BT-Drucksache 17/12797

Rechtsextreme Betätigung im Strafvollzug

Vom 15. März 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/12797
17. Wahlperiode 15. 03. 2013

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Heidrun Dittrich, Petra Pau, Jens Petermann,
Halina Wawzyniak, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Rechtsextreme Betätigung im Strafvollzug

Neonazis nutzen Gefängnisaufenthalte zur Verbreitung rechtsextremer Propa-
ganda unter Mitgefangenen, zum Gewinnen neuer Anhänger sowie zum Prestige-
gewinn innerhalb der rechten Szene. Zu diesem Ergebnis kommen anti-
faschistisch orientierte Mitgefangene ebenso wie Fachjournalistinnen und Fach-
journalisten. Für Neonazis stellt das Gefängnis oft einen regelrechten Aktions-
raum zur Selbstorganisation dar. Neonazis gründeten in der Jugendhaftanstalt
Hameln die „Kerkerkameradschaft Hameln“. Einer der Rechtsextremen war vor
seiner Haft in militanten Nazikameradschaften in der Region Weserbergland
organisiert und verhalf so seinen Mitgefangenen zum Einstieg in die rechts-
extreme Szene. Beobachter der rechtsextremen Szene wissen von Rechtsrock-
bands, die im Gefängnis gegründet wurden, und von rechtsextremen Propaganda-
schriften, die in Gefängniswerkstätten gedruckt wurden. Im Gefängnisalltag
seien die rechtsextremen Gefangenen „unkompliziert, pflegeleicht“, sie über-
nähmen oft „Hilfsaufgaben“ und stünden bei größeren Revolten oft auf der
Seite des Wachpersonals (www.netz-gegen-nazis.de/artikel/nazis-im-knast-
aktionsraum-und-kaderschmiede-7684).

Die Zeitschrift „gefangenen info“ berichtet unter Berufung auf Gefangene von
JVA-Bediensteten, „die das rechte Treiben passiv tolerieren und teilweise auch
selbst rassistisch und reaktionär agieren“. „In den letzten Jahren ist der braune
Gedanke unter den Gefängniswärtern wieder populär geworden“, wird der
Gefangene H. B. in „gefangenen info“ zitiert. Das junge, schlecht bezahlte und
perspektivlose Gefängnispersonal werde vornehmlich in den neuen Bundeslän-
dern, unter ehemaligen Soldaten und Afghanistan-Veteranen rekrutiert. H. B.
spricht daher von einer „Wehrsportgruppe Strafvollzug“ (www.gefangenen.info/
index.php/archiv/65-gi-373--nazis-im-knast).

Offenbar greift der Verfassungsschutz auch auf inhaftierte Neonazis als V-
Leute zurück. So wurde im NSU-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bun-
destages in der Sitzung vom 28. Februar 2013 deutlich, dass der wegen Mord-
versuchs verurteilten Neonazi C. S. als V-Mann des brandenburgischen Verfas-
sungsschutzes in den 90er-Jahren im Gefängnis das Nazi-Fanzine „United
Skins“ herausgab, um als Freigänger und nach seiner Haftentlassung als Quelle

in der Nazi-Szene platziert zu werden (www.linksfraktion.de/nachrichten/nazi-
v- leuten-kennt-verfassungsschutz-keine-grenzen/).

Zwar gelingt einigen Neonazis während der Haft – auch mit Hilfe von Organi-
sationen wie Exit Deutschland – der Ausstieg aus der rechtsextremen Szene.
Doch häufig ist auch das Gegenteil der Fall. „Der Knast wird oft zum Aufstiegs-
sprungbrett. Es ist nicht übertrieben, von einer ‚neonazistischen Kaderschmiede‘
zu sprechen“, heißt es im Onlineportal „Netz-gegen-Nazis“. Bekanntes Beispiel

Drucksache 17/12797 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

ist S. K., der 2006 in Dortmund als 17-jähriger unorganisierter Nazi-Skinhead den
antifaschistisch orientierten Punker Thomas „Schmuddel“ Schulz erstach. S. K.
wurde wegen Totschlags zu sieben Jahren Jugendhaft verurteilt, der Vorsitzende
Richter schloss einen politischen Tathintergrund aus. Im Gefängnis wurde S. K.
von der „Hilfsorganisation für nationale Gefangene“ betreut und so in seiner
rechtsextremen Überzeugung gefestigt. Nach seiner vorzeitigen Haftentlassung
im Jahr 2010 wurde S. K. in der rechtsextremen Szene als Held gefeiert. Als
Redner auf einer Neonazidemonstration in Hamm trug er kurz nach seiner Haft-
entlassung ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Was sollten wir bereuen“. Inzwischen
sitzt S. K., der dem 2012 verbotenen „Nationalen Widerstand Dortmund“ bei-
getreten war, aufgrund eines Angriffs auf zwei jugendliche Migranten wieder im
Gefängnis (www.netz-gegen-nazis.de/artikel/nazis-im-knast-aktionsraum-und-
kaderschmiede-7684; www.zeit.de/2011/51/Dortmund-Nazis/seite-2).

Im September 2011 wurde die „Hilfsorganisation für nationale Gefangene und
deren Angehörige e. V“ vom Bundesministerium des Innern verboten. Doch
„gefangenen info“ nennt eine Reihe von Gruppierungen und Medien, die
weiterhin inhaftierte Rechtsextreme betreuen, darunter die 1951 zur Unterstüt-
zung verurteilter NS-Täter gegründete „Stille Hilfe für Kriegsgefangene und
Internierte“, die Website „JVA Report“, der als Organisator von Mahnwachen
und Demonstrationen in Erscheinung getretene „Freundeskreis Brandenburg“
sowie das „Widerstandsinfo“ mit vielen Meldungen aus dem Strafvollzug
(www.gefangenen.info/index.php/archiv/65-gi-373--nazis-im-knast).

Während die Durchführung des Strafvollzugs den Ländern obliegt, ist es nach
Ansicht der Bundesregierung „das gemeinsame Anliegen von Bund und Län-
dern, entschieden gegen rechtsextremistische Aktivitäten in unserer Gesell-
schaft vorzugehen. Das gilt auch für den Bereich des Strafvollzugs.“ (Bundes-
tagsdrucksache 17/8983).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Inwieweit ist sich die Bundesregierung der Problematik bewusst, dass Rechts-
extreme ihren Aufenthalt als Strafgefangene in JVAs gezielt zur Verbreitung
rechtsextremer Propaganda unter Mitgefangenen, zum Gewinnen neuer An-
hänger sowie zum Prestigegewinn innerhalb der rechten Szene nutzen?

2. Auf wie hoch schätzt die Bundesregierung die Zahl der JVA-Insassen mit
rechtsextremer Einstellung?

a) Inwieweit befinden sich in ostdeutschen JVAs nach Kenntnis der Bundes-
regierung mehr Gefangene mit rechtsextremer Einstellung als im Bundes-
schnitt?

b) Inwieweit befinden sich im Jugendstrafvollzug nach Kenntnis der Bun-
desregierung mehr Gefangene mit rechtsextremer Einstellung als im Er-
wachsenenstrafvollzug?

3. Inwieweit liegen der Bundesregierung eigene aktuelle Zahlen oder Unter-
suchungen zur Fragestellung von rechtsextremen Einstellungen und Betäti-
gung von JVA-Insassen vor?

a) Wenn der Bundesregierung keine eigenen Zahlen dazu vorliegen, inwie-
weit sieht sie die Notwendigkeit, solche festzustellen?

b) Welche wissenschaftlichen Studien und Untersuchungen zur Problematik
von rechtsextremen Einstellungen im Strafvollzug außer den in der Ant-
wort der Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 17/8983 genannten
Studien der „Informationsgruppe zur Bekämpfung rechtsextremistischer/
terroristischer, insbesondere fremdenfeindlicher Gewaltakte“ (IGR) aus

dem Jahr 2002, der Kriminologischen Zentralstelle (KrimZ) in Wiesbaden

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/12797

zu „Maßnahmen der Landesjustizverwaltungen zur Bekämpfung und zur
Prävention von Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitis-
mus und Gewalt“ aus dem Jahr 2003 sowie einer Untersuchung von Prof.
Dr. Wolfgang Kühnel zu Gruppenprozessen und Bewältigungsstrategien
im Jugendvollzug in der Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechts-
reform (Heft 4/2006) sind der Bundesregierung noch bekannt?

4. Inwieweit sind der Bundesregierung Berichte oder Klagen von JVA-Leitun-
gen oder Landesjustizbehörden über Probleme mit Rechtsextremen im Straf-
vollzug bekannt?

5. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über Versuche von Rechts-
extremen, sich innerhalb von JVAs zu organisieren (bitte JVAs benennen)?

a) Inwieweit liegen der Bundesregierung Erkenntnisse darüber vor, dass
organisierte rechtsextreme Inhaftierte in den JVAs neue Mitglieder oder
Sympathisanten gewinnen oder werben?

b) Inwieweit existierten oder existieren nach Kenntnis der Bundesregierung
so genannte Knastkameradschaften (bitte JVAs benennen)?

c) Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung darüber vor, dass inhaf-
tierte Rechtsextreme aus den Haftanstalten heraus Propaganda betreiben,
für rechtsextremistische Medien (welche) schreiben oder Organisations-
aufgaben übernehmen?

d) Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über Beschlagnahmungen
oder Sicherstellungen von NS-Symbolen, NS-Devotionalien, Fahnen
oder Kleidungsstücken mit rechtsextremer Symbolik bei Inhaftierten?

6. Welchen Stellenwert nimmt die Thematik rechtsextremer Gefangener nach
Kenntnis der Bundesregierung innerhalb der rechtsextremen Szene ein?

7. Welche und wie viele Aufzüge Rechtsextremer mit dem Themenschwer-
punkt der Solidarität mit rechtsextremen Gefangenen gab es nach Kenntnis
der Bundesregierung im Jahr 2012 (bitte Datum, Orte, Veranstalter, Teil-
nehmerzahl und Thema benennen)?

8. Welche Unterstützerorganisationen für rechtsextreme Gefangene bestehen
nach Kenntnis der Bundesregierung heute in der Bundesrepublik Deutsch-
land?

a) Welche Kenntnis hat die Bundesregierung über ausländische bzw. im Aus-
land ansässige Unterstützerorganisationen für rechtsextreme Gefangene,
die rechtsextreme Gefangene im bundesdeutschen Strafvollzug unterstüt-
zen?

b) Inwieweit bestehen nach Kenntnis der Bundesregierung Strukturen der
verbotenen Hilfsorganisation für nationale Gefangene fort oder wurden
Nachfolge- oder Ersatzorganisationen für die HNG gebildet?

9. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über ein Weiterbestehen der
„Stillen Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte“?

a) Inwieweit und mit welchen Mitteln unterstützt die „Stille Hilfe“ nach
Kenntnis der Bundesregierung Rechtsextreme in Haft?

b) Welche Stellung nimmt die „Stille Hilfe“ heute im rechtsextremen
Spektrum ein?

c) Wie viele Mitglieder und Unterstützerinnen/Unterstützer zählt die „Stille
Hilfe“ nach Kenntnis der Bundesregierung?

d) Welche Veröffentlichungen der „Stillen Hilfe“ aus den letzten zehn

Jahren sind der Bundesregierung bekannt geworden?

Drucksache 17/12797 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
10. Welche rechtsextremen Websites und Zeitschriften, die sich regelmäßig
oder überwiegend mit der Thematik inhaftierter Rechtsextremer befassen,
sind der Bundesregierung bekannt?

11. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über besondere Bemühun-
gen der NPD, in Wahlkämpfen Strafgefangene zu erreichen?

12. Inwieweit kann die Bundesregierung ausschließen, dass es gängige Praxis
des Bundesamtes oder nach ihrer Kenntnis der Landesämter für Verfassungs-
schutz ist, inhaftierte Neonazis als V-Leute zu führen bzw. anzuwerben?

a) Wie viele und welche Fälle sind der Bundesregierung bekannt, in denen
inhaftierte Neonazis vom Bundesamt oder einem Landesamt als V-Leute
geführt wurden?

b) Inwieweit hält die Bundesregierung die Anwerbung oder Führung in-
haftierter Neonazis als V-Leute generell für zulässig?

13. Welche besonderen Maßnahmen und Programme von Bund und nach ihrer
Kenntnis Ländern sowie von Nichtregierungsorganisationen gibt es, um in-
haftierten Rechtsextremen einen Ausstieg aus der rechten Szene zu ermög-
lichen?

a) Wie stark werden diese Maßnahmen und Programme genutzt?

b) Wie viele rechtsextreme Strafgefangene stiegen in den letzten fünf
Jahren mit Hilfe solcher Programme und Maßnahmen aus der rechts-
extremen Szene aus?

14. Inwieweit gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung besondere Präven-
tionsprogramme, um eine Festigung rechtsextremer Einstellungen von bis-
lang nur am Rande der rechten Szene aktiven Gefangenen während ihrer
Haftzeit und ihre Einbindung in das rechtsextreme Milieu nach ihrer Haft-
entlassung zu verhindern?

15. Welche Erkenntnisse, Hinweise oder Einschätzungen liegen der Bundes-
regierung zu einem „Wechsel“ von gewalttätigen Neonazis in andere,
kriminelle Milieus (so genannte Rockerkriminalität u. Ä.) in der Zeit ihrer
Strafhaft vor, welche Verknüpfungen von rechtsextremistischen und allge-
mein kriminellen Milieus entstehen in diesem Zusammenhang?

16. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über rechtsextreme Einstel-
lungen oder Betätigungen von JVA-Personal?

a) Inwieweit sind der Bundesregierung entsprechende Probleme aus den
Ländern bekannt geworden?

b) Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über Disziplinarmaßnah-
men gegen JVA-Bedienstete aufgrund rechtsextremer Betätigungen oder
Äußerungen (bitte JVA benennen)?

c) Inwieweit wird das JVA-Personal nach Kenntnis der Bundesregierung
besonders im Umgang mit rechtsextremen Gefangenen und im Erken-
nen rechtsextremer Symbolik geschult?

17. Inwieweit treffen nach Kenntnis der Bundesregierung Beobachtungen von
Gefangenen zu, wonach neu eingestelltes JVA-Personal in besonderem
Maße unter ehemaligen Bundeswehrsoldaten, insbesondere Afghanistan-
Veteranen, rekrutiert wird (www.gefangenen.info/index.php/archiv/65-gi-
373--nazis-im-knast)?

Berlin, den 15. März 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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