BT-Drucksache 17/11987

Bilanz und Neuauflage des Programms Forschung für die zivile Sicherheit

Vom 20. Dezember 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11987
17. Wahlperiode 20. 12. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Jan Korte, Karin Binder, Steffen Bockhahn,
Nicole Gohlke, Inge Höger, Ulla Jelpke, Frank Tempel und der Fraktion DIE LINKE.

Bilanz und Neuauflage des Programms Forschung für die zivile Sicherheit

Das erste im Jahr 2007 von der Bundesregierung aufgelegte Forschungspro-
gramm für die zivile Sicherheit wies zwei Stoßrichtungen auf. Die Bundesregie-
rung berief sich darin zum einen auf drohende Gefahren durch Terrorismus und
organisierte Kriminalität für Leib und Leben der Bevölkerung, für Versorgungs-
infrastrukturen sowie für Wertschöpfungsketten. Auf Nachfragen der Fraktion
DIE LINKE. gab sie als Ausgangspunkt für die angenommenen düsteren Zu-
kunftsszenarien den Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht von 2006 an, der
vom Bundesministerium des Innern zusammen mit dem Bundesministerium der
Justiz erstellt wurde. Das zweite Standbein des Forschungsprogramms bilden
der Bevölkerungsschutz bei Naturkatastrophen sowie Großschadensfälle, wie
beispielsweise Massenpanik. Diese zwei unterschiedlichen Perspektiven und
Handlungsrahmen für Sicherheit werden im Englischen als „Security“ und
„Safety“ voneinander unterschieden.

Die Fraktion DIE LINKE. hat das Programm dafür kritisiert, dass es die Stär-
kung der Marktposition der deutschen Sicherheitswirtschaft zu einem seiner
Hauptziele macht. Wenn, wie im Programm erklärt, per staatliche Nachfrage ein
Leitmarkt für private Sicherheitstechnologien unterstützt werden soll, kann der
Bedarf nach Sicherheitstechnologien im öffentlichen Raum nicht mehr neutral
ermittelt werden. Weder in der Vorbereitung noch im Portfolio des Programms
waren grundlegende Analysen zum Sicherheitsbedarf der Bevölkerung, Debat-
ten um Sicherheitstechnologien im Spannungsfeld von Freiheitsrechten oder die
subjektive Dimension der Wahrnehmung von Unsicherheit und Sicherheit vor-
gesehen. Es besteht die Gefahr, dass (sicherheits-)wirtschaftliche Perspektiven
über den gesellschaftlichen Dialog gestellt werden und es auf diesem Wege auch
zur Versicherheitlichung politischer Problemlösungsstrategien kommt.

In die Projektdurchführung sind neben der Wissenschaft auch sogenannte End-
nutzer wie Behörden oder private Betreiber von sicherheitsrelevanten Einrich-
tungen einbezogen worden, jedoch keine Datenschützer, Bürgerrechtsgruppen
und andere Vertreterinnen bzw. Vertreter der Zivilgesellschaft, die vielfach zu
„Mitnutzern“ werden, da sie von den Sicherheitslösungen später im Alltag be-
troffen sind.

Als Reaktion auf die Auseinandersetzung mit allen Oppositionsfraktionen hat

die Bundesregierung den Fachdialog Sicherheitsforschung am Fraunhofer-Insti-
tut für System- und Innovationsforschung ISI in Karlsruhe eingerichtet. Auf den
Internetseiten des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF)
werden als Aufgaben des Fachdialogs die Organisation von Expertenrunden zu
gesellschaftlich relevanten Fragestellungen und die anschließende Überführung
der dort gesammelten Erkenntnisse in einen öffentlichen Dialog beschrieben.
Dazu zählt das dieses Jahr in Berlin durchgeführte BMBF-Innovationsforum

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„Zivile Sicherheit“, auf dem u. a. viele interessante Projekte zur öffentlichen Si-
cherheit und ihrer Kommunikation sowie zur Wahrnehmung von Sicherheit und
Unsicherheit im Stadt-Land-Verhältnis, bei unterschiedlichen sozialen Gruppen
und bei politischen Entscheidungsträgern diskutiert worden sind.

