BT-Drucksache 17/11927

Stand der Verhandlungen zur Neufassung von EU-Richtlinien im Asylrecht und Haltung der Bundesregierung

Vom 17. Dezember 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11927
17. Wahlperiode 17. 12. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dag˘delen, Annette Groth, Andrej Hunko,
Niema Movassat, Petra Pau, Frank Tempel, Kathrin Vogler, Halina Wawzyniak,
Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Stand der Verhandlungen zur Neufassung von EU-Richtlinien im Asylrecht und
Haltung der Bundesregierung

Die Europäische Union (EU) hatte sich zum Ziel gesetzt, bis Ende dieses Jahres
ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem zu schaffen. Zentrale Vorhaben wie
die Neufassung der Verordnung zur Regelung der Zuständigkeit für Asylverfah-
ren (Dublin-II-Verordnung) und die Aufnahmerichtlinie befinden sich derzeit
entweder vor ihrem formalen Abschluss oder in der informellen Beratung zwi-
schen EU-Rat, Europäischer Kommission und EU-Parlament.

Besondere Aufmerksamkeit erregt die Richtlinie zur Festlegung von Mindestnor-
men für die Aufnahme von Schutzsuchenden (Aufnahmerichtlinie). In dieser
Richtlinie werden Mindeststandards für die materiellen Aufnahmebedingungen für
Schutzsuchende in der EU festgelegt. Die Kritik von Flüchtlings- und Menschen-
rechtsorganisationen richtet sich aktuell insbesondere gegen die dort vorgesehe-
nen Möglichkeiten einer Inhaftierung von Schutzsuchenden. Schutzsuchende
dürften demnach zwar nicht allein aufgrund ihres Antrags auf internationalen
Schutz inhaftiert werden. Es werden jedoch eine Reihe von Ausnahmetatbestän-
den geschaffen, etwa zur Feststellung der Identität, zur Beweissicherung, zur
Prüfung des Einreiserechts, wegen einer verspäteten Asylantragstellung, wegen
Gründen der nationalen Sicherheit und Ordnung sowie der Gefahr des Untertau-
chens. Pro Asyl spricht von einem „europaweit geplanten Inhaftierungspro-
gramm zur Abwehr von Flüchtlingen“ (www.flucht-ist-kein-Verbrechen.de),
denn die Inhaftierungsregelungen erlaubten es, „jeden asylsuchenden Menschen
in der EU jederzeit und an jedem Ort zu inhaftieren.“ Die Organisation weist
darauf hin, dass selbst Minderjährige ausdrücklich nicht von möglichen Inhaf-
tierungen ausgenommen sind. Pax Christi sprach in einer Mitteilung (Katho-
lische Nachrichtenagentur, 5. Dezember 2012) davon, dass die Aufnahmericht-
linie so gestaltet sei, „dass sie wie eine Inhaftierungsrichtlinie wirken“ werde.
Bereits an der Grenze könnte ausnahmslos jeder Schutzsuchende inhaftiert wer-
den, um das Einreiserecht zu prüfen.

Nicht nur im Rahmen der Aufnahmerichtlinie ist die Möglichkeit der Inhaftie-
rung Schutzsuchender vorgesehen. Auch die Dublin-Verordnung enthält weiter-

hin ausdrücklich die Möglichkeit, Schutzsuchende vor ihrer Überstellung in
einen anderen Mitgliedstaat, der für die Durchführung ihres Asylverfahrens
zuständig ist, in Haft zu nehmen. Die Rede ist von Inhaftierungszeiten bis zu
18 Monaten.

Drucksache 17/11927 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Mitgliedstaaten der EU sehen in ihren derzeitigen nationalen Rege-
lungen vor oder praktizieren dies, Asylsuchende inhaftieren zu können

a) im Falle einer ungeklärten Identität der Betroffenen,

b) für eine Beweissicherung im Asylverfahren,

c) zur Prüfung des Einreiserechts,

d) im Falle der verspäteten Asylantragstellung,

e) aus Gründen der nationalen Sicherheit und Ordnung und

f) bei der Gefahr des Untertauchens

(bitte jeweils nach Mitgliedstaaten differenziert und so genau wie möglich
darstellen)?

2. Welche Mitgliedstaaten haben sich im Laufe der Verhandlungen über die
Aufnahmerichtlinie für die Verabschiedung der derzeit im Rat konsentierten
Inhaftierungsregelungen ausgesprochen?

3. Welche Prioritäten hat die Bundesregierung bei der Verhandlung der Aufnah-
merichtlinie verfolgt?

4. Welche Positionen hat die Bundesregierung bei den Verhandlungen in den
Ratsgremien zur Frage der Inhaftierung Asylsuchender bezüglich der einzel-
nen vorgesehenen Haftgründe vertreten (bitte differenziert nach den einzel-
nen möglichen Haftgründen antworten, siehe Frage 1)?

