BT-Drucksache 17/11758

Rechtsextreme Tendenzen in der sogenannten Reichsbürgerbewegung

Vom 29. November 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11758
17. Wahlperiode 29. 11. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Heidrun Dittrich, Petra Pau, Jens Petermann, Raju
Sharma, Frank Tempel, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Rechtsextreme Tendenzen in der sogenannten Reichsbürgerbewegung

Eine seit den 80er-Jahren bekannte „Spielart“ des Rechtsextremismus ist die so
genannte Reichsbürgerbewegung. Deren Anhänger gehen davon aus, dass das
Deutsche Reich in den Grenzen von 1937 weiterexistiert. Demnach sei die Bun-
desrepublik Deutschland mit dem Deutschen Reich nur teilidentisch und somit
völkerrechtlich illegal und juristisch nicht existent.

Die „Reichsbürger“ sehen im Grundgesetz eine „Fortsetzung des Krieges gegen
das Reich“ und die Bundesregierung als von „den westlichen Siegermächten
aufgezwungenes Statut der Fremdherrschaft über das Deutsche Volk“.

Die aus Rechtsextremen, Esoterikern und Verschwörungstheoretikern zusam-
mengesetzte Reichsbürgerbewegung ist in sich gespalten in eine Vielzahl kon-
kurrierender selbsternannter „Reichsregierungen“ mit Namen wie „Kommissa-
rische Reichsregierung“, „Amtierende Reichsregierung des Deutschen Rei-
ches“, „Exil-Regierung Deutsches Reich“, „Rat der Nationalversammlung“,
„Präsidium des Deutschen Reichs“ und „Zentralrat Deutscher Staatsbürger“.
Dazu kommen selbsternannte „Staaten“ wie „Germanitien“, das „Fürstentum
Germania“ und die „Natürliche Selbstverwaltung oekogekko“ (www.verfas-
sungsschutz.brandenburg.de/cms/detail.php/bb1.c.286749.de).

Manche dieser „Reichsregierungen“ nutzen verbotene NS-Symbolik wie Haken-
kreuze. Antisemitismus und Holocaustleugnung ist verbreitet unter der Reichs-
bürgerbewegung. So verkaufte ein „Reichsbürger“ Anteilsscheine zur Finanzie-
rung eines späteren Abrisses des Holocaustmahnmals in Berlin (www.netz-
gegen-nazis.de/lexikontext/die-reichsbuergerbewegung).

Der Versuch der „Kommissarischen Reichsregierung“, im Februar 2009 in einem
baufälligen Schloss im brandenburgischen Ort Krampfer (Prignitz) ein „Fürs-
tentum Germania“ mit bis zu 220 Personen zu errichten, scheiterte an der Bau-
aufsicht. Im Mai 2009 räumte die Polizei das Schloss. Das Brandenburger In-
nenministerium stuft die rund 100 in dem Bundesland aktiven „Reichsbürger“
mittlerweile als „eine Art rechtsextreme Sekte“ mit einem „nicht ungefährlichen
rechtsextremen Kern“ ein (www.berliner-kurier.de/polizei-prozesse/esoterik-
nazis-jetzt-mischt-der-verfassungsschutz-mit,7169126,11380304.html).

Bekanntester Vertreter der Reichsbürgerbewegung ist der wegen Volksverhet-

zung einschließlich Holocaustleugnung zu einer langjährigen Freiheitsstrafe
verurteilte Rechtsextremist Horst Mahler mit seiner „Völkischen Reichsbewe-
gung“. Der militante Neonazi Meinolf Schönborn aus Nordrhein-Westfalen,
ehemaliger Vorsitzender der 1992 verbotenen Nationalistischen Front und nun
Anführer der „Neuen Ordnung“, ist ebenfalls bekennender „Reichsbürger“.
Während eines Prozesses wegen Volksverhetzung gab auch der frühere Berliner

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NPD-Landeschef Uwe Meenen im September 2012 vor dem Berliner Landge-
richt seine Staatsangehörigkeit mit „Deutsches Reich“ an (www.taz.de/!101167/).

Anhänger der Reichsbürgerbewegung haben oft ihre amtlichen Ausweise, Füh-
rerscheine und Personalausweise vernichtet und weisen sich mit selbstprodu-
zierten Phantasieausweisen und gefälschten Autokennzeichen als „Bürger des
Deutschen Reichs“ aus. Sie weigern sich, Steuern oder Bußgelder an bundes-
deutsche Behörden zu zahlen und zweifeln amtliche Bescheide und Verwaltungs-
akte an, um Verwirrung zu stiften. Ihrerseits verschickten die selbsternannten
„Reichsregierungen“ und „Reichsbürger“ Schriftsätze an Behörden und Politiker,
in denen sie diesen Amtsanmaßung, Nötigung, Betrug sowie wie im Falle des
Brandenburger Innenministers Dietmar Woidke (SPD) Landesverrat vorwerfen
und mit einem Verfahren vor einem „Deutschen Reichsgericht“ drohen
(www.tagesspiegel.de/berlin/reichsbuerger-drohen-innenministerrechtsextreme-
verstaerken/7005548.html).

