BT-Drucksache 17/12268

Entschädigung für entführte und zwangsgermanisierte Kinder

Vom 4. Februar 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/12268
17. Wahlperiode 04. 02. 2013

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. Lukrezia Jochimsen, Jens Petermann,
Frank Tempel, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Entschädigung für entführte und zwangsgermanisierte Kinder

Zu den zahlreichen Verbrechen, die von den faschistischen Machthabern wäh-
rend des „Dritten Reiches“ begangen wurden, gehörte die systematische Ver-
schleppung von Kindern, denen „arische“ Merkmale zugeschrieben worden
waren. Aus den besetzten Gebieten wurden solche Kinder ins Reichsgebiet ver-
bracht, um „eingedeutscht“ bzw. „rückgedeutscht“ zu werden. Betroffen waren
sowohl Kinder aus Waisenheimen, Kinder ermordeter Partisanen als auch Kin-
der, die unter Androhung von Gewalt ihren Eltern weggenommen wurden.
Praktiziert wurde diese Politik vor allem in Polen.

Einer Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundes-
tages zufolge (Fachbereich WD1 – Geschichte, Zeitgeschichte und Politik) kann
eine exakte Zahl betroffener Kinder nicht genannt werden, weil die Forschungen
hierzu lückenhaft sind. Der Internationale Suchdienst des Roten Kreuzes gehe
von 12 300 bis 20 000 betroffenen polnischen Kindern aus, außerdem je einigen
Hundert aus der Tschechoslowakei und Slowenien sowie einigen aus Rumänien.
Berichte über Kinderraub gibt es auch aus Norwegen und Belgien.

Die betroffenen Kinder wurden entweder in Kinderheime, beispielsweise unter
Aufsicht des „Lebensborns“, verbracht oder deutschen Pflegeeltern übergeben.

Die älteren unter den betroffenen Kindern – die Zahl ist auch hier nicht bekannt –
mussten gegen Ende des Krieges Kriegsdienst im Rahmen des Volkssturms oder
der Wehrmacht leisten, einige gerieten dabei in Kriegsgefangenschaft.

Augenzeugen und Betroffene berichten über Misshandlungen, die sie im Zuge
ihrer Zwangsgermanisierung erlitten haben: „die Erzieher waren Reichsdeut-
sche und sollten aus uns hitlertreue Volksgenossen machen. Wenn wir etwa
nicht wussten, wann der Geburtstag von Adolf Hitler ist, sind wir so lange un-
ters Wasser getaucht worden, bis wir es kapiert hatten“ äußerte ein Betroffener
in einem Interview in der Tageszeitung „junge Welt“ vom 13. März 2012.

Das traurige Schicksal dieser entführten Kinder war mit der Befreiung vom
Faschismus am 8. Mai 1945 nicht vorbei: Längst nicht allen gelang es, in ihre
Heimat bzw. zu ihren Eltern zurückzukommen, soweit die Eltern nicht ohnehin
von den Nazis ermordet worden waren. Je nachdem, in welchem Lebensalter die

Kinder entführt worden waren, hatten sie keine Erinnerung an ihre Heimat oder
es war ihnen aufgrund der Kriegsereignisse und der politischen Entwicklung
nicht mehr möglich, zurückzureisen oder Verwandte ausfindig zu machen. Eine
Untersuchung über das Langzeitschicksal dieser NS-Opfergruppe steht noch
aus. Die Schätzungen über den Anteil der zurückgekehrten Kinder in Polen
schwanken zwischen 15 und 70 Prozent. Einige der Kinder wurden von Pflege-
familien in den USA oder Israel aufgenommen und haben zum Teil erst in den

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vergangenen Jahren erfahren, dass sie ihren biologischen Eltern geraubt bzw.
diese von den Nazis ermordet worden waren.

Es fehlen zudem Untersuchungen über die gesundheitlichen, insbesondere psy-
chischen, Folgeschäden und Traumata durch die Entführungen.

Die Petition eines Betroffenen, der Entschädigung forderte, wurde Ende 2012
gegen die Stimmen der Fraktion DIE LINKE. vom Petitionsausschuss des
Deutschen Bundestages abgelehnt (Pet 2-17-08-250-021246). Im Rahmen des
Petitionsverfahrens hatte das Bundesministerium der Finanzen in einem Schrei-
ben vom 15. Juni 2011, das den Fragestellern vorliegt, sein Schicksal als „allge-
meines Kriegsfolgenschicksal“ bezeichnet. Aus Sicht der Fragesteller liegt
hierin eine Verharmlosung: Die historische Forschung hat deutlich ergeben,
dass die Entführung der Kinder kein bloßes „Kriegsschicksal“ war, sondern
typisches, rassistisch motiviertes NS-Unrecht.