5. Wie beurteilt die Bundesregierung die z. B. von Pro Asyl geäußerte Befürch-
tung (siehe Vorbemerkung der Fragesteller), dass es in einzelnen Mitglied-
staaten zu einer faktisch flächendeckenden Inhaftierung von Asylsuchenden
kommen könnte, weil mögliche Gründe wie Zweifel an der Identität oder der
Prüfung des Einreiserechts letztlich für alle Asylsuchenden geltend gemacht
werden können, und wenn sie diese Gefahr sieht oder nicht ausschließen
kann, was unternimmt sie oder hat sie unternommen, um ein Inkrafttreten der
entsprechenden Regelungen zu verhindern?

6. Inwieweit sieht die Bundesregierung in einer flächendeckenden Inhaftierung
Asylsuchender einen Verstoß gegen Vorgaben der Genfer Flüchtlingskonven-
tion, die die Inhaftierung Asylsuchender verbieten (bitte ausführen)?

7. Welche Verfahrenssicherungen sind in der Aufnahmerichtlinie oder ggf. an-
deren Richtlinien vorgesehen, um eine faktisch flächendeckende Inhaftie-
rung Asylsuchender oder jedenfalls massive aufenthaltsbeschränkende Maß-
nahmen gegen alle neu eingereisten Asylsuchenden auszuschließen?

8. Was ist der Bundesregierung dazu bekannt, welche Mitgliedstaaten künftig
von den Möglichkeiten der Inhaftierung Asylsuchender Gebrauch machen
wollen, die in ihren bisherigen nationalen Regelungen keine solche Inhaftie-
rung vorsehen?

9. Welche Erkenntnisse oder Einschätzungen hat die Bundesregierung dazu, in
welchem Umfang Asylsuchende, die im Rahmen der Dublin-Zuständigkeits-
regelungen von Deutschland in einen anderen Mitgliedstaat überstellt werden
sollen

a) inhaftiert werden und

b) auch bei einem Widerspruch oder nach Einlegung von Rechtsmitteln ge-
gen den Überstellungsbescheid weiterhin in Haft oder haftähnlichen
Einrichtungen untergebracht werden?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/11927

10. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung dazu, in wie vielen Fällen in
den Jahren 2011 und 2012 Personen in Vorbereitung einer Rücküberstellung
im Rahmen des Dublin-Systems in Abschiebungshaft genommen worden
sind (Angaben so weit vorhanden wie in der Antwort der Bundesregierung
auf die Große Anfrage der Fraktion DIE LINKE. auf Bundestagsdrucksache
17/10597 auflisten)?

11. Welche zeitlichen Befristungen gelten für Inhaftierungen im Rahmen des
Dublin-Verfahrens in Deutschland derzeit, und welche Änderungen ergäben
sich hier nach Ansicht der Bundesregierung durch die neugefasste Dublin-
Verordnung?

12. Wie bewertet es die Bundesregierung, dass nach derzeitigem Stand die
künftige Dublin-Verordnung eine Rechtsschutzmöglichkeit gegen Überstel-
lungsentscheidungen mit aufschiebender Wirkung zwingend vorsieht, was
nach einfachgesetzlichem nationalem Recht in Deutschland derzeit explizit
ausgeschlossen wird und wogegen sich die Bundesregierung in den letzten
Monaten und Jahren vehement gewehrt hat, wenn dies von der Opposition
gefordert wurde (bitte ausführen)?

13. Inwieweit und wann wird die Bundesregierung in Vorgriff auf die absehbar
kommende europarechtliche Verpflichtung zur Möglichkeit effektiven
Rechtsschutzes mit aufschiebender Wirkung gegen Überstellungsentschei-
dungen Änderungen des nationalen Rechts bzw. in der Zustellungspraxis
von Überstellungsbescheiden vornehmen (derzeit bleibt es den Bundeslän-
dern überlassen, wie rechtzeitig sie Überstellungsentscheidungen den Be-
troffenen vor einer Abschiebung bekannt machen)?

14. Welche Inhaftierungsmöglichkeiten, die über derzeit geltendes nationales
Recht in Deutschland hinausgehen und von denen die Bundesregierung
auch nach Verabschiedung und Umsetzung der Richtlinie keinen Gebrauch
machen will, ermöglicht die derzeit im Rat konsentierte Fassung der Auf-
nahmerichtlinie genau (vgl. Bundestagsdrucksache 17/10305, S. 12)?

15. Bedeutet die Erklärung der Bundesregierung, von den Inhaftierungsmög-
lichkeiten, die über derzeit geltendes nationales Recht hinausgehen, auch
nach Verabschiedung und Umsetzung der Richtlinie keinen Gebrauch ma-
chen zu wollen (ebd.), dass sie diese Inhaftierungsmöglichkeiten für nicht
erforderlich, für unverhältnismäßig oder für mit nationalem Verfassungs-
oder internationalem Flüchtlingsrecht für nicht vereinbar hält (bitte ausfüh-
ren und so genau wie möglich nach Inhaftierungsgründen differenzieren)?

Berlin, den 17. Dezember 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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