des Abwasser-
systems in Kabul beteiligt?

Wenn ja, in welchem finanziellen Umfang?

20. Sind Projekte der Privatisierung des Abwassersystems in Kabul vorge-
sehen?

21. Hat sich nach Einschätzung der Bundesregierung die Gefährdungssituation
ziviler Akteure in Afghanistan, insbesondere derjenigen, die im Rahmen
der Provincial Reconstruction Teams agieren, in den letzten Jahren erhöht?

22. Wenn ja, teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass zivile Akteure,
die eng mit militärischen Akteuren zusammenarbeiten, einer größeren
Gefahr ausgesetzt sind, zu Angriffszielen zu werden als vom Militär unab-
hängige Akteure?

Wie begründet sie ihre Einschätzung?

23. In welcher Weise beteiligt sich die Bundeswehr direkt oder indirekt an Maß-
nahmen der humanitären Hilfe und der Entwicklungszusammenarbeit, und
welche eigenen Beiträge leistet die Bundeswehr zum Aufbauprozess?

24. In welcher Höhe werden Gelder für den Wiederaufbau für CIMIC zur Ver-
fügung gestellt?

Plant die Bundesregierung die Erhöhung der Gelder für CIMIC?

Wenn ja, in welcher Höhe?

25. Wie reagiert die Bundesregierung auf die wachsende Kritik an der zivil-
militärischen Zusammenarbeit, wie sie jüngst von deutschen Entwicklungs-

organisationen geäußert wurde, die eine Gefährdung der Sicherheit der zi-
vilen Organisationen durch die Zusammenarbeit mit dem Militär beklagen?

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26. In welcher Höhe wurden Entwicklungshilfegelder für den Bau von Bundes-
wehrbaracken verwendet?

Wie begründet die Bundesregierung die Verwendung der Mittel, die eigent-
lich für zivile Aufgaben genutzt werden sollen, die, wie in diesem Fall, aber
direkt in militärische Infrastruktur fließen?

27. In welchem Umfang betreibt die Bundeswehr „Cash-for-Work“-Projekte
wie das in Chahar Darreh (bitte nach Region, Ort und Umfang der ein-
gesetzten Mittel auflisten)?

28. Wie beurteilt die Bundesregierung das Gefährdungspotenzial der einheimi-
schen Tagelöhner in Chahar Darreh?

29. Welche Sicherheitsmaßnahmen nimmt die Bundeswehr vor, um die Tage-
löhner bei dieser für sie riskanten Arbeit zu schützen?

30. Wie evaluiert die Bundesregierung die Effizienz dieses Projekts hinsicht-
lich der langfristigen sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung dieser
Region?

31. Wurden GTZ-Projekte evaluiert, die mit Begleitung durch das Militär statt-
gefunden haben, und solche, die ohne Militär durchgeführt wurden?

Zu welchen Schlüssen kommen die Evaluierungen?

Wenn keine Evaluierung vorliegt, wie begründet die Bundesregierung dies?

Ist eine solche Evaluierung geplant?

32. Wie bewertet die Bundesregierung den Erfolg der Projekte des zivilen
Wiederaufbaus, bei denen die Bundesministerien direkt mit den staatlichen
Durchführungsorganisationen GTZ und der KfW Bankengruppe zusam-
menarbeiten und die unter dem Schutz der Bundeswehr stehen, und solcher
Projekte der staatlichen Durchführungsorganisationen, die nicht mit der
Bundeswehr kooperieren, im Vergleich?

33. Wie beurteilt die Bundesregierung das Gefährdungspotenzial für GTZ-Pro-
jekte mit Bundeswehrkooperation und für GTZ-Projekte ohne Bundeswehr-
kooperation?

34. Wie reagiert die Bundesregierung auf die Kritik von Nichtregierungsorga-
nisationen, denen der Bundesentwicklungshilfeminister angedroht hatte,
die Gelder zu entziehen, wenn sie eine Bundeswehrferne pflegen?

35. Wie soll diesbezüglich zukünftig mit der Vergabepraxis verfahren werden?

36. Gibt es eine direkte Verbindung zwischen Mittelvergabe und Zusammen-
arbeit mit der Bundeswehr?

Wie sieht diese Zusammenarbeit im gegebenen Fall aus?

Berlin, den 23. April 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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