Wenige Monate nach Entdeckung der für neun Morde und zwei Bomben-
anschläge gegen Migranten verantwortlichen Terrorzelle Nationalsozialistischer
Untergrund (NSU) gingen im Februar 2012 bei jüdischen und islamischen Ge-
meinden Drohbriefe einer „Reichsbewegung – Neue Gemeinschaft von Philoso-
phen“ ein. In dem antisemitischen, rassistischen und esoterischen Pamphlet mit
der Überschrift „Ausweisung aus Deutschland“ ist von einer „alliierten Fremd-
herrschaft“ und „Marionettenregierung“ in der Bundesrepublik Deutschland so-
wie einer „Völkervernichtung durch Rassenvermischung“ die Rede. Die „Wie-
dererstehung des Deutschen Reichs“ wird gefordert und alle „raum-, wesens-
und kulturfremden Ausländer in Deutschland“ zur Ausreise innerhalb der nächs-
ten sechs Monate aufgefordert. Andernfalls drohe ihnen die Erschießung. In ihrem
Schreiben nahm die Reichsbewegung Bezug auf die vom Brandenburger Innen-
minister im Juni 2012 verbotene „Widerstandsbewegung Südbrandenburg“, auf
die die nächtlichen Fackelmärsche vermummter Neonazis im Rahmen der Kam-
pagne „Die Unsterblichen“ zurückgingen. Eine Sprecherin des Berliner Verfas-
sungsschutzes sah die Gefahr, dass sich Einzeltäter durch die Schreiben der
Reichsbewegung dazu aufgerufen fühlen könnten, aktiv zu werden (www.netz-
gegen-nazis.de/artikel/heute-protest-berlin-die-neue-gemeinschaft-von-philoso-
phen-und-die-reichsbewegung-7771).

Ebenfalls im Februar 2012 erhielten mehr als 300 Brandenburger Schulen einen
„Erlass“ eines selbsternannten „Reichskanzlers“ und einer „Präsidentin des
Strafsenats am Reichsgericht“, in dem diese zur „Vorsorge im Ernstfall“ wegen
angeblich anstehender Veränderungen in Deutschland aufriefen (www.focus.de/
politik/deutschland/verfassungsschutz-warnt-reichsbuerger-leugnen-existenz-
der-bundesrepublik_aid_736948.html).

Im September 2012 fand die Polizei bei einer Razzia beim selbsternannten
„Reichsbürger“ D. S., der seit 15 Jahren das Zahlen von Steuern verweigert
hatte, ein laut Medienberichten für den Bau von Sprengsätzen geeignetes Che-
mikalienlager in Berlin-Neukölln. Sein Gewerbegrundstück bezeichnete Spreng-
meister D. S. als exterritoriales Gebiet (www.berliner-zeitung.de/berlin/razzia-
in-neukoelln-reichsbuerger-hortet-chemikalien,10809148,16616356.html).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Einschätzung des Brandenburger
Verfassungsschutzes, wonach die Reichsbürgerbewegung „eine Art rechts-
extreme Sekte“ mit einem „nicht ungefährlichen rechtsextremen Kern“ ist?

2. Wie viele „Reichsbürger“ gibt es bundesweit nach Kenntnis der Bundesregie-
rung (bitte nach Bundesländern und regionalen Schwerpunkten sowie gege-

benenfalls Organisationen aufgliedern)?

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3. Welche selbsternannten „Reichsregierungen“ und „Staaten“ (Germanitien,
Fürstentum Germania etc.) auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland
sind der Bundesregierung bekannt (bitte Gründungs- und gegebenenfalls
Auflösungsdatum, Sitz und Mitglieder, Veröffentlichungen und Internetauf-
tritt benennen)?

a) Welche dieser „Reichsregierungen“ rechnet die Bundesregierung dem
Rechtsextremismus zu (bitte begründen, z. B. wegen Verwendung von
NS-Symbolik, Holocaustleugnung etc.)?

b) Gegen welche dieser „Reichsregierungen“ wurden nach Kenntnis der
Bundesregierung juristische Schritte aufgrund welcher einschlägiger
Straftaten eingeleitet, und mit welchem Ergebnis?

4. Welche Versuche der Aufnahme „diplomatischer Beziehungen“ von selbst-
ernannten Reichsregierungen zu ausländischen Regierungen sind der Bun-
desregierung bekannt geworden, und wie reagierten die angesprochenen
Regierungen sowie die Bundesregierung jeweils darauf?

5. Welche Internetseiten und sonstige Veröffentlichungen der Reichsbürgerbe-
wegung sind der Bundesregierung bekannt?

6. Welche verfassungsschutzrelevanten Erkenntnisse hat die Bundesregierung
über Mitglieder, Aktivitäten, Äußerungen und Veröffentlichungen des
„Deutschen Kolleg“ des Hamburger Rechtsextremisten Dr. Reinhold
Oberlercher?

7. Welche verfassungsschutzrelevanten Erkenntnisse hat die Bundesregierung
über Mitglieder, Aktivitäten, Äußerungen und Veröffentlichungen der „Völ-
kischen Reichsbewegung“ des Rechtsextremisten Horst Mahler?

8. Welche verfassungsschutzrelevanten Erkenntnisse hat die Bundesregierung
über Mitglieder, Aktivitäten, Äußerungen und Veröffentlichungen von „Die
Reichsbewegung – Neue Gemeinschaft von Philosophen“?

9. Welche verfassungsschutzrelevanten Erkenntnisse hat die Bundesregierung
über Mitglieder, Aktivitäten, Äußerungen und Veröffentlichungen der
„Neuen Ordnung“ des Rechtsextremisten Meinolf Schönborn?

10. Welche Drohschreiben oder Drohungen im Internet von „Reichsbürgern“
oder „Reichsregierungen“ gegenüber Bundes-, Landes-, und Kommunal-
politikerinnen und -politikern bzw. Behörden sind der Bundesregierung be-
kannt?

11. Welche und wie viele Fälle der Verweigerung von Steuerzahlungen oder
Bußgeldern durch „Reichsbürger“ sind der Bundesregierung bekannt?

12. In wie vielen Fällen haben „Reichsbürger“ nach Kenntnis der Bundesregie-
rung amtliche Ausweispapiere vernichtet und sich mit Phantasiedokumen-
ten ausgewiesen?

13. Inwieweit sind der Bundesregierung Mitgliedschaften von „Reichsbürgern“
in rechtsextremen Parteien und Organisationen oder Kontakte zu solchen
bekannt?

14. Inwieweit sind der Bundesregierung Überschneidungen und Kontakte zwi-
schen der Reichsbürgerbewegung und islamfeindlichen bzw. antimuslimi-
schen Organisationen oder Internetportalen bekannt?

15. Wann haben „Reichsbürger“ oder „Reichsregierungen“ nach Kenntnis der
Bundesregierung zur Wahl rechtsextremer Parteien aufgerufen oder für sol-
che kandidiert?
16. Wann und zu welcher Gelegenheit haben „Reichsbürger“ oder „Reichs-
regierungen“ nach Kenntnis der Bundesregierung zur Teilnahme an rechts-

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extremen Versammlungen anderer Organisationen aufgerufen oder sich da-
ran beteiligt?

17. Welche Stellung nimmt die Reichsbürgerbewegung nach Kenntnis der Bun-
desregierung im rechtsextremen Spektrum ein, bzw. wie ist das Verhalten
anderer rechtsextremer Akteure gegenüber dieser Bewegung?

18. Welche antisemitischen, islamfeindlichen und fremdenfeindlichen Äuße-
rungen und Drohschreiben von „Reichsbürgern“ und „Reichsregierungen“
sind der Bundesregierung bekannt?

19. Inwieweit waren „Reichsbürger“ nach Kenntnis der Bundesregierung in
politisch motivierte Gewalttaten verwickelt?

20. Inwieweit hat die Bundesregierung Hinweise, wonach sich Einzeltäter
durch Schreiben und sonstige Aufforderungen vonseiten der Reichsbürger-
bewegung zu Gewalttaten gegenüber Jüdinnen und Juden, Musliminnen
und Muslimen oder Migrantinnen und Migranten oder politisch Andersden-
kenden animieren ließen, wie es eine Sprecherin des Berliner Verfassungs-
schutzes nach den Drohschreiben der „Reichsbewegung – Neue Gemein-
schaft von Philosophen“ befürchtete?

21. Sind der Bundesregierung Verbindungen der rechtsextremen Terrorgruppe
NSU zur Reichsbürgerbewegung bekannt, und wenn ja, welche?

22. Inwieweit sieht die Bundesregierung die Gefahr einer Radikalisierung ein-
zelner „Reichsbürger“ oder von Teilen der Reichsbürgerbewegung bis hin
zu gