BT-Drucksache 17/11781

Fakten und Hintergründe zur anstehenden Stationierung von Patriot Raketen an der türkisch-syrischen Grenze

Vom 28. November 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11781
17. Wahlperiode 28. 11. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Sevim Dag˘delen, Paul
Schäfer (Köln), Christine Buchholz, Heike Hänsel, Andrej Hunko, Harald Koch,
Stefan Liebich, Kathrin Vogler und der Fraktion DIE LINKE.

Fakten und Hintergründe zur anstehenden Stationierung von Patriot-Raketen
an der türkisch-syrischen Grenze

Am 22. November 2012 ersuchte die Türkei bei der NATO (North Atlantic
Treaty Organization) um Flugabwehrraketen vom Typ „Patriot“. Damit be-
absichtigt das Land, so die offizielle Begründung, sein Grenze zum Bürger-
kriegsland Syrien zu schützen. Das zu stationierende Flugabwehrsystem soll le-
diglich der Verteidigung der Grenzen dienen und nicht die Errichtung einer
Flugverbotszone oder einen sonstigen Angriff zum Ziel haben, so formuliert es
die Türkei in ihrem Brief an die NATO. In der NATO verfügen nur Deutschland,
die USA und die Niederlande über Patriot- Raketen des modernsten Typs PAC-3.

Der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle, erklärte direkt
im Anschluss an die türkische Anfrage, Deutschland sei – unter der Vorausset-
zung, dass alle Bedingungen erfüllt seien – zum Einsatz der erbetenen Waffen
und der Bundeswehr bereit.

Am 4. Dezember 2012 wird der NATO-Rat über den Antrag der Türkei ent-
scheiden. Danach beabsichtigt die Bundesregierung, dem Deutschen Bundestag
ein Mandat zur Beteiligung der Bundeswehr zur Abstimmung vorzulegen.

Nach Bekanntwerden der Absicht der Türkei, die NATO um Beistand zu bitten,
wurden auf Antrag der Oppositionsparteien Sondersitzungen des Verteidigungs-
und Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages einberufen.

In diesen Sitzungen blieben zahlreiche Fragen offen. Deren Beantwortung ist
aber für eine Beurteilung der Lage in der Türkei, im türkisch-syrischen Grenz-
gebiet und vor einer Entscheidung des Deutschen Bundestages über die Statio-
nierung der Patriot-Raketen unabdingbar.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Aufgrund welcher Bestimmungen im NATO-Vertrag ist es nach Auffassung
der Bundesregierung in der jetzigen Situation möglich, im Rahmen der
NATO der Türkei die Raketenabwehrsysteme vom Typ Patriot zur Ver-

fügung zu stellen?

Ist Artikel 4 des NATO-Vertrages hinreichend für eine Stationierung von
Patriots aus deutschem Besitz in der Türkei?

Drucksache 17/11781 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

2. Welche Position vertritt die Bundesregierung hinsichtlich des rechtlichen
Status der Stationierung vor dem Hintergrund, dass in dem offiziellen An-
fragebrief der Türkei auf Artikel 4 des NATO-Vertrages Bezug genommen
wird, in dem es heißt, dass „die Parteien (…) einander konsultieren, wenn
nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politi-
sche Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist“,
nicht jedoch operationelle militärische Hilfe zu leisten?

3. Aufgrund welcher Lageveränderungen plant die NATO nach der aktuellen
Anfrage vom 21. November 2012 eine Stationierung von Patriots, vor dem
Hintergrund, dass sie nach zwei vorhergehenden Anfragen der Türkei im
Juni dieses Jahres nach dem Abschuss eines türkischen Militärflugzeuges
und Anfang Oktober dieses Jahres nach der Explosion einer aus Syrien
kommenden Artilleriegranate auf türkischem Boden zwar auch gemäß
Artikel 4 reagierte (www.jungewelt.de/2012/11-20/005.php), aber eben
lediglich konsultierte und keine operationelle militärische Hilfe anbot?

4. Wann wurden der NATO in den Konsultationen mit der Türkei belastbare
Hinweise auf eine Bedrohung der Türkei durch Syrien vorgelegt?

5. Aufgrund welcher Kriterien und Informationen hat die NATO überprüft, ob
die Stationierung von Patriot-Systemen in der Türkei ein relevanter Beitrag
zur Verbesserung der Sicherheit der Türkei vor Syrien ist?

6. Ist nach Auffassung der Bundesregierung die Stationierung von deutschen
Patriot-Systemen in der Türkei möglich, selbst wenn die Bundesregierung
zu der Auffassung gelangt ist, dass gegenwärtig kein konkretes Be-
drohungsszenario vorliegt?

7. Existieren belastbare Bedrohungsszenarien für die Türkei, die der Entschei-
dung der NATO zugrunde liegen, und werden diese von der Bundesregie-
rung in vollem Umfang geteilt?

