BT-Drucksache 17/12223

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung - Drucksachen 17/11267, 17/12221 - Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Krebsfrüherkennung und zur Qualitätssicherung durch klinische Krebsregister (Krebsfrüherkennungs- und -registergesetz - KFRG)

Vom 30. Januar 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/12223
17. Wahlperiode 30. 01. 2013

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Birgitt Bender, Dr. Harald Terpe, Maria Klein-Schmeink,
Elisabeth Scharfenberg, Kerstin Andreae, Markus Kurth, Brigitte Pothmer und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
– Drucksachen 17/11267, 17/12221 –

Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Krebsfrüherkennung
und zur Qualitätssicherung durch klinische Krebsregister
(Krebsfrüherkennungs- und -registergesetz – KFRG)

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung kann in einigen Aspekten zur Verbes-
serung der Krebsbekämpfung beitragen. Dies betrifft etwa die flächendeckende
Einführung von klinischen Krebsregistern (KKR), insbesondere wenn sie mit
einheitlichen Qualitätsstandards einhergehen. Unterstützt wird die Kompetenz-
erweiterung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) in der Ausgestal-
tung von Früherkennungsprogrammen: Statt starre Altersgrenzen für die Defini-
tion der Zielgruppen gesetzlich vorzugeben, werden nun medizinische Kriterien
den Ausschlag geben und wissenschaftliche Erkenntnisse schneller berücksich-
tigt. Auch die Abschaffung der von der Großen Koalition mit dem GKV-Wett-
bewerbsstärkungsgesetz von 2007 eingeführten finanziellen Sanktionsregel für
gesetzlich Krankenversicherte bei vorheriger Nichtteilnahme an den angebote-
nen Krebsfrüherkennungsmaßnahmen (Absenkung der Belastungsgrenze für
Chroniker von 2 Prozent auf 1 Prozent) ist sinnvoll.

In anderen Punkten verfehlen die vorgesehenen Maßnahmen den Reformbedarf
oder widersprechen einer evidenzbasierten, patientenorientierten Gesundheits-
politik:

• Die Bundesregierung setzt auf die Früherkennung als einziges Präventionsin-
strument im Kampf gegen den Krebs. Damit befördert sie die Überschätzung
der Sekundärprävention weiter. Es fehlt eine überzeugende Präventionsstrate-

gie gegen die mit zunehmender Lebenserwartung steigende Wahrscheinlich-
keit, an Krebs zu erkranken. Appelle an die Eigenverantwortung und über
Ärztinnen/Ärzte zu vermittelnde Individualprävention laufen ins Leere und
gehören der präventionspolitischen Steinzeit an.

• Beim Aufbau von KKR fehlt es an Struktur-, Qualitäts- und Evaluationsvor-
gaben. Der Beitrag der privaten Krankenversicherung (PKV) zur Finanzie-
rung der Register ist völlig offen, weil er den Unternehmen freigestellt ist.

Drucksache 17/12223 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

• Für Darm- und Gebärmutterhalskrebs ist – ohne vorherige Prüfung des Nut-
zen-Schaden-Verhältnisses – eine beschleunigte Einführung der organisier-
ten Früherkennungsprogramme innerhalb von drei Jahren vorgesehen. Dieser
politische Wille der Bundesregierung steht im Widerspruch zur evidenz-
basierten Medizin und Gesundheitspolitik.

• Der Ausgangspunkt für den G-BA zur Ausgestaltung neuer Früherkennungs-
programme soll die Veröffentlichung von Qualitätssicherungsleitlinien für
Früherkennungsprogramme seitens der Europäischen Kommission sein.
Zweifelhaft ist, ob das Vorliegen der EU-Leitlinien gleichbedeutend ist mit
einem positiven Nutzen-Schaden-Verhältnis. Es bleibt zudem unklar, ob und
unter welchen Voraussetzungen der G-BA von den europäischen Leitlinien
abweichen kann.

• Falsch ist es, dem G-BA eine Frist für die Einführung eines organisierten
Früherkennungsprogramms zu setzen, wenn darin auch die wissenschaftliche
Überprüfung einbezogen ist. Wenn Erkenntnisse fehlen oder wenn diese nahe-
legen, ein Programm nicht einzuführen, muss es Entscheidungsalternativen
geben.