Dennoch sind die Betroffenen bis heute nicht als NS-Opfer anerkannt. Die Tat-
sache, dass Anträge nach dem Bundesentschädigungsgesetz nicht mehr gestellt
werden können, erweist sich auch gegenüber diesen NS-Opfern als äußerst
unbefriedigend. Auch politisch hat die Bundesregierung bisher nicht erkennen
lassen, dass sie diese Menschen als Opfer der Nazis betrachtet. Aus Sicht der
Fragesteller ist es überfällig, zum einen die Erforschung dieses Teils der NS-
Geschichte voranzubringen, zum anderen den Opfern Entschädigungen zu ge-
währen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Teilt die Bundesregierung die Auffassung der Fragesteller, dass die Entfüh-
rung von Kindern aus den besetzten Gebieten zum Zwecke ihrer „Ein-
deutschung“ als Ausdruck der rassistischen Volkstumspolitik der Nazis zu
betrachten ist (bitte begründen)?

2. Wie stellt sich die Bundesregierung zu Forderungen nach einer Entschä-
digung für diese Gruppe von NS-Opfern, und inwiefern will sie diesbezüg-
lich aktiv werden (bitte begründen)?

3. Warum hat das Bundesministerium der Finanzen im erwähnten Petitions-
verfahren das Schicksal des Petenten, der als Kind seinen Eltern weggenom-
men, von Nazi-Erziehungspersonal misshandelt und schließlich sogar als
Volkssturmrekrut verpflichtet und in sowjetische Kriegsgefangenschaft ge-
raten war, als „Kriegsfolge“ bezeichnet?

4. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung des Bundesministeriums der
Finanzen oder stimmt sie den Fragestellern zu, dass es sich hier weniger um
ein unmittelbar im Zusammenhang mit militärischen Erwägungen stehendes
„Kriegsschicksal“ gehandelt hat, sondern vielmehr um ein typisches NS-Un-
recht (bitte begründen)?

5. Welche Konsequenzen will die Bundesregierung aus der Ablehnung des
Petitionsantrags ziehen?

6. Inwiefern sieht sie angesichts der bisher fehlenden Entschädigungsmöglich-
keiten für die aus Sicht der Fragesteller rassistisch motivierte Kindesentfüh-
rung sowie daraus resultierender weiterer möglicher Folgen (z. B. Kriegs-
gefangenschaft) eine Veranlassung, das Bundesentschädigungsgesetz wieder
zu öffnen oder neue rechtliche Entschädigungsmöglichkeiten einzuführen?

7. Welche Bemühungen aus der Wissenschaft, von Betroffenenverbänden oder
von Nichtregierungsorganisationen, die Forschungslücken in diesem Be-
reich zu schließen, wurden bislang von der Bundesregierung gefördert, und

welche Bemühungen werden gegenwärtig gefördert?

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8. Welche künftigen Initiativen will die Bundesregierung entfalten, um zur
historischen und politischen Aufarbeitung dieses Aspektes der NS-Herr-
schaft beizutragen (soweit möglich bitte konkrete Projekte, Forschungsbe-
reiche bzw. Fragestellungen sowie Kosten benennen)?

9. Inwiefern hat es in der Vergangenheit juristische Schritte von Betroffenen
im Sinne der Vorbemerkung gegen die Bundesrepublik Deutschland oder
einzelne deutsche Behörden (bitte benennen) gegeben (bitte soweit mög-
lich Gegenstand der Anträge oder Klagen, Ort der juristischen Auseinan-
dersetzung und Verlauf des Verfahrens angeben)?

10. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung der Fragesteller, dass es bis-
lang selbst für diejenigen Opfer der Verschleppungen, die als Volkssturm-
oder Wehrmachtsangehörige in Kriegsgefangenschaft geraten waren, keine
Entschädigungsmöglichkeiten etwa nach dem Gesetz über die Entschädi-
gung ehemaliger deutscher Kriegsgefangener gegeben hat, wenn die Be-
troffenen – aus äußerst verständlichen Gründen – nach Beendigung des
Krieges nicht in Deutschland geblieben, sondern in ihre befreiten Heimat-
länder zurück oder in die Emigration gegangen sind (bitte begründen), und
welche Schlussfolgerungen zieht sie daraus?

Berlin, den 4. Februar 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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