8. Schätzt die Bundesregierung das von der Türkei geäußerte subjektive
Bedrohungsgefühl als ausreichend ein, um daraufhin Waffensysteme der
Bundeswehr an die türkisch-syrische Grenze zu verlegen?

9. War die Möglichkeit einer Unterstützung der Türkei durch Patriot-Systeme
und Bundeswehrsoldaten bereits Gegenstand bilateraler Gespräche, als der
Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle „bei seinem Treffen mit dem
türkischen Außenminister am 13. Oktober 2012 ausdrücklich die Solidari-
tät [Deutschlands] als NATO-Partner unterstrichen“ hat (Plenarprotokoll
17/203)?

10. Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Bundesaußenministers, der in
der Presse äußerte, dass man „sehr gute Gründe haben [müsse], einer solchen
Bitte nicht zu entsprechen“ (www.zeit.de/politik/ausland/2012-11/nato-
patriot-tuerkei-bundestag), und wenn ja, aus welchen Passagen des NATO-
Vertrages leitet sie diese Auffassung ab?

11. Wie schätzt die Bundesregierung das Risiko ein, dass die Türkei mit der
Stationierung der Patriot-Raketen in der Türkei

a) bezogen auf die Auseinandersetzung zwischen türkischer Staatsmacht
und kurdischen Ansprüchen auf Autonomie und Selbstverwaltung inner-
halb und außerhalb des türkischen Staatsgebiets,

b) bezogen auf den möglichen Einsatz der türkischen Armee außerhalb der
Türkei, so wie es der Regierung vom türkischen Parlament erlaubt wor-
den ist (www.faz.net/aktuell/politik/arabische-welt/nach- granatangriff-
tuerkisches-parlament-billigt-militaereinsaetze-in-syrien-11913263.html),

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/11781

c) die Ansprüche des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdog ˘an
auf eine türkische Führungsrolle in der islamischen Welt unverkennbar
sind (www.welt.de/politik/ausland/article109667134/Erdogan-verfolgt-
Grossmachttraeume-jetzt-mit-Haerte.html),

eine eigene innen- und außenpolitische Agenda verfolgt und eine positive
Entscheidung als Unterstützung dafür gewertet wird?

12. Wie hoch schätzt die Bundesregierung die Gefahr ein, dass die türkische
Regierung die Stationierung von Patriot-Systemen durch die NATO als Er-
mutigung auffassen könnte, auch Luftoperationen auf syrischem Territo-
rium durchzuführen, dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass die
türkische Regierung bereits die Zustimmung zu militärischen Operationen
in Syrien vom türkischen Parlament eingeholt hat?

13. Inwiefern verfolgt die türkische Regierung nach Auffassung der Bundes-
regierung mit ihrer derzeitigen Politik gegenüber Syrien auch eine eigene
Agenda in Bezug auf die kurdische Bevölkerung in der Türkei und in
Syrien, und kann die Bundesregierung ausschließen, dass sie durch die
Stationierung deutscher Patriot-Systeme ungewollt die Diskriminierung
gegenüber der kurdischen Bevölkerung mit unterstützt?

14. Inwiefern verbindet die türkische Regierung nach Auffassung der Bundes-
regierung mit der Unterstützungsbitte an die NATO auch eine Unter-
stützung für die von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdog ˘an angestrebte
türkische Führungsrolle in der islamischen Welt, bzw. kann die Bundes-
regierung eine solche Verbindung ausschließen?

15. Kann die Stationierung von Patriot-Raketensystemen vor dem Hintergrund,
dass Vorhaltungen, dass aus der Türkei heraus Waffen an syrische Auf-
ständische geliefert werden, nicht widerlegt sind, ebenso wie die, dass die
Grenze Türkei-Syrien nicht nur zeitweilig für Flüchtlinge, sondern auch für
das Überwechseln bewaffneter Aufständischer durchlässig sei und dass aus
der Türkei erhebliche Geldmittel für verschiedene Gruppierungen von Auf-
ständischen zur Verfügung gestellt werden (www.rp-online.de/politik/
ausland/tuerkei-droht-syrien-mit-weiter-abschreckung-1.3029807), eine
verschärfende Rolle innerhalb des syrischen Bürgerkrieges spielen?

16. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung in diesem Zu-
sammenhang aus der Aussage des türkischen Ministerpräsidenten Recep
Tayyip Erdog˘an unmittelbar nach den NATO-Konsultationen Ende Juni
2012, wonach die Türkei „das syrische Volk mit allen nötigen Mitteln
(unterstützen) wird, bis es von Unterdrückung, Massakern, diesem blut-
dürstigen Diktator und seiner Clique befreit ist“ und „jedes militärische
Element, das sich von Syrien aus der türkischen Grenze nähert und ein
Sicherheitsrisiko und eine Gefahr darstellt, (…) als Bedrohung und als
militärisches Ziel betrachtet“ („Türkei will ‚militärisch‘ auf weitere
Aggression reagieren“, faz net, 26. Juni 2012) vor diesem Hintergrund, und
haben diese Aussagen nach Einschätzung der Bundesregierung weiterhin
Bestand?

