BT-Drucksache 17/14381

Lage der Asbesterkrankten in Deutschland

Vom 27. Juni 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/14381
17. Wahlperiode 27. 06. 2013

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Beate Müller-Gemmeke, Markus Kurth,
Cornelia Behm, Harald Ebner, Hans-Josef Fell, Oliver Krischer, Dr. Hermann E. Ott,
Markus Tressel, Daniela Wagner und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Lage der Asbesterkrankten in Deutschland

Tod und Krankheit aufgrund von Asbestexposition haben weltweit ein pan-
demisches Ausmaß. Durch die langen Latenzzeiten bei den Erkrankungen von
bis zu 50 Jahren ist gegenwärtig der Höhepunkt der asbestbedingten Erkran-
kungs- und Todesraten in Deutschland zu verzeichnen.

In Deutschland sterben jährlich offiziell etwa 1 500 Menschen aufgrund einer
anerkannten asbestbedingten Berufskrankheit. Hier sind noch nicht die Todes-
fälle von Familienangehörigen eingeschlossen, wie z. B. von Frauen, die die
Arbeitskleidung der Männer gewaschen, oder die der Kinder, die im Haus den
Staub auf der Arbeitskleidung eingeatmet haben. Erfasst sind auch nicht jene
Krebstoten, die Asbest aus der Umwelt aufgenommen haben. Die Verfahren der
Berufsgenossenschaften führen dazu, dass nur 20 Prozent der angezeigten
asbestbedingten Lungenkrebsfälle als Berufskrebserkrankung zur Anerken-
nung kommen. Es ist ableitbar, dass heute neun bis zehn Menschen am Tag in
Deutschland sterben, weil sie asbestexponiert waren. Bis zum Jahr 2020 ist
europaweit noch mit 500 000 Toten zu rechnen. Ab ca. 1900 war die todbrin-
gende Wirkung von Asbestexpositionen bekannt; in Deutschland ist seit 1936
Asbestose und seit 1943 asbestbedingter Lungenkrebs eine Berufskrankheit.

Wie auch in anderen Ländern war auch in Deutschland der Arbeitsschutz un-
zureichend. In den USA gab es bereits in den 60er-Jahren die ersten Schadens-
ersatzprozesse. In Deutschland gab es seit dieser Zeit Hinweise der Berufs-
genossenschaften zum Schutz vor Asbeststaub am Arbeitsplatz. Die Asbestin-
dustrie organisierte auf internationaler Ebene mit großem finanziellen Aufwand
unter Einbindung von Wissenschaftlern Verharmlosungskampagnen.

Neben Fragen der Verantwortung und Lehren für die Gegenwart stellt sich die
Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung für die Opfer. Medien berich-
ten über den vielfach aussichtslosen Kampf der erkrankten Menschen mit den
Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung über die Anerkennung ihrer As-
besterkrankung als Berufskrankheit.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie viele Antragstellungen auf Anerkennung einer asbestbedingten Berufs-
krankheit (BK) gab es bei den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung
seit dem Asbestverbot in Deutschland 1992 pro Jahr (bitte aufgeschlüsselt
nach BK 4103, 4104, 4105, 4114)?

a) Wie viele wurden davon anerkannt, und wie viele wurden mit welcher
Summe insgesamt entschädigt?

Drucksache 17/14381 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

b) Worin lagen die Hauptablehnungsgründe (bitte aufgeschlüsselt nach BK-
Nummern)?

2. Wie erklärt sich die Bundesregierung die mögliche Diskrepanz zwischen An-
tragstellungen und Bewilligungen in Berufskrankheitenverfahren, obwohl be-
reits 1977 eine durch die Europäische Kommission beauftragte Experten-
gruppe zu dem Schluss kam, dass es keinen abstrakten Nachweis für eine
Expositionsschwelle gäbe, unterhalb welcher es nicht zum Entstehen von
Krebs kommt (Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14. März
2013 zu asbestbedingten Gefährdungen der Gesundheit am Arbeitsplatz und
Aussichten auf Beseitigung von sämtlichem noch vorhandenem Asbest –
2012/2065 (INI))?

