BT-Drucksache 17/1314

Vorratsdatenspeicherung und Sicherheitslücken

Vom 6. April 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1314
17. Wahlperiode 06. 04. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jan Korte, Ulla Jelpke, Petra Pau, Jens Petermann
und der Fraktion DIE LINKE.

Vorratsdatenspeicherung und Sicherheitslücken

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat durch Beschluss vom 2. März 2010
(1 BvR 256/08, 1 BvR 263/08 und 1 BvR 586/08) das Gesetz zur Neuregelung
der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaß-
nahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG für nichtig erklärt und
die sofortige Löschung der gespeicherten Daten angeordnet.

Die neue EU-Justizkommissarin Viviane Reding hat angekündigt, die EU-Richt-
linie grundlegend zu überprüfen (www.golem.de am 2. März 2010). Die Bundes-
ministerin der Justiz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, machte ihrerseits
deutlich, dass durch den Verzicht auf die Vorratsdatenspeicherung keine Sicher-
heitslücke entstünde (FOCUS-Online, 3. März 2010) und hat aus dem Urteil
auch die Pflicht der Bundesregierung abgeleitet, sich „für die Freiheitsrechte
seiner Bürgerinnen und Bürger auch in europäischen und internationalen Zusam-
menhängen ein[zu]setzen“ (Pressemitteilung des BMJ vom 2. März 2010).

Die ersten Reaktionen des Bundeskriminalamts (BKA), der Gewerkschaft der
Polizei (GdP), des Bundesministers des Innern und anderer für die Sicherheit Zu-
ständigen zielten in die entgegengesetzte Richtung.

Der Bundesminister des Innern, Dr. Thomas de Maizière, fordert eine schnelle
Neufassung des Gesetzes. Nach Ansicht der GdP droht ein deutlicher Rück-
schlag für die Bekämpfung der schweren Kriminalität in Deutschland. Es sei
leider zu befürchten, dass die Bundesregierung sich selbst blockiere und ein
neues Gesetz sehr lange hinauszögere oder ganz darauf verzichte, sagte der GdP-
Vorsitzende Konrad Freiberg der „Braunschweiger Zeitung“ (WELT ONLINE
vom 3. März 2010). Und weiter: Wenn der Polizei dieses Instrumentarium ver-
loren gehe, könne sie bestimmte Kriminalitätsformen nicht mehr aufklären oder
Beweismittel dafür sichern. Ähnlich argumentiert auch der Leiter des BKA, Jörg
Ziercke, der überhaupt nicht versteht, wie man eine Sicherheitslücke ableugnen
könne, die dazu führe, dass bestimmte Straftaten nicht mehr verfolgt werden
könnten (www.dradio.de/dkultur am 9. März 2010). Der Bund Deutscher Krimi-
nalbeamter stellt am 7. März 2010 gar ein Vakuum bei der Kriminalitätsbekämp-
fung im Internet fest und fordert eine gemeinsame Sondersitzung von Justiz- und
Innenministerkonferenz (www.bdk.de).
Die vor dem Bundesverfassungsgericht vom BKA aufgeführten etwa 8 Fälle
(darunter ein Hacking-Angriff auf das Pentagon und das sogenannte Meliani-
Verfahren aus dem Jahr 2000) werden ohne weitere Begründung als repräsentativ
für hunderte gleichwertiger Fälle genommen.

Der parlamentarischen und der allgemeinen Öffentlichkeit stehen jedoch bisher
keinerlei nachvollziehbare, überprüfbare und bewertbare Zahlen zum Umfang

Drucksache 17/1314 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

der bisherigen Vorratsdatenspeicherung, der daraus hervor gegangenen Ermitt-
lungs- und Strafverfahren, sowie Verurteilungen zur Verfügung. Eine seriöse
Darstellung müsste schließlich auch eine Bewertung alternativer Ermittlungsan-
sätze bieten.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. In wie vielen Fällen und aufgrund welcher Straftatbestände wurde seit In-
krafttreten des Gesetzes auf die sogenannten Vorratsdaten zugegriffen (bitte
für den gesamten Geltungszeitraum des Gesetzes und die jeweiligen Zeit-
räume 1. Januar 2008 bis 31. Dezember 2008 ohne Internet, vom 1. Januar
2009 bis zum 2. März 2010 einschließlich Internet sowie für den Geltungs-
zeitraum der einstweiligen Anordnung des BVerfG vom 19. März 2008 auf-
schlüsseln)?

