BT-Drucksache 17/1509

Lage der demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen sowie der Menschenrechte in Afghanistan

Vom 23. April 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1509
17. Wahlperiode 23. 04. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Heike Hänsel, Jan van Aken, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth,
Inge Höger, Andrej Hunko, Harald Koch, Niema Movassat, Alexander Ulrich,
Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Lage der demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen
sowie der Menschenrechte in Afghanistan

Seit 2002 hat die internationale Staatengemeinschaft eine afghanische Regie-
rung unterstützt, welche demokratische Gesetze, rechtsstaatliche Strukturen und
menschenrechtliche Standards zwar beschließt. In der Praxis aber werden diese
Kriterien in großem Maßstab verletzt. Entwicklungs- und Menschenrechtsorga-
nisationen mahnen seit langem an, dass die demokratischen Grundrechte, insbe-
sondere Frauen- und Presserechte, endlich durchgesetzt, die demokratische Teil-
habe ermöglicht und das zivilgesellschaftliche Engagement zur Veränderung
von politischen Strukturen stärker unterstützt und in Entscheidungsprozesse ein-
gebunden werden müssen.

Der Staatsaufbau, einer der wesentlichen Legitimationsgründe für den Einsatz
des internationalen ISAF-Mandats (ISAF: International Security Assistance
Force – Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe), ist gescheitert. Das
politische und öffentliche Leben in Afghanistan ist von Korruption durchdrun-
gen. Eines der größten Defizite der Karsai-Regierung ist es, eine große Zahl an
Warlords in politische und Regierungsämter eingebunden zu haben, welche an
schwersten Menschenrechtsverbrechen in den 1980er- und 1990er Jahren betei-
ligt waren. Menschenrechtsorganisationen fordern daher von der Bundesregie-
rung, dass sie die afghanische Regierung darauf drängen muss, das Amnestiege-
setz, mit dem sich Kriegsverbrecher 2005 selbst jeder Strafverfolgung entzogen
haben, zurückzunehmen.

Die jüngsten Präsidentschaftswahlen 2009 waren von schweren Vorwürfen we-
gen Wahlfälschungen, Manipulationen und Stimmenkauf begleitet. Die demo-
kratische Legitimation der Regierung wird zusätzlich dadurch infrage gestellt,
dass die Wahlkommission im Oktober 2009 beschloss, dass der amtierende Prä-
sident Hamid Karsai ohne Stichwahl zum Sieger erklärt wurde, nachdem sich
sein Konkurrent Abdullah Abdullah zurückgezogen hatte. Viele unabhängige
Beobachter sprechen diesen Wahlen und damit der Karsai-Regierung ihre Legi-
timation ab, was ein sehr negatives Signal an die afghanische Zivilgesellschaft
aussendet.
Seit kurzem bietet Präsident Hamid Karsais Dekret vom 13. Februar 2010 zur
Änderung des Wahlgesetzes Konfliktstoff. Der Präsident erhält das Recht, alle
relevanten Institutionen zu ernennen, neben der sogenannten unabhängigen
Wahlkommission IEC nun insbesondere die Wahlbeschwerdekommission ECC.
Kritische Experten befürchten mit dieser „Afghanisierung“ der ECC eine in-
transparente Parlamentswahl am 18. September 2010 und ein hohes Risiko von
erneuten systematischen Wahlfälschungen.

Drucksache 17/1509 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Für engagierte und kritische Mitglieder der Zivilgesellschaft in Afghanistan, die
aufgrund ihres Einsatzes für Freiheits- und Menschenrechte bedroht werden, be-
stehen nach wie vor keine effektiven und wirksamen Schutzmechanismen. Men-
schenrechtsorganisationen zeichnen ein düsteres Bild von der Lage afghanischer
Menschenrechtsverteidigerinnen und kritischer Journalisten.

Beklagt werden Rechtsverletzungen im Justizsystem, eine frauenfeindliche Ge-
setzgebung, zu der nicht zuletzt das die Frauen diskriminierende Ehegesetz
gehört, gegen das international protestiert wurde und welches mit nur einigen
Veränderungen 2009 doch verabschiedet wurde.

Zu den Ansprechpartnern der Bundesregierung in Afghanistan gehören nicht
wenige Persönlichkeiten, welchen vorgeworfen wird, in der Vergangenheit an
Kriegsverbrechen beteiligt gewesen zu sein und teilweise noch immer krimi-
nelle Machenschaften zu verfolgen. Mohammad Omar, der Gouverneur von
Kundus und einer der Führer der Nordallianz, gilt als wichtiger Kooperations-
partner der Bundeswehr. Ihm wird von der Bevölkerung vorgeworfen, dass er ein
früherer Kriegsfürst mit krimineller Vergangenheit ist und in der Gegenwart mit
Korruption, Willkür und Gewalt regiert. Mohammad Omar war Befehlshaber
von Abdul Rasul Sayyafs Ittehad-e Islami, einer brutalen fundamentalistischen
Gruppierung, dessen Namensgeber und Leiter momentan Abgeordneter des af-
ghanischen Parlaments ist.

Im September 2008 besuchte Haji Mohammad Mohaqeq, ein früherer Bürger-
kriegskommandant, auf Einladung des Bundesministeriums für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) den Deutschen Bundestag. Haji
Mohammad Mohaqeq wird vorgeworfen, in den 1990er-Jahren Enthauptungen
und verschiedene brutale Foltermethoden angeordnet zu haben. Heute gilt er als
„strategisch wichtiger Gesprächspartner“ für das BMZ.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Mit welchen demokratischen Kräften kooperiert die Bundesregierung in
Afghanistan (bitte namentlich auflisten nach Regierungsvertretern und Parla-
mentarierinnen und Parlamentariern sowie außerparlamentarischen Kräften,
Nichtregierungsorganisationen, Opposition, Studentengruppen und Frauen-
organisationen)?

2. Mit welchen „traditionellen Repräsentanten“ arbeitet die Bundesregierung,
um die staatliche Entwicklungshilfe gezielter und wirksamer auszurichten?

3. Inwiefern unterhält die Bundesregierung Verbindungen zu Mohammad
Omar?

4. Hat die Bundesregierung davon Kenntnis, dass der Gouverneur von Kundus
in der Bevölkerung wegen seiner Kriegsverbrechen gefürchtet ist?

5. Wie schätzt die Bundesregierung den Gouverneur von Kundus ein?

6. Wie beurteilt es die Bundesregierung, dass der Gouverneur nach dem
Anschlag auf zwei Tanklastwagen in Kundus am 4. September 2009 davon
sprach, dass hauptsächlich Taliban getötet wurden, obwohl sich nach ge-
nauerer Prüfung herausstellte, dass nur einzelne Taliban, dafür aber 142 Zivi-
listen unter den Opfern waren?

7. Wie bewertet die Bundesregierung ihre Zusammenarbeit mit Mohammad
Omar angesichts der gegen ihn vorgetragenen Vorwürfe?

8. In welcher Höhe beteiligt sich die Bundesregierung an der finanziellen Un-
terstützung von Mohammad Omar?
9. Sind Einladungen zu Besuchen in Deutschland erfolgt?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1509

10. Wie bewertet die Bundesregierung die Änderung des Wahlgesetzes vom
13. Februar 2010 und die damit verbundene Befürchtung erneuter systema-
tischer Wahlfälschungen bei den im September 2010 anstehenden Par-
lamentswahlen?

11. Ist nach Auffassung der Bundesregierung unter diesen Umständen die
Glaubwürdigkeit der Parlamentswahlen zu erwarten?

12. Vertritt die Bundesregierung die Einschätzung, dass angesichts des hohen
Manipulationsrisikos die internationale Finanzierung der Wahlen noch zu
rechtfertigen ist?

13. Ist nach Meinung der Bundesregierung die Entsendung einer EU-Wahl-
beobachtungsmission noch zu vertreten?

14. Wie bewertet die Bundesregierung, dass angesichts fehlender formaler
Funktion von politischen Parteien das Korruptionsrisiko infolge von
„Kauf“ von Abgeordneten unter den Bedingungen des geänderten Wahl-
gesetzes noch steigt?

15. Inwiefern sieht die Bundesregierung Handlungsbedarf in Bezug auf die feh-
lerhaften und unvollständigen Wählerlisten?

16. Wie begründet es die Bundesregierung, dass Haji Mohammad Mohaqeq als
„strategisch wichtiger Gesprächspartner“ für das BMZ gilt?

17. Unterhält die neue Bundesregierung weiterhin Beziehungen zu Haji
Mohammad Mohaqeq?

Wenn ja, in welcher Form?

18. Plant die Bundesregierung, die afghanische Regierung darauf zu drängen,
das Amnestiegesetz von 2005, mit dem sich Kriegsverbrecher im Parlament
selbst jeder Strafverfolgung entzogen haben, zurückzunehmen?

Wenn nein, welche Gründe führt die Bundesregierung an?

19. Ist es ein Anliegen der Bundesregierung, sich gegenüber der afghanischen
Regierung dafür einzusetzen, dass das Gesetz zur Eliminierung von Gewalt
gegen Frauen endlich umgesetzt wird?

Wenn nein, wie begründet sie ihre Ablehnung?

20. Welche Kenntnisse gibt es über die relevanten Ministerien in Kabul hin-
sichtlich Unterschlagung, Zweckentfremdung deutscher Gelder?

21. Verfügt die Bundesregierung über Informationen bezüglich sogenannter
Schutzgelder an die Taliban und Warlords im Kontext des zivilen Wieder-
aufbaus?

22. Wie beurteilt die Bundesregierung die Lage von Frauen- und Menschen-
rechtsaktivisten in Afghanistan?

23. Wie hat sich die Bundesregierung zum Fall des kritischen Journalisten
Sayed Perwiz Kambakhsh verhalten, der wegen des Downloads eines is-
lamkritischen Textes 2008 von einem Gelehrtengericht mit der Todesstrafe
verurteilt wurde, welche 2009 in eine 20-jährige Gefängnisstrafe umgewan-
delt wurde?

24. Im September 2009 ließ Präsident Hamid Karsai den Inhaftierten im Rahmen
einer Amnestie frei und außer Landes fliegen. Sind der Bundesregierung die
Umstände dieser Exilierung bekannt?

25. Hat die Bundesregierung Kontakt zu Sayed Perwiz Kambakhsh und seinem
Bruder, Yaqub Ibrahimi Kambakhsh, die unter Morddrohungen leiden?

Drucksache 17/1509 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
26. Ist der Bundesregierung bekannt, ob gewährleistet ist, dass Sayed Perwiz
Kambakhsh wieder in sein Heimatland zurückkehren darf?

27. Plant die Bundesregierung, zukünftig die Vergabe von finanziellen Mitteln
für die afghanische Regierung an die Umsetzung von menschenrechtlichen
Standards zu binden?

28. Hält die Bundesregierung Kontakt zum drittplatzierten bei der Präsident-
schaftswahl 2009, Dr. Ramazan Bashardost, der bei der Bevölkerung wegen
seiner Kritik an der Regierung und den Warlords äußerst beliebt ist?

Ist eine Einladung an Dr. Ramazan Bashardost als Vertreter der demokra-
tischen und friedlichen Opposition geplant?

29. Der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Deutschen
Bundestages betreibt das Parlamentarierschutznetzwerk „Parlamentarier
schützen Parlamentarier“, in dem auch die kritische und illegal suspendierte
Politikerin Malalai Joya aufgenommen wurde. Welche konkreten Schutz-
funktionen bietet die Bundesregierung der Parlamentarierin Malalai Joya?

30. Hat die Bundesregierung Kontakt zu Malalai Joya aufgenommen?

31. Inwiefern gewährleistet die Bundesregierung über das Schutzprogramm,
dass der suspendierten Abgeordneten ihre politischen und sozialen Rechte
eingeräumt werden?

32. Hat die Bundesregierung davon Kenntnis, dass Malalai Joyas Name sich
auf einer Liste der afghanischen Regierung derjenigen Personen befindet,
welche nicht die Erlaubnis zur Ausreise haben?

33. Was unternimmt die Bundesregierung, um die Bewegungs- und Reisefrei-
heit von Malalai Joya zu gewährleisten?

34. Wenn sie gegenwärtig in diesem Fall nicht aktiv ist, plant die Bundesregie-
rung zukünftig, sich für die Reisefreiheit von Malalai Joya einzusetzen?

Welche Maßnahmen wird sie unternehmen?

Berlin, den 23. April 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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