3. Wie erklärt die Bundesregierung die Praxis der Träger der gesetzlichen Un-
fallversicherung (neue berufsgenossenschaftliche Empfehlung „Falkensteiner
Empfehlung“), Asbestkörperzählungen zur Grundlage für Entscheidungen im
Berufskrankheitenverfahren zu machen, obwohl in der Bundesrepublik
Deutschland zu 94 Prozent Weißasbest (Chrysotil) verarbeitet wurde (X. Baur
et al. „Gibt es Unterschiede in den gesundheitsschädlichen Wirkungen von
Chrysotil- und Amphibol-Asbest“ in der Zeitschrift für Pneumologie und Be-
atmungsmedizin, August 2012) und es laut der Richtlinie 1999/77/EG keinen
Schwellenwert gibt, unter dem Chrysotilasbest nicht mit einem Krebsrisiko
verbunden wäre?

4. Inwiefern beabsichtigt die Bundesregierung darauf hinzuwirken, dass diejeni-
gen Asbesterkrankten von den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung
entschädigt werden, deren Anträge aufgrund einer vermeintlich zu geringen
Asbestfaserzahl in der Lunge (so genannte 1 000-Asbestkörperchen-Hypo-
these) bei Lungenkrebs und tödlicher Lungenasbestose unter Missachtung
des so genannten Fahrerflucht-Phänomens des Weißasbests abgelehnt wur-
den?

5. Wie beurteilt die Bundesregierung die dem berufsgenossenschaftlichen
Mesotheliomregister nach Auffassung der Fragesteller monopolartig zuge-
ordnete Rolle bei der Anerkennung von asbestbedingten Berufskrankheiten,
obwohl andere Einrichtungen entsprechende Untersuchungen ebenso durch-
führen können?

6. Wie beurteilt die Bundesregierung, dass die Deutsche Gesetzliche Unfall-
versicherung e. V. (DGUV) die kanzerogenen Eigenschaften von Chrysotil
auf der Grundlage von tierexperimentell gewonnenen Erkenntnissen in
Frage stellt, obwohl epidemiologische Studien das Gegenteil zeigen (vgl.
X. Baur et al.)?

7. Wie beurteilt die Bundesregierung die Entnahme von Gewebeproben zur
Ermittlung einer Berufskrankheit, ohne dass eine Einwilligung nach erfolg-
ter Aufklärung (sog. informed consent) stattgefunden hat, unter ethischen
und datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten?

8. Wie beurteilt die Bundesregierung das Problem von Antragstellenden im
Berufskrankheitenverfahren, die für die erforderliche Arbeitsanamnese die
Asbestexposition in einem sog. Vollbeweis nachweisen müssen, selbst wenn
Arbeitgeber nicht mehr existieren und betriebliche Unterlagen sowie Zeugen
fehlen?

9. Wie bewertet die Bundesregierung eine Beweislastumkehr bzw. Beweiser-
leichterung (Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14. März
2013, 2012/2065 (INI)) in Fällen, in denen die unternehmerische Umsetzung
der berufsgenossenschaftlichen und staatlichen Arbeitsschutzvorschriften
nicht erfolgte bzw. nicht nachgewiesen werden kann (Beweisnotstand)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/14381

10. Wie könnte nach Auffassung der Bundesregierung eine Beweiserleich-
terung im Berufskrankheitenverfahren für Asbesterkrankungen umgesetzt
werden?

11. Wie unterstützt die Bundesregierung die Arbeit von Selbsthilfegruppen für
Asbestopfer vor dem Hintergrund, dass die Europäische Union die Unter-
stützung von Asbestopfer-Verbänden fordert (Entschließung des Europä-
ischen Parlaments vom 14. März 2013, 2012/2065 (INI))?

12. Wie unterstützt die Bundesregierung Asbestopfer bei der Wahrnehmung
ihrer Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit?

13. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über umweltbedingte As-
besterkrankungen vor?

14. Welche Hilfen erhalten Familienangehörige, die zum Beispiel durch die
Arbeitskleidung der Partner erkrankt sind (umweltbedingter intradomizi-
liärer familiärer Asbestexpositionen)?

Berlin, den 27. Juni 2013

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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