2. In wie vielen Fällen kam es zu einer Verurteilung der festgestellten Täter,
und in wie vielen Fällen ergaben sich zusätzliche neue und andere Täter und
Straftaten (sog. Beifang)?

3. In welchen Fällen hat sich seit Einführung der Vorratsdatenspeicherung der
polizeiliche Zugriff auf sogenannte Vorratsdaten für Zwecke der Strafverfol-
gung und Gefahrenabwehr (bitte getrennt aufführen) als „ein unverzicht-
bares Element der Ermittlungsinitiierung durch Identifizierung von Einzel-
personen, der Struktur- und Netzwerkaufhellung sowie der Identifizierung
von Straftätern bei Entführungslagen“ (Jörg Ziercke vor dem BVerfG) er-
wiesen (bitte die drei Phasen der gesetzlichen Vorgaben berücksichtigen)?

4. Wie vielen Anordnungsanträgen auf Übermittlung der Vorratsdaten wurde
mit welchen Begründungen nicht stattgegeben (bitte nach Monat, Bundes-
land, Anzahl und Begründung aufschlüsseln)?

5. Bedeutet nach Ansicht der Bundesregierung „unverzichtbar“ in diesem Zu-
sammenhang (Frage 3), dass die Polizei keine alternativen Instrumente zur
„Ermittlungsinitiierung“ gehabt hätte, und wie definiert die Bundesregie-
rung den Begriff „unverzichtbares Element“ der Strafverfolgung und Gefah-
renabwehr im Zusammenhang mit der Vorratsdatenspeicherung?

6. Teilt die Bundesregierung die Behauptung, dass Fangschaltungen für Tele-
fone bei Verwendung von Flatrates nicht mehr zum Erfolg, z. B. bei Stalking,
führten und damit derartige Delikte überhaupt nicht mehr verfolgt werden
können?

7. Welche Delikte könnten bei einem vollständigen Verzicht auf Nutzung der
Vorratsdaten durch die Polizei überhaupt nicht mehr verfolgt werden?

8. Kann die Bundesregierung die vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung
zitierte Stellungnahme eines führenden Mitglieds der Deutschen Vereini-
gung für Datenschutz bestätigen, dass „laut Kriminalstatistik […] in
Deutschland auch ohne Vorratsdatenspeicherung fast 80 Prozent der Internet-
kriminalität aufgeklärt werden. Dass sich diese Aufklärungsquote nach Ein-
führung der Vorratsdatenspeicherung erhöht hätte, ist nicht ersichtlich“?

Welche Rolle hat der Zugriff auf die Vorratsdaten in Fällen der Internetkrimi-
nalität gespielt (bitte anhand der verfolgten Fälle begründen und diese nach
Anzahl, Monat und Bundesland aufschlüsseln)?

9. Wie haben sich die Aufklärungsquoten in den anderen für die Nutzung der
Vorratsdaten einschlägigen Deliktbereichen seit dem 1. Januar 2008 im Ver-
gleich zu den Jahren 2006 bis 2007 entwickelt?

10. Ab welcher Aufklärungsquote ist es nach Ansicht der Bundesregierung sinn-

voll, in einem oder mehreren Deliktbereichen von einer Sicherheitslücke zu
sprechen?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1314

11. Wie viele Ermittlungsverfahren zu welchen Straftaten mussten bundesweit
als Folge des BVerfG-Urteils eingestellt werden?

12. Wurden die bereits von den Ermittlungsbehörden genutzten/abgerufenen
(Vorrats-)Daten gelöscht?

Wenn Nein, wie wird mit ihnen verfahren?

13. Wie wird nach Kenntnis der Bundesregierung mit den von den Verfassungs-
schutzämtern Bayern und Thüringen angeforderten Vorratsdaten nach dem
BVerfG-Urteil verfahren?

14. Wie hoch sind die Kosten, die den Telekommunikationsunternehmen durch
den notwendigen Kauf entsprechender Speichertechnik, für deren Wartung
und Bedienung, entstanden sind, um die Daten zu speichern (bitte für jeden
Provider gesondert aufschlüsseln)?

15. Wird die Bundesregierung den Forderungen des Verbandes der deutschen
Internetwirtschaft Eco nachkommen und künftige Investitionskosten in poli-
tisch gewollte Technik den Telekommunikationsunternehmen erstatten?

Wenn ja, wieso, und auf welche Art und Weise?

Wenn nein, wieso nicht?

Berlin, den 1. April 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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