17. Wird die Stationierung von Patriot-Systemen in der Türkei nach Auf-
fassung der Bundesregierung Auswirkungen auf die Position von China
und Russland in Bezug auf die Entscheidungen des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen bezüglich Syrien haben, und wenn ja, welche?

18. Wie viele Patriot-Systeme in welchen Varianten sollen in die Türkei verlegt
werden, und aus welchen Staaten werden jeweils diese Patriot-Systeme
bereitgestellt werden?

Drucksache 17/11781 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

19. Wie viele Patriot-Systeme plant die Bundeswehr bereitzustellen, und wie
viel Bundeswehrpersonal wird dafür in die Türkei verlegt werden?

Aus welchen Stationierungsorten der Bundeswehr werden die für die
Türkei geplanten Systeme abgezogen?

20. Wie lange sollen die Patriot-Systeme in der Türkei stationiert bleiben, und
nach welchen Kriterien werden die Bundesregierung und der NATO-Rat
über die Beendigung dieser Stationierung entscheiden?

21. Welche Alternativen zur Stationierung deutscher Patriot-Systeme und
deutscher Soldaten wurden durch die Bundesregierung in welcher Form
erörtert, und wie begründet sie die zwingende Notwendigkeit, dass nicht
nur die Systeme in der Türkei stationiert werden, sondern auch Bundes-
wehrsoldaten zu deren Bedienung?

22. Werden oder wurden auch Patriots und Soldaten aus den USA und den
Niederlanden in die Türkei verlegt?

Wenn ja, wie viele, und in welcher Zahl, und welche konkreten Systeme?

23. Wo genau sollen die Patriot-Systeme stationiert werden?

Ist geplant, sie im grenznahen Gebiet zu stationieren, so dass – in Ab-
hängigkeit von der jeweiligen Reichweite – auch in den syrischen Luftraum
hineingewirkt werden kann?

24. Trifft die NATO im Zusammenhang mit der Stationierung der Patriot-
Raketen auch Vorsorgemaßnahmen für mögliche Chemiewaffenangriffe,
etwa in Form der Dislozierung von ABC-Spürpanzern?

25. Mit welchen Kompetenzen werden die deutschen Soldaten ausgestattet
sein?

Welche Befehlskette wird im konkreten Fall über die Nutzung der Patriot-
Raketen entscheiden?

26. Wie schätzt die Bundesregierung das Risiko ein, dass aufgrund der An-
erkennung der „Nationalen Koalition der Oppositionskräfte und der
Syrischen Revolution“ als „alleinige legitimen Repräsentanten Syriens“
seitens der Türkei (am 15. November 2012 wurde die Anerkennung aus-
gesprochen), die Rechtssubjektivität aus der Sicht der EU-Staaten und der
Türkei von der bisherigen Regierung Baschar al-Assads auf die Opposition
übergeht und die bisherige Regierung Baschar al-Assads und die militäri-
schen Kräfte Baschar al-Assads daher als Aufständische betrachtet werden,
und wäre in diesem Sinne ein Hilfeersuchen der neuen „Machthaber“ ein
hinreichender Grund für eine türkische Intervention auf syrischem Staats-
gebiet?

27. Zur Abwehr welcher konkreten offensiven und aggressiven Aktionen der
syrischen Armee sollen die Patriot-Raketen in der Türkei vor dem Hinter-
grund dienen, dass Patriot-Raketensystem nicht in der Lage sind, Artillerie-
geschosse oder Gewehrfeuer abzufangen, sondern zum Zweck des Ab-
schusses von Flugzeugen und ballistischen Raketen entwickelt wurden?

28. Beinhaltet der Schutz des NATO-Luftraums auch, dass bei einem Angriff
auf ein türkisches Ziel die Patriot-Raketen auch über fremden Luftraum
eingesetzt werden, um etwa die angreifende Rakete abzuwehren?

29. Wie wird die NATO verhindern, dass syrische Kampfflugzeuge und Heli-
kopter bei der Nutzung des syrischen Luftraums im türkisch-syrischen
Grenzgebiet nicht fälschlicherweise zum Ziel der Patriot-Systeme werden?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/11781

30. Welche über die Stationierung der Patriot-Systeme hinausgehenden und/
oder diese flankierenden Pläne (Aufklärung, Begleitung, Schutz etc.) zur
militärischen Hilfe für die Türkei existieren gegenwärtig innerhalb der
Bundesregierung?

31. Wie viele türkische Truppen wurden nach Kenntnis der Bundesregierung
in den letzten fünf Monaten zu welchem Zeitpunkt an welche Orte im
türkisch-syrischen Grenzgebiet verlegt, wie viele weitere Truppen sollen
dorthin verlegt werden, und wie viele davon in direktem oder indirektem
Zusammenhang mit der Stationierung der Patriot-Systeme?

Berlin, den 28. November 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.