• Die Abschaffung der Sanktionsregel in § 62 Absatz 1 Satz 3 Nummer 2 des
Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) ist eine längst überfällige Klar-
stellung, zumal bereits der G-BA mit der Chroniker-Richtlinie von 2007
diese Regelung ein Stück weit aushebelte und aus der Teilnahmepflicht eine
Beratungspflicht machte. Andere gesetzlich vorgesehene Verhaltenssanktio-
nen des § 62 SGB V haben jedoch weiter Bestand; das ist inkonsequent und
steht im Widerspruch zu den im Entwurf selbst genannten Zielen einer infor-
mierten Entscheidung.

Auch die andere gesundheitspolitische Felder betreffenden Regelungen sind un-
zureichend:

• Um unnötige Operationen im Krankenhaus zurückzudrängen, will die Bun-
desregierung den Krankenhäusern Empfehlungen über Mengenanreize in den
Verträgen mit leitenden Ärztinnen und Ärzten an die Hand geben. Die Kran-
kenhäuser sollen in ihren Qualitätsberichten erklären, für welche Leistungen
ihre Verträge mengenbezogene Zielvereinbarungen enthalten. Eine solche
Regelung greift ins Leere, da sie lediglich die Folgen von Fehlanreizen an-
spricht, nicht aber an den Ursachen für Über- und Fehlversorgung im Kran-
kenhaus ansetzt. Solange es den Krankenhäusern betriebswirtschaftliche
Vorteile bringt, werden sie die Zahl medizinisch nicht notwendiger Kranken-
hausleistungen weiter steigern. Diese Fehlanreize sind zu beseitigen.

• Die Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen sollen die Befugnis erhalten,
approbations- oder berufsrechtlich relevante Daten an die zuständigen Heil-
berufskammern weiterzuleiten. Dies greift zu kurz.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf,

1. die in ihrem Gesetzentwurf vorgesehenen Maßnahmen der Krebsregistrie-
rung und -früherkennung auf eine stärker patientenorientierte und evidenz-
basierte Basis zu stellen. Dazu sind die folgenden Regelungen zu ergänzen:

• Bei den klinischen Krebsregistern sind Vorgaben zu Struktur und Anzahl
der Register zu ergänzen. Für klinische wie epidemiologische Krebsregis-
ter sind einheitliche Qualitätsstandards festzulegen. Um Doppelmeldun-
gen zu vermeiden, sind geeignete Regelungen zwischen den einzelnen
KKR sowie für den Übergang zwischen Kinderkrebsregister und den

KKR vorzusehen. Die PKV hat sich entsprechend ihrer Versichertenzah-
len verbindlich an der Mitfinanzierung der KKR zu beteiligen;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/12223

• Aufbau, Entwicklung und Ergebnisse der klinischen Krebsregistrierung
einschließlich der Bewertung ihres Einflusses auf die Qualität der onko-
logischen Versorgung sind fortlaufend wissenschaftlich zu evaluieren.
Sicherzustellen ist, dass die KKR dafür die erforderlichen Ergebnisse zur
Verfügung stellen, gegebenenfalls über die epidemiologischen Krebs-
register. Der G-BA legt im zweijährigen Rhythmus einen entsprechenden
landes- und bundesbezogenen Ergebnisbericht vor, der auch im Internet zu
veröffentlichen ist, und vergibt die notwendigen Forschungsaufträge;

• ein organisiertes Krebsfrüherkennungsprogramm darf erst dann ausgestal-
tet werden, wenn ihm eine wissenschaftliche Nutzen-Schaden-Abwägung
mit deutlich überwiegender Nutzenerwartung vorausgegangen ist. Des-
halb ist auch bezüglich der geplanten Darm- und Gebärmutterhalskrebs-
früherkennungsprogramme zunächst eine sorgfältige wissenschaftliche
Evaluation vorzunehmen. Diese muss ergebnisoffen sein. Eine Fristset-
zung für die Ausgestaltung der Programme ist erst nach der wissenschaft-
lichen Prüfung zweckmäßig;

• dem G-BA ist die Möglichkeit zu geben, von den EU-Leitlinien zur Qua-
litätssicherung abzuweichen, sofern es dafür gute und mit ausreichender
Evidenz belegte Gründe gibt;

• sicherzustellen ist, dass die Entscheidung über eine Teilnahme an Früh-
erkennungsuntersuchungen stets selbstbestimmt und auf der Basis einer
persönlichen Nutzen-Risiko-Abwägung stattfindet. Dazu sollen die zen-
tralen Stellen im ersten Schritt nicht direkt zur Teilnahme an den Unter-
suchungen einladen, sondern zunächst zu einem neutralen persönlichen
oder telefonischen Aufklärungs- und Informationsgespräch. Grundbedin-
gung für ein solches neutrales Gespräch ist die räumliche, personelle und
finanzielle Unabhängigkeit von den Screeningeinheiten. In den Gesprä-
chen und bei den ausgehändigten Materialien zu berücksichtigen sind die
Mindestanforderungen an Informationen zu Krebsfrüherkennungsunter-
suchungen des Fachbereichs Patienteninformationen des Deutschen Netz-
werks für evidenzbasierte Medizin;

• dem Vorrang einer informierten Entscheidung vor einer Erhöhung der
Teilnahmeraten müssen auch die Einladungsschreiben Rechnung tragen.
Dazu ist mit wissenschaftlicher Unterstützung ein neues und verbindliches
Musterschreiben zu entwickeln, das bereits an dieser Stelle auf die Not-
wendigkeit des Abwägens von Chancen und Risiken hinweist;

• für alle durchgeführten Früherkennungsprogramme sind kontinuierlich
Nutzen und Schaden wissenschaftlich zu evaluieren. Gesicherte For-
schungsergebnisse sind unmittelbar bei der Ausgestaltung der Programme
zu berücksichtigen. Hierzu vergibt der G-BA Forschungsaufträge und be-
richtet zweijährig dem Deutschen Bundestag. Die Ergebnisse sind gleich-
falls zu veröffentlichen;

• sämtliche Sanktionsregeln des § 62 SGB V sind abzuschaffen, um dem
Anspruch einer selbstbestimmten, informierten Entscheidung der Versi-
cherten über eine Teilnahme/Nichtteilnahme an Vorsorgeuntersuchungen
und anderen Versorgungsangeboten Rechnung zu tragen;

2. ein Präventionsgesetz vorzulegen, das unter anderem darauf abzielt, ver-
meidbare Risikofaktoren für Krebserkrankungen zu reduzieren und das
Potenzial an Schutzfaktoren auszuschöpfen und dabei insbesondere auch die
Umfeldfaktoren und Lebensverhältnisse vulnerabler Bevölkerungsgruppen
im Blick hat, anstatt an die eigenverantwortliche Veränderung des Lebens-
stils zu appellieren;

Drucksache 17/12223 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

3. das bestehende DRG-Fallpauschalensystem (DRG = diagnosebezogene Fall-
gruppen) weiterzuentwickeln, um Anreize für eine gute Ergebnisqualität und
den konkreten Gesundheitsnutzen der Leistungen zu schaffen und hierbei
darauf hinzuwirken, die Pauschalen – wie ursprünglich vorgesehen – stärker
an den Diagnosen als an Prozeduren auszurichten. Ergänzend dazu sollen
Krankenhäuser etwaige Mengenboni nicht nur in den Qualitätsberichten
anführen, sondern zusätzlich ab dem Zeitpunkt des Vertragsabschlusses im
Internet veröffentlichen sowie ihre Patientinnen und Patienten vor einer sta-
tionären Behandlung verbindlich in mündlicher und schriftlicher Form infor-
mieren;

4. die Korruption und Bestechlichkeit von angestellten Ärzten, Vertragsärzten
und von sonstigen Leistungserbringern im Gesundheitswesen durch eine Er-
gänzung des SGB V unter Strafe zu stellen.

Berlin, den 29. Januar 2013

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Krebserkrankungen sind in Deutschland die zweithäufigste Todesursache. Jeder
vierte Todesfall ist heute mit Krebs assoziiert. Maßnahmen, die dazu beitragen,
Krebsneuerkrankungen zu verhindern, die bereits erkrankten Menschen zu hei-
len bzw. deren Prognose und Lebensqualität zu verbessern, sind daher von hoher
gesundheitspolitischer Bedeutung. Auch wenn es hier weiterer intensiver For-
schung bedarf, haben therapeutische Fortschritte die Überlebenschancen der
Erkrankten verbessern können. Maßnahmen der Primärprävention und Gesund-
heitsförderung allerdings bleiben in unserem kurativ-medizinisch ausgerichte-
ten Gesundheitswesen vielfach ungenutzt.

Früherkennungsmaßnahmen als Maßnahmen der Sekundärprävention sind dann
sinnvoll, wenn sie durch relativ einfache, wenig belastende Untersuchungen
eine Erkrankung frühzeitig und sicher zu erkennen in der Lage sind und wenn
zusätzlich Behandlungsmöglichkeiten existieren, die die Überlebensaussichten
der Betroffenen verbessern. Der Nutzen des Screenings muss dessen Schaden
stets deutlich überlegen sein. Dieses positive Nutzen-Schaden-Verhältnis muss
vor Einführung eines aufwendigen Screenings erwiesen sein, zumindest müssen
starke Hinweise hierauf vorliegen. Der Nutzen von Früherkennungsmaßnahmen
bei Brust-, Darm- und Gebärmutterhalskrebs ist durchaus belegt. Studien aus
verschiedenen Ländern zeigen allerdings, dass sich dieser Nutzen auf nur sehr
wenige Menschen konzentriert und dass erheblich mehr Menschen einen Scha-
den davontragen. Von 2 000 Frauen zwischen 50 und 69 Jahren bleibt in zehn
Jahren Brustkrebsscreening (zweijährlich) genau einer Frau der Tod durch
Brustkrebs erspart. Dem gegenüber stehen die unmittelbaren Risiken der Unter-
suchung (Strahlenbelastung), die Zahl der 200 Frauen, die zunächst einen
psychisch belastenden falschen positiven Befund erhalten, welcher in weiteren
Prozeduren abgeklärt werden muss, und zehn Frauen, die sogar eine unnötige
Brustkrebsdiagnose und -behandlung erhalten. Jedes Screening – unabhängig
von der Krebsart – führt zu gehäuften Überdiagnosen und Übertherapien, das
bestätigen alle internationalen Erfahrungen. Darüber hinaus sind direkte Unter-
suchungsrisiken zu verbuchen, beim Darmkrebsscreening beispielsweise das
Risiko von Darmperforationen. Schließlich werden viele Krebsfälle trotz eines

Screenings nicht erkannt, das betrifft zum Beispiel jeden dritten bis fünften
Brustkrebs.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/12223

Weil Vorsorge- und Früherkennungsmaßnahmen stets ein eigenes gesundheit-
liches Risiko beinhalten und die vermeintliche und gewünschte Sicherheit, nicht
krank zu sein, „erkauft“ wird mit anderen gesundheitlichen Risiken, muss die
Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger über eine Teilnahme frei von Druck
und Sanktionen sein. Der Vorrang der informierten Entscheidung des Einzelnen
hat Vorrang vor allen anderen Zielen; auch vor dem Ziel, die Teilnahmeraten zu
erhöhen. Dies muss in allen Elementen eines organisierten Früherkennungspro-
gramms zum Ausdruck kommen. Im Widerspruch hierzu stehen aktuell die fi-
nanziellen Sanktionen, die das Sozialgesetzbuch bei Nichtteilnahme an den
angebotenen Programmen vorsieht.

Versicherte wie Ärztinnen und Ärzte überschätzen regelmäßig den Nutzen von
Früherkennungsmaßnahmen: Fälschlicherweise wird häufig angenommen, die
Teilnahme am Screening würde Krebs verhindern oder das Erkrankungsrisiko
reduzieren. Die Häufigkeit von falschen positiven und falschen negativen Ergeb-
nissen wird unterschätzt. Das Krebsrisiko hingegen wird deutlich überschätzt,
wozu auch Angst schürende Werbekampagnen zur Krebsvorsorge beitragen.
Eine Teilnahme am Screening bedeutet für viele Menschen die falsche Sicher-
heit, eben nicht an Krebs erkrankt zu sein. Auch das aktuelle Mustereinladungs-
schreiben der zentralen Stellen vermittelt ein einseitig positives Bild von der
Teilnahme am Brustkrebsscreening und genügt damit nicht der ethisch gebote-
nen Ausgewogenheit von Patienteninformationen. Hingegen stellt das den Ein-
ladungen beigefügte Merkblatt die Vor- und Nachteile von Früherkennungsun-
tersuchungen ausgewogen dar, reicht aber zur Vorbereitung einer informierten
Entscheidung alleine nicht aus.

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