BT-Drucksache 17/12056

Für eine neue Haltung - Artgerecht statt massenhaft

Vom 15. Januar 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/12056
17. Wahlperiode 15. 01. 2013

Antrag
der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Cornelia Behm, Harald Ebner, Nicole
Maisch, Bärbel Höhn, Undine Kurth (Quedlinburg), Markus Tressel, Katja Dörner,
Hans-Josef Fell, Bettina Herlitzius, Dr. Anton Hofreiter, Sven-Christian Kindler,
Sylvia Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Stephan Kühn, Dr. Hermann E. Ott, Claudia
Roth (Augsburg), Dorothea Steiner, Daniela Wagner, Beate Walter-Rosenheimer,
Dr. Valerie Wilms und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine neue Haltung – Artgerecht statt massenhaft

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Intensivtierhaltung in Deutschland hat eine Dimension erreicht, deren
Auswirkungen von der Gesellschaft nicht länger akzeptiert werden. Diese Form
der Tierhaltung kommt die Allgemeinheit teuer zu stehen, denn ihre ökolo-
gischen und sozialen Folgekosten werden nicht an der Ladentheke beglichen.
Die Fleischindustrie profitiert dabei von Privilegien im Baurecht, die sich
eigentlich an bäuerliche Betriebe mit flächengebundener Tierhaltung richten.
Den Kommunen ist es aufgrund der geltenden Rechtslage nicht möglich, den
Bau von Intensivtierhaltungsanlagen zu verbieten oder ins Industriegebiet zu
verbannen. Ein grundsätzliches Umsteuern im System der Tierhaltung ist un-
vermeidbar.

Die Intensivtierhaltung in Deutschland ist entgegen anderen Behauptungen kein
Beitrag zur Sicherung der Welternährung. Im Gegenteil: 30 Prozent der Welt-
getreideernte landen heute nicht auf dem Teller, sondern im Trog. Die Inten-
sivtierhaltung ist damit zum Nahrungsmittelkonkurrenten des Menschen gewor-
den. Exporte von Billigprodukten und hierzulande nicht vermarktbaren
Fleischteilen z. B. nach Afrika treiben zudem die lokalen Bäuerinnen und Bau-
ern in den Ruin. Die weltweit steigende Flächennachfrage für den Anbau von
Futtermitteln und Energiepflanzen führt dazu, dass Kleinbauern von ihrem Land
vertrieben und die Lebensmittelerzeugung der Menschen vor Ort verdrängt
werden. Die Ernährungssouveränität wird dadurch systematisch konterkariert.
Angesichts von 900 Millionen Hungernden in der Welt muss Deutschland hier
mehr Verantwortung übernehmen und seine Politik ändern.

Massentierhaltung fördert Artensterben und Klimawandel. Für den Anbau von

– zumeist gentechnisch verändertem – Soja und Mais als Grundlage für die
intensive Fleischproduktion wird Regenwald gerodet und Grünland umgebro-
chen. Das führt nicht nur zu Freisetzung von CO2-Emissionen, sondern auch zum
Verlust von biologischer Vielfalt hier und in den Tropen. Mensch und Umwelt
leiden unter dem massiven Pestizideinsatz, der mit dem Anbau von herbizid-
toleranten GVO-Pflanzen (GVO = gentechnisch veränderte Organismen) ein-
hergeht. Billiges Fleisch auf Grundlage millionenfachen Tierleids ist ein tagtäg-

Drucksache 17/12056 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

licher Skandal. Seit 2002 ist Tierschutz als Staatsziel im Grundgesetz verankert.
Tiere müssen als unsere Mitlebewesen ihr arteigenes Verhalten ausleben kön-
nen. Es muss Schluss damit sein, Tiere auf engstem Raum zusammenzupferchen
und sie durch Amputationen an die Haltungssysteme anzupassen. Als Schmier-
stoff für diese Form der Intensivtierhaltung dient der massive Einsatz von Anti-
biotika. 100 Prozent der Mastkälber, 90 Prozent der Hühner und 50 Prozent der
Schweine erhalten diese regelmäßig. Eine Einzeltierbehandlung erkrankter
Tiere ist in der industrialisierten Tierhaltung im Regelfall nicht mehr vorgese-
hen. Dieser Missbrauch verursacht die Bildung von Antibiotikaresistenzen und
gefährdet damit die Gesundheit der Bevölkerung. Wissenschaftler warnen be-
reits vor einer Rückkehr in die „präantibiotische Ära vor 1945“.

Die fortschreitende Industrialisierung der Tierhaltung sowie die oftmals ausbeu-
terischen Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie stoßen in der Gesellschaft
auf deutlichen Widerstand. Überall im Land entstehen Bürgerinitiativen gegen
den Bau neuer Großmastanlagen. Im Netzwerk „Bauernhöfe statt Agrarfabri-
ken“ haben sie sich mit Bauern-, Umwelt- und Tierschutzverbänden sowie den
Kirchen zusammengeschlossen, um gemeinsam für eine zukunftsfähige, artge-
rechte und nachhaltige Nutztierhaltung zu streiten. Am 19. Januar 2013 werden
zum dritten Mal tausende Menschen in Berlin auf die Straße gehen, um unter
dem Motto „Wir haben es satt“ für einen Paradigmenwechsel in der Agrarpolitik
zu demonstrieren.

Doch weder der wachsende Protest der Bürgerinnen und Bürger noch der
Wunsch der Verbraucherinnen und Verbraucher nach tiergerecht erzeugten
Lebensmitteln oder die inakzeptablen ökologischen und sozialen Folgen der In-
tensivtierhaltung fallen in dieser Bundesregierung auf fruchtbaren Boden. Sie
nimmt ihre Verantwortung, die eklatanten Fehlentwicklungen und Folgepro-
bleme dieser Tierhaltung zu beheben, nicht wahr. Stattdessen fördert sie weiter
unbeirrt die aggressive Exportpolitik der großen Fleischkonzerne und die Inten-
sivierung der Landwirtschaft. Den Protest aus der Gesellschaft versucht sie, mit
Imagekampagnen und dem verbalen Tierschutzengagement der zuständigen
Bundesministerin zu besänftigen. Doch schöne Worte helfen nicht, wenn ihnen
keine Taten folgen.

Um die Ernährungssouveränität und die ländlichen Räume zu stärken, das Klima
zu schützen, die biologische Vielfalt zu erhalten sowie das Wasser und den
Boden zu schonen, muss das System der Agrarindustrie überwunden werden.
Die richtige Antwort auf diese Herausforderungen ist eine bäuerliche, das heißt
ökologisch, sozial und wirtschaftlich nachhaltige Landwirtschaft mit regional
angepasster Größenstruktur und artgerechter Tierhaltung. Diese ist kein Relikt
der Vergangenheit, sondern hochaktuell und im besten Sinne modern.

Hierzu bedarf es der richtigen politischen Rahmensetzungen in Deutschland,
aber auch auf europäischer Ebene. Im Rahmen der Reform der Gemeinsamen
Agrarpolitik muss das Prinzip „Öffentliches Geld für öffentliche Güter“ mit
einem ambitionierten Greening, einer wirksamen Degression und Kappung so-
wie einer starken zweiten Säule konsequent umgesetzt werden. Die Bundes-
regierung muss ihre Blockadehaltung gegenüber den Reformvorschlägen der
Europäischen Kommission endlich beenden und konstruktiv am gesellschaftlich
geforderten Umbau der europäischen Agrarpolitik mitwirken.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Agrarpolitik auf die Förderung einer ökologisch, sozial und wirtschaftlich
nachhaltigen Landwirtschaft und Tierhaltung auszurichten und dazu

• im Rahmen der Verhandlungen um den Mehrjährigen Finanzrahmen der

EU und der Reform der europäischen Agrarpolitik für ein ambitioniertes
Greening mit den drei von der Europäischen Kommission vorgeschlage-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/12056

nen Komponenten Fruchtfolge, Grünlanderhalt und ökologische Vorrang-
flächen sowie ein wirkungsvolles, den Arbeitskraftbedarf berücksich-
tigendes Modell für Degression und Kappung einzutreten,

• sich für eine starke zweite Säule einzusetzen und weder eine überpropor-
tionale Kürzung der zweiten Säule gegenüber der ersten Säule noch die
Möglichkeit der Umschichtung von Finanzmitteln aus der zweiten in die
erste Säule mitzutragen,

• in Abstimmung mit den Bundesländern die Gemeinschaftsaufgabe Agrar-
struktur und Küstenschutz auf Maßnahmen zur Förderung der artgerech-
ten, flächengebundenen Tierhaltung, des ökologischen Landbaus, des
Schutzes von Klima, Umwelt und Biodiversität sowie des Ausbaus von
regionalen Verarbeitungs- und Vermarktungsstrukturen zu konzentrieren
und die Regelförderung für Stallerweiterungen abzuschaffen,

• den Anbau von Eiweißpflanzen als Futtergrundlage in Deutschland über
Forschung, Beratung und Agrarumweltmaßnahmen zu fördern und sich
auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass der Anbau von Eiweiß-
pflanzen zur Voraussetzung für den Erhalt von Direktzahlungen wird;

2. politische Leitplanken für eine nachhaltige, artgerechte und flächengebun-
dene Tierhaltung zu schaffen und dazu

• die Privilegierung von Tierhaltungsanlagen im Baugesetzbuch auf land-
wirtschaftliche Betriebe, die mehr als 50 Prozent des Futters auf eigenen
Flächen erzeugen, zu begrenzen und Intensivtierhaltungsanlagen, die eine
förmliche Genehmigung nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz be-
nötigen, sowie Gemeinden mit hohen Tierbesatzdichten generell von der
Privilegierung auszuschließen,

• die immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren für Tierhal-
tungsanlagen zu verschärfen und die Öffentlichkeitsbeteiligung im Ge-
nehmigungsverfahren zu verbessern, um Mensch und Umwelt besser vor
Belastungen zu schützen,

• für jede landwirtschaftlich genutzte Tierart eine Tierschutz-Nutztierhal-
tungsverordnung zu erlassen bzw. die bestehenden zu überarbeiten, um
ausreichend Platz, Auslauf, Beschäftigungsmaterial und Licht sowie art-
gerechtes Futter verpflichtend vorzuschreiben und somit gute Haltungs-
bedingungen für die Tiere zu schaffen,

• die Versäumnisse der dritten Änderung des Tierschutzgesetzes zu beheben
und einen neuen Gesetzentwurf vorzulegen, der sowohl die Anpassung
der Landwirtschaftstiere an die Haltungssysteme durch Teilamputationen
als auch Qualzuchten und Klonen wirksam verbietet,

• ein ambitioniertes Gesamtkonzept zur Reduzierung des massiven Anti-
biotikaeinsatzes in der Tierhaltung vorzulegen, das neben der wirksamen
Dokumentation in einer zentralen Datenbank auch klare Regeln für die
Bestandsbehandlung, Festpreise für Antibiotika sowie die Einrichtung
einer Tierarzneianwendungskommission umfasst;

3. Information und Entscheidungsfreiheit der Verbraucherinnen und Verbrau-
cher zu stärken und dazu

• eine umfassende Tierhaltungskennzeichnung für alle Lebensmittel einzu-
führen, damit die Konsumenten auf einen Blick erkennen können, wie die
Tiere gehalten wurden; es muss außerdem immer erkennbar gemacht wer-
den, wenn Zutaten oder Verarbeitungshilfsstoffe tierischen Ursprungs in
Lebensmitteln enthalten sind oder bei deren Herstellung eingesetzt wurden,
• verbrauchertäuschende Werbung, die Auslauf und tiergerechte Haltung
vorgaukelt, wirkungsvoll zu unterbinden,

Drucksache 17/12056 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
• sich auf europäischer Ebene für eine Ausweitung der Gentechnikkenn-
zeichnung auf tierische Produkte, die mit GVO-Futter erzeugt wurden,
einzusetzen,

• die gentechnikfreie Erzeugung von Futter- und Lebensmitteln im In- und
Ausland zu unterstützen, insbesondere durch eine bundesweite Kampagne
zur Bekanntmachung des Qualitätssiegels „ohne Gentechnik“,

• eine öffentliche Aufklärungskampagne zu den gesundheitlichen, sozialen
und ökologischen Folgen eines zu hohen Fleischkonsums und den Ansät-
zen einer nachhaltigen Ernährung zu starten,

• das vegetarische und vegane Angebot in den Kantinen des Bundes aus-
zubauen und den sogenannten Veggie Day einzuführen,

• sich gemeinsam mit den Ländern für eine Stärkung der Ernährungsbildung
an Kindertagesstätten und Schulen einzusetzen, damit das Bewusstsein für
eine gesunde, nachhaltige Ernährung von Anfang an mitwächst.

Berlin, den 15. Januar 2013

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.