BT-Drucksache 17/1317

Auslieferungen in die Türkei

Vom 6. April 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1317
17. Wahlperiode 06. 04. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Christine Buchholz, Annette Groth, Ulla
Jelpke, Harald Koch, Niema Movassat, Jens Petermann und der Fraktion DIE LINKE.

Auslieferungen in die Türkei

In der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 12. März 2009 zu dem
Fortschrittsbericht 2008 über die Türkei wird „die Entschuldigung, die der Jus-
tizminister Mehmet Ali Sahin im Namen der Regierung gegenüber der Familie
von Engin Çeper [Çeber – Anm. d. Verf.] ausgesprochen hat, der nach Misshand-
lungen im Gefängnis gestorben ist“, einerseits begrüßt. Gleichzeitig aber teilt das
Europäische Parlament „die Besorgnis des Menschenrechtsausschusses des
türkischen Parlaments darüber, dass die Justiz es unterlässt, die wachsende Zahl
der Fälle von Folter und Misshandlungen zu verfolgen“, und „fordert die tür-
kische Regierung auf, weitere systematische Anstrengungen zu unternehmen,
damit Folter und Misshandlungen sowohl innerhalb als auch außerhalb öffent-
licher Haftanstalten und die Kultur der Straflosigkeit ein Ende haben“. Darüber
hinaus wird in diesem Zusammenhang betont, „dass die Ratifizierung und Um-
setzung des Fakultativprotokolls des Übereinkommens gegen Folter und andere
grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe die Glaub-
würdigkeit dieser Anstrengungen erheblich erhöhen würde“.

Auslieferungen in die Türkei erfolgen auf der Grundlage des Europäischen Aus-
lieferungsübereinkommens (EuAlÜbk) in Verbindung mit den Regelungen des
Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen. Gemäß Artikel 3 Ab-
satz 1 EuAlÜbk wird eine Auslieferung nicht bewilligt, wenn die strafbare Hand-
lung, derentwegen sie begehrt wird, vom ersuchten Staat als eine politische oder
als eine mit einer solchen zusammenhängende strafbare Handlung angesehen
wird.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) sind
die deutschen Gerichte von Verfassungs wegen gehalten, im Auslieferungsver-
fahren zu prüfen, ob die Auslieferung und die ihr zugrunde liegenden Akte mit
dem nach Artikel 25 des Grundgesetzes (GG) in der Bundesrepublik Deutsch-
land verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und den unabdingbaren
verfassungsrechtlichen Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung vereinbar sind
(vgl. BVerfGE 63, 332 <337 f.>; 75, 1 <19>; 108, 129 <136>; 113, 154 <162>).
Zu den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen zählt der Kernbe-
reich des aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Verhältnismäßigkeitsgrund-

satzes. Den zuständigen Organen der Bundesrepublik Deutschland ist es danach
verwehrt, einen Verfolgten auszuliefern, wenn die Strafe, die ihm im ersuchen-
den Staat droht, unerträglicher Art ist, mithin unter jedem denkbaren Gesichts-
punkt unangemessen erscheint. Tatbestand und Rechtsfolge müssen sachgerecht
aufeinander abgestimmt sein (vgl. BVerfGE 50, 205 <214 f.>; 75, 1 <16>; stRspr).
Ebenso zählt es wegen Artikel 1 Absatz 1 und Artikel 2 Absatz 1 GG zu den un-
abdingbaren Grundsätzen der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung, dass

Drucksache 17/1317 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

eine angedrohte oder verhängte Strafe nicht grausam, unmenschlich oder ernied-
rigend sein darf. Die zuständigen Organe der Bundesrepublik Deutschland sind
deshalb gehindert, an der Auslieferung eines Verfolgten mitzuwirken, wenn die-
ser eine solche Strafe zu gewärtigen oder zu verbüßen hat (vgl. BVerfG, 2 BvR
2299/09 vom 16. Januar 2010, Absatz-Nr. 18f).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Inwieweit ist die Bundesregierung der Ansicht, dass es eine grausame, un-
menschliche oder erniedrigende Bestrafung darstellt, wenn ein Gericht einen
Menschen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe ohne die Möglichkeit vor-
zeitiger Haftentlassung verurteilt?

2. Inwieweit ist die Bundesregierung der Ansicht, dass es eine grausame, un-
menschliche oder erniedrigende Bestrafung darstellt, wenn im Fall einer
Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe die Möglichkeit einer vor-
zeitigen Haftentlassung an schwere Gebrechen oder lebensbedrohliche
Erkrankungen des Häftlings geknüpft ist?

3. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Ansicht des BVerfG (BVerfG,
2 BvR 2299/09 vom 16. Januar 2010), dass die erschwerte lebenslange Frei-
heitsstrafe, die das türkische Strafgesetzbuch vorsieht, eine grausame,
unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung ist, und inwieweit setzt die
Bundesregierung diese Entscheidung des BVerfG entsprechend um?

4. Wie viele Begnadigungen sind der Bundesregierung für Fälle von Verurtei-
lungen zu erschwerter lebenslanger Freiheitsstrafe in der Türkei in den letz-
ten 10 Jahren bekannt (bitte nach Anzahl, Jahr und Straftatbestand auf-
schlüsseln)?

5. Wie viele Begnadigungen betrafen Mitglieder angeblich terroristischer Ver-
einigungen bzw. betrafen vermeintlich terroristische Vereinigungen?

6. Inwieweit sieht die Bundesregierung gesichert, dass Personen, die an die
Türkei überstellt werden, dort rechtsstaatlich behandelt und insbesondere
nicht gefoltert werden, und worauf gründet sich die Einschätzung der Bun-
desregierung?

7. Welche Kriterien legt die Bundesregierung an, um festzustellen, dass einem
Verurteilten nach einer fremden Rechtsordnung eine hinreichende prakti-
sche Chance auf Wiedererlangung der Freiheit gewährt wird?

8. Beabsichtigt die Bundesregierung im Falle der Auslieferung von Faruk
Ereren an die Türkei, sich von der türkischen Regierung Zusicherungen ge-
ben zu lassen, die ein faires Strafverfahren und einen menschenrechtskon-
formen Strafvollzug zum Gegenstand haben?

9. Inwieweit steht die real drohende Anwendung von Folter als absolutes
Abschiebungshindernis der Auslieferung von Faruk Ereren entgegen?

10. Wie soll die Kontrolle eines rechtsstaatlichen Verfahrens für überstellte Per-
sonen wie beispielsweise Faruk Ereren und ggf. nachfolgend einer menschen-
rechtskonformen Behandlung in der Haft konkret aussehen?

11. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass die drohende Verwertung von
Zeugenaussagen im Verfahren in der Türkei, die unter Folter gewonnen wur-
den, einer Auslieferung entgegensteht (bitte begründen)?

12. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass die Anwendung von Folter in
einem Strafverfahren die Auslieferung des Beschuldigten auch dann aus-
schließt, wenn die hieraus gewonnen Erkenntnisse in dem Strafverfahren

nicht unmittelbar verwertet werden (bitte begründen)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1317

13. In wie vielen Fällen wurden Auslieferungsersuchen seitens der Türkei seit
1990 (bitte nach Jahren auflisten) an die Bundesrepublik Deutschland ge-
stellt?

14. In wie vielen Fällen sind nach Auslieferungsersuchen der Türkei Personen in
Auslieferungshaft genommen, tatsächlich ausgeliefert oder wieder aus der
Auslieferungshaft entlassen worden (entsprechend getrennt auflisten)?

Berlin, den 6. April 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.