In der zweiten Auflage des Forschungsprogramms Forschung für zivile Sicher-
heit 2012– 2017 erhalten die gesellschaftlichen Aspekte der zivilen Sicherheit in
Form eines eigenen Förderschwerpunkts auf den ersten Blick eine Aufwertung.
Da das Rahmenprogramm aber sehr allgemein gehalten und nicht mit Pro-
jektthemen untersetzt ist, bleibt die faktische Ausrichtung unklar. Das ist umso
bedauerlicher, als die Bundesregierung ebenfalls die Annahmen schuldig bleibt,
aus denen sie den Bedarf für das aktuelle millionenschwere Forschungspro-
gramm ermittelt hat. Auf Seite 8 ff. des Rahmenprogramms ist die Rede von
einem „veränderten Freiheitsbegriff“, vom „Wandel gesellschaftlicher Sicher-
heitskulturen“ oder vom „Wandel staatlicher Vorsorgeaufgaben“, ohne Aus-
gangspunkt und Charakter der gemeinten Veränderungen näher zu beschreiben
und in irgendeiner Form zu belegen. Es bleibt unklar, ob es sich um veränderte
politische Leitlinien oder ob es sich um empirische Beobachtungen handelt, die
in der Wissenschaft bzw. von der Bundesregierung beauftragten Untersuchungen
festgehalten werden. Wandel als bloße Leerformel kann hingegen nicht als
Grundlage für ein bislang inhaltlich eng gesteuertes Forschungsprogramm und
als Begründung für einen erhöhten politischen Handlungsbedarf im Bereich der
zivilen Sicherheit überzeugen.

Zudem stellt sich auch hier wieder die Frage nach der Beteiligung von Vertrete-
rinnen bzw. Vertretern der Zivilgesellschaft bei der Konzipierung und Durchfüh-
rung des Programms, wenn es heißt, dass „Sicherheitsforschung an gesellschaft-
lichen Fragestellungen, die Bürgerinnen und Bürger in ihrem unmittelbaren
Lebensumfeld betreffen, ausgerichtet“ wird (S. 4).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wann wird die beim Innovationsforum des BMBF im April 2012 vom Refe-
ratsleiter für Sicherheitsforschung im BMBF, Dr. Wolf Junker, angekündigte
Evaluation des in diesem Jahr auslaufenden Programms für die zivile Sicher-
heit vorgelegt?

Welchen Fragestellungen widmet sich die Evaluation?

Wer führt sie durch, und aus welchem Grund fiel die Wahl auf diese Einrich-
tung?

2. Welche Gremien sind mit der Sicherheitsforschung befasst, und in welchen
werden die Ergebnisse der Evaluation zur Kenntnis genommen und disku-
tiert?

3. Welchen prozentualen Anteil an den Ausgaben für das Forschungsprogramm
für zivile Sicherheit nimmt die gesellschaftswissenschaftliche Forschung und
Begleitung ein?

4. Was ist jeweils mit dem von der Bundesregierung im Rahmenprogramm zur
Neuauflage des Programms für die zivile Sicherheit genannten Wandel
gesellschaftlicher Sicherheitskulturen, Wandel des Freiheitsbegriffs und
Wandel der staatlichen Vorsorgeaufgaben genauer gemeint?

5. Auf welcher Art von Debatten, beauftragten Studien oder vorhandenen wis-
senschaftlichen Ergebnissen beruhen diese Vorstellungen und Analysen?

6. Welche aktuelleren umfassenden Analysen seit dem Zweiten Periodischen
Sicherheitsbericht von 2006 gibt es, auf deren Grundlage die Bundesregie-
rung die Notwendigkeit für mehr Forschung zur zivilen Sicherheit im
Bereich der Terrorabwehr und Gefahr für das Leben der Bevölkerung und für

Versorgungsinfrastrukturen begründet?

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7. Wie relevant schätzt die Bundesregierung den weltweit wachsenden Markt
an Sicherheitstechnologien für den Standort Deutschland ein?

8. Wie hoch sind die momentanen Anteile der Exporte von Sicherheitstechno-
logien an den gesamtdeutschen Exporten?

9. Gibt es Prognosen oder Zielvorstellungen dazu für die kommenden Jahre
(bitte in Prozent und Euro angeben)?

10. Welche Programmlinien der Neuauflage des Programms für die zivile Sicher-
heit ordnet die Bundesregierung eher dem Security-Aspekt und welche dem
Safety-Aspekt von Sicherheit zu?

11. Nach welchen Aspekten sind die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie
die Expertinnen und Experten der Agenda-Workshops zur Fortschreibung
des Forschungsprogramms für die zivile Sicherheit vom November und
Dezember 2010 ausgewählt worden?

12. Weshalb sind insbesondere beim Agenda-Workshop vom 13. Dezember
2010 zu „Herausforderungen für Bürgerinnen und Bürger und das Gemein-
wesen“ zwar „50 Teilnehmer aus Industrie, Forschung und dem Endnutzer-
bereich“ für die Arbeitsgruppen eingeladen worden, jedoch keine Vertre-
terinnen bzw. Vertreter der Zivilgesellschaft, wie Bürgerrechtsverbände,
Verbraucherschutzorganisationen, Datenschützerinnen bzw. Datenschützer,
Gewerkschaften oder andere?

13. Ist zukünftig bei diesem oder anderen Förderprogrammen eine stärkere
Beteiligung der Zivilgesellschaft, wie sie etwa bei der Beratung des Förder-
programms für Sicherheitsforschung im benachbarten Österreich praktiziert
worden ist, angedacht?

Wenn nein, warum nicht?

14. Welche genauen Aufgaben hat der 18-köpfige Wissenschaftliche Programm-
ausschuss Sicherheitsforschung, der in neuer Zusammensetzung im März
2012 seine Arbeit aufgenommen hat?

Wer entscheidet über seine Zusammensetzung?

15. Wie begründet es die Bundesregierung, dass im Wissenschaftlichen Pro-
grammausschuss, der ein nach Angaben des BMBF unabhängiges Exper-
tengremium sei, neben der Wissenschaft auch Behörden und die Industrie
vertreten sind, jedoch nicht die gemeinnützige organisierte Zivilgesell-
schaft?

16. Auf welche Art und Weise unterstützt der Programmausschuss insbesondere
„die Verzahnung der deutschen mit den europäischen Aktivitäten im Be-
reich der zivilen Sicherheitsforschung“ (Rahmenprogramm Forschung für
die zivile Sicherheit 2012–2017, S. 24)?

17. Was genau ist mit der Bezeichnung des Programms für die zivile Sicher-
heitsforschung als „lernendes Programm“ mit „flexibler Förderpolitik“ ge-
meint (ebenda), und inwiefern unterscheidet es sich dabei von anderen
Förderprogrammen des BMBF?

18. Welche Personen mit welchen Funktionen gehören dem Ressortkreis Sicher-
heitsforschung an, in dem die ressortübergreifende Abstimmung der Bun-
desministerien organisiert wird?

19. Welche Aktivitäten und Aufgaben hat der Fachdialog Sicherheitsforschung
bislang geleistet, und wie lange wird er seine Aufgaben noch wahrnehmen?

Wo und in welcher Weise fand der in sein Aufgabengebiet fallende öffent-

liche Dialog zu Fragen von Sicherheit statt?

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Welche Ergebnisse und welche Schlussfolgerungen hat die Bundesregie-
rung daraus gezogen?

20. In welchen Bereichen und mit welchen Zielen sind die im Forschungspro-
gramm angesprochenen „Sicherheitspartnerschaften“ geplant?

Haben hierzu bereits Gespräche mit potenziellen Partnern stattgefunden?

Wenn ja, mit wem, zu welchen Themen, und mit welchen Ergebnissen?

21. Welche Rolle soll aus Sicht der Bundesregierung die Sicherheitsforschung
einnehmen, die im Rahmen des im Mai 2012 eingerichteten und aus den
Mitteln des Pakts für Forschung und Innovationen finanzierten Helmholtz-
Sicherheitsforums gefördert wird?

Welcher Mehrwert soll aus Sicht der Bundesregierung aus diesem, nach
Angaben der Helmholtz-Geschäftstelle „im Dialog mit dem Zuwendungs-
geber“ erstellten Format für Sicherheitsforschung im Vergleich zum gerade
neu aufgelegten Forschungsprogramm für die zivile Sicherheit entstehen?

22. Welches sind die am Finanzvolumen der Zuwendung gemessenen je zehn
größten Zuwendungsnehmer des ersten Programms für die zivile Sicher-
heitsforschung aus

a) der Wirtschaft,

b) gemeinnützigen Einrichtungen wie Behörden, Verbände, öffentliche Un-
ternehmen etc.,

c) der Hochschulforschung und

d) der außeruniversitären Forschung

(bitte mit Auflistung der zugehörigen Forschungsprojekte, - volumina und
Kooperationspartner)?

23. Wie versucht die Bundesregierung sicherzustellen, dass die im Rahmen des
Programms für die zivile Sicherheitsforschung erbrachten Forschungsergeb-
nisse nicht anschließend wehrtechnisch oder militärisch verwertet werden?

Sieht die Bundesregierung hier weiteren Handlungsbedarf?

Wenn ja, was plant die Bundesregierung?

Wenn nein, weshalb nicht?

24. Wie viele Verwertungspläne für die erarbeiteten Forschungsergebnisse wur-
den der Bundesregierung seit Beginn der ersten Phase des zivilen Sicher-
heitsprogramms von den Förderempfängern vorgelegt?

25. Sind diese Verwertungspläne öffentlich einsehbar?

Wenn nein, warum nicht, und wer hat die Möglichkeiten die Verwertungs-
pläne einzusehen?

26. Inwiefern ist die Deutsche Forschungsgemeinschaft e. V. (DFG) mit finan-
ziellen Mitteln oder Personen am Programm oder einzelnen Projekten des
Programms für die zivile Sicherheitsforschung beteiligt?

27. Wie bewertet es die Bundesregierung, dass entgegen ihrer Aussage in
parlamentarischen Anfragen auf Bundestagsdrucksache 16/10156 zu den
Fragen 5 und 6 sowie auf Bundestagsdrucksache 17/8434, dass das BMBF
und die DFG keine wehrtechnisch oder militärisch relevante Forschung und
Entwicklung finanzieren, auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE.
im Niedersächsischen Landtag seitens der Landesregierung Niedersachsens
das BMBF in fünf Fällen und die DFG in drei Fällen als Auftraggeber für

militärische und sicherheitstechnische Forschung angegeben worden sind
(Niedersächsischer Landtag, Drucksache 16/5042), wobei sicherheitstech-

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nische Forschung ausdrücklich definiert wurde als „alle FuE-Aktivitäten,
die unmittelbar der militärischen Verteidigung bzw. den Streitkräften eines
Landes oder eines Militärbündnisses dienen“ (Niedersächsischer Landtag,
Drucksache 16/1282)?

Sieht sich die Bundesregierung veranlasst, ihre bisherige Aussage, dass das
BMBF und die DFG keine wehrtechnische oder militärisch relevante For-
schung finanziert oder in Aufrag gegeben haben, zu revidieren (bitte mit Be-
gründung)?

28. Wie bewertet die Bundesregierung den Vorschlag, der Dual-Use-Problema-
tik bei Zivilklauseln an Hochschulen und Forschungseinrichtungen dadurch
zu begegnen, dass der Wissenschaftsrat beauftragt wird, im Dialog mit der
Allianz der Wissenschaftsorganisationen und der Hochschulrektorenkonfe-
renz (HRK) einen Kodex zur zivilen Forschung und Lehre zu erstellen, der
beispielsweise Leitlinien zur Auswahl der Drittmittelgeber, zu Stellenbeset-
zungen, zu Nebentätigkeiten der Professorinnen bzw. Professoren und lei-
tenden Forscherinnen bzw. Forschern u. Ä. enthält?

29. Wie bewertet die Bundesregierung den Vorschlag, die Vergabepraxis im
Rahmen der öffentlichen Projektförderung an Hochschulen und For-
schungseinrichtungen entsprechend eines oben genannten Kodex für zivile
Forschung anzupassen?

Welche anderen Verfahren sind aus Sicht der Bundesregierung vorstellbar?

Berlin, den 20. Dezember 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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