BT-Drucksache 17/14695

Völkerrechtliche Konsequenzen aus der behaupteten Subjektidentität der Bundesrepublik Deutschland mit dem Deutschen Reich seit dem 8. Mai 1945

Vom 3. September 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/14695
17. Wahlperiode 03. 09. 2013

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, Heike
Hänsel, Harald Koch, Niema Movassat, Kathrin Senger-Schäfer, Alexander Ulrich
und der Fraktion DIE LINKE.

Völkerrechtliche Konsequenzen aus der behaupteten Subjektidentität der
Bundesrepublik Deutschland mit dem Deutschen Reich seit dem 8. Mai 1945

Im Gegensatz zur DDR, welche die polnische Westgrenze im Görlitzer Abkom-
men vom 6. Juli 1950 vorbehaltslos und völkerrechtlich verbindlich als unan-
tastbar anerkannte, verstand die Bundesrepublik Deutschland den Warschauer
Vertrag vom 7. Dezember 1970 allein als Verzicht auf eine gewaltsame Ände-
rung der als „unverletzlich“ bezeichneten Westgrenze der Volksrepublik Polen,
deren faktische Hinnahme sie zugleich unter den Vorbehalt einer möglichen Än-
derung im Rahmen einer Friedensregelung stellte.

Bis zum Anschluss der DDR an die Bundesrepublik Deutschland hat es keine
Friedensregelung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volks-
republik Polen gegeben. In der „Abschließenden Regelung mit Bezug auf
Deutschland“ (sog. Zwei-plus-Vier-Vertrag, in Kraft getreten am 15. März
1991) ist als Bedingung für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten dem
Sinne nach eine zu treffende abschließende Regelung bezüglich der Anerken-
nung der polnischen Westgrenze festgelegt. Die Bundesrepublik Deutschland
hat sich dieser Verpflichtung bis dato entzogen.

Der Grenzvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik
Polen von 1990 versteht sich nach dem Wortlaut des Vertrages lediglich als eine
„Bestätigung“ der zwischen ihnen bestehenden Grenze und einem daran ge-
knüpften Gewaltverzicht. Er hat mithin den gleichen Charakter wie der War-
schauer Vertrag von 1970. Beide Verträge sollen nach Auffassung der Bundes-
republik Deutschland nicht mehr als Gewaltverzichtsverpflichtungen darstellen.
Seit der ersten polnischen Teilung im Jahre 1772 ist die polnische Westgrenze
lediglich von der DDR anerkannt worden. Mit der Nichtanerkennung der
Grenze eines ihres Nachbarstaates steht die Bundesrepublik Deutschland in
Europa allein dar.

Die Bundesregierung vertritt eine den Gegebenheiten der deutschen Einigung
angepasste „Deutschland-Doktrin“. Die ursprüngliche Lesart der Deutschland-
Doktrin behauptete die völkerrechtliche Identität, wenngleich räumliche Teil-
identität der Bundesrepublik Deutschland mit dem Deutschen Reich, das den

8. Mai 1945 zwar handlungsunfähig, doch völkerrechtlich rechtsfähig überdau-
ert habe. Sie stellt alle von der Bundesrepublik Deutschland abgeschlossenen
Verträge als allein für die Bunderepublik Deutschland unter den Vorbehalt ihrer
Revision durch das zur Handlungsfähigkeit gelangende Deutsche Reich ver-
bindlich, dessen Handeln keine Bundesregierung vorgreifen darf. Das Wieder-
erstehen des Deutschen Reiches aber implizierte die Eingliederung von Teilen
der „ehemals deutschen Gebiete“, die heute auf polnischem Staatsgebiet liegen.

Drucksache 17/14695 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Diese juristische Auffassung bildete vor der Zusammenführung der Bundes-
republik Deutschland mit der DDR die Grundlage für die Verweigerung der An-
erkennung der polnischen Westgrenze durch die Bundesrepublik Deutschland.

Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten trat in der Bestimmung des
Verhältnisses von Bundesrepublik Deutschland und Deutschem Reich an die
Stelle einer Perspektive auf die Wiedergewinnung „ehemaliger deutscher Ge-
biete“ – also der räumlichen Teilidentität – die „Subjektidentität“ als Ausdruck
der Identität in der Eigenschaft als Völkerrechtssubjekt, die das postulierte Fort-
leben des Reiches unangetastet lässt.

Dieser Umstand erhält durch die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine
Anfrage der Fraktion DIE LINKE. „Belastung der deutsch-polnischen Bezie-
hungen durch Aktivitäten des Vereins Eigentümerbund Ost e. V. in Polen“ (Bun-
destagsdrucksache 17/12307) eine aktuelle Brisanz. Die Bundesregierung macht
darin deutlich, dass es „stets die Auffassung der Bundesregierung [war], dass
das Völkerrechtssubjekt ‚Deutsches Reich‘ nicht untergegangen und die
Bundesrepublik Deutschland nicht sein Rechtsnachfolger, sondern mit ihm als
Völkerrechtssubjekt identisch ist“ und verweist in der Antwort zu Frage 25 auf
Bundestagsdrucksache 17/12307 zudem auf die Entscheidung des Bundesver-
fassungsgerichts vom 31. Juli 1973 (BVerfGE 36, S. 1, 16; vgl. auch BVerfGE
77, S. 137, 155). In den Leitsätzen des betreffenden Urteils heißt es: „Es wird
daran festgehalten (vgl. z. B. BVerfG, 1956-08-17, 1 BvB 2/51, BVerfGE 5,
85 <126>), dass das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat
und weder mit der Kapitulation noch durch die Ausübung fremder Staatsgewalt
in Deutschland durch die Alliierten noch später untergegangen ist; es besitzt
nach wie vor Rechtsfähigkeit, ist allerdings als Gesamtstaat mangels Organisa-
tion nicht handlungsfähig. Die BRD ist nicht ‚Rechtsnachfolger‘ des Deutschen
Reiches, sondern als Staat identisch mit dem Staat ‚Deutsches Reich‘, – in Be-
zug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings ‚teilidentisch‘.“.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche völkerrechtlichen Konsequenzen ergeben sich für die Ausübung der
Souveränitätsrechte der Republik Polen gegenüber Gebieten ihres Staatsterri-
toriums, die vor dem 8. Mai 1945 zum Deutschen Reich gehörten, angesichts
der Tatsache, dass die Bundesregierung gemäß ihrer Antwort auf die Kleine
Anfrage (Bundestagsdrucksache 17/12307) behauptet, dass „das Völker-
rechtssubjekt ,Deutsches Reich‘ nicht untergegangen und die Bundesrepublik
Deutschland nicht sein Rechtsnachfolger, sondern mit ihm als Völkerrechts-
subjekt identisch ist (BVerfGE 36, S. 1, 16; vgl. auch BVerfGE 77, S. 137,
155). Dies war zudem stets die Auffassung der Bundesregierung.“?

2. Welche völkerrechtlichen Wirkungen oder Ansprüche sollen nach dem Wil-
len der Bundesregierung durch das Festhalten der Bundesregierung an dieser
Rechtsauffassung gegenüber der Republik Polen in Zukunft gesichert wer-
den, vor dem Hintergrund, dass gemäß dem Urteil des Bundesverfassungsge-
richts (BVerfGE 36, S. 1), auf welches sich die Bundesregierung bezieht,
„das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder
mit der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutsch-
land durch die alliierten Okkupationsmächte noch später untergegangen ist“
und „nach wie vor Rechtsfähigkeit“ besitzt, „allerdings als Gesamtstaat man-
gels Organisation, insbesondere mangels institutionalisierter Organe selbst
nicht handlungsfähig“ sei (vgl. Bundestagsdrucksache 17/12307, Antwort zu
Frage 25), und die Bundesrepublik Deutschland mit diesem Deutschen Reich
lediglich „subjektidentisch“ sein soll?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/14695

3. Auf Grundlage welcher rechtlichen und faktischen Tatsachen sowie politi-
schen Überlegungen vertritt die Bundesregierung die Auffassung, dass die
Bundesrepublik Deutschland „als Staat identisch mit dem Staat ‚Deutsches
Reich‘, – in Bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings ‚teiliden-
tisch‘“ sei?

4. Auf Grundlage welcher rechtlichen und faktischen Tatsachen sowie politi-
schen Überlegungen vertritt die Bundesregierung die Auffassung, dass die
„Subjektidentität“ der Bundesrepublik Deutschland mit dem Deutschen
Reich sich nicht auf die räumlich-geographische Identität der Bundesrepu-
blik Deutschland mit dem Deutschen Reich erstreckt?

5. Welche rechtlichen und politischen Folgen hat die ständige Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts bezüglich des sog. Restitutionsausschlusses
im Falle von „Enteignungen auf besatzungsrechtlicher beziehungsweise be-
satzungshoheitlicher Grundlage (1945 bis 1949)“ (BVerfGE 84, 90 – Bo-
denreform I) gegenüber der Veränderung der Eigentumsverhältnisse in ehe-
mals zum Deutschen Reich gehörenden Gebieten nach dem 8. Mai 1945 in
Polen, wenn laut dem Bundesverfassungsgericht die „Abschnitte VI und IX
des als ‚Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin‘ bezeichneten
Protokolls vom 2. August 1945 (oft Potsdamer Abkommen genannt) […]
die deutschen Ostgebiete ‚vorbehaltlich der endgültigen Bestimmung der
territorialen Fragen bei der Friedensregelung‘ teilweise unter sowjetische
und teilweise unter polnische ‚Verwaltung‘ gestellt (Amtsblatt des Kontroll-
rats in Deutschland, Ergänzungsblatt Nr. 1 S. 17 f.)“ wurden (BVerfGE 40,
141 – Ostverträge)?

6. Welche demokratie- und friedenspolitischen Überlegungen der Bundes-
republik Deutschland sprechen nach Auffassung der Bundesregierung für
das Festhalten der Bundesregierung an der Rechtsauffassung über eine
„Subjektidentität“ der Bundesrepublik Deutschland mit dem Deutschen
Reich gegenüber der Republik Polen angesichts der Tatsache, dass mit dem
Entstehen des Deutschen Reichs und dem Fortbestand bis zum 8. Mai 1945
mehrere Angriffskriege, die Kolonisierung seiner Nachbarn sowie die Er-
mordung von ca. 27 Millionen Sowjetbürgern und ca. sechs Millionen Juden
verbunden wird?

7. Welche rechtlichen, finanziellen und politischen Gründe machen es nach
Auffassung der Bundesregierung sinnvoll, die Bundesrepublik Deutschland
nicht als Rechtsnachfolger, sondern als „subjektidentisch“ mit dem Deut-
schen Reich aufzufassen und die sog. Deutschland-Doktrin nicht für obsolet
zu erklären?

8. Welche rechtlichen und materiellen Unterschiede macht die Beibehaltung
der in Frage 6 genannten Unterscheidung für die zwischenstaatlichen Bezie-
hungen der Bundesrepublik Deutschland zur Republik Polen aus (bitte de-
tailliert aufführen)?

9. Ist die Bundesrepublik Deutschland infolge des Beitrittes der DDR am
3. Oktober 1990 auch an die Bestimmungen des Görlitzer Abkommens vom
6. Juli 1950 gebunden, in welchem die DDR die polnische Westgrenze vor-
behaltslos und völkerrechtlich verbindlich als unantastbar anerkannt hat?

10. Auf Grundlage welcher rechtlichen oder faktischen Tatsachen vertritt die
Bundesregierung analog zu der einstimmigen Entschließung des Deutschen
Bundestages vom 17. Mai 1972 (bei fünf Enthaltungen) die Auffassung,
dass die Bundesrepublik Deutschland die Verpflichtungen im Moskauer
Vertrag und im Warschauer Vertrag nur „im eigenen Namen“ – d. h. nicht
im Namen des Deutschen Reiches – „auf sich genommen“ habe, wodurch

eine „friedensvertragliche Regelung nicht vorweg“ genommen und auch

Drucksache 17/14695 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
„keine Rechtsgrundlage für die heute bestehenden Grenzen“ geschaffen
würde?

11. Welche Maßnahmen will die Bundesregierung ergreifen, um die ausste-
hende endgültige völkerrechtliche Anerkennung und nicht lediglich der Be-
stätigung der polnischen Westgrenze abschließend zu regeln?

12. Welche Maßnahmen will die Bundesregierung ergreifen, um die nach wie
vor ausgebliebene völkerrechtliche Regelung der Reparationen für die vom
Deutschen Reich verübten Schäden an polnischem Eigentum sowie Sachen
und Personen polnischer Staatsangehörigkeit zu regeln?

13. Welche Maßnahmen will die Bundesregierung ergreifen, um ähnliche und
andere offene Vermögensfragen sowohl der Polen deutscher Staatsangehö-
rigkeit als auch während der NS-Zeit durch das Deutsche Reich enteigneter
polnischer Staatsbürger abschließend mit der Republik Polen zu regeln?

Berlin, den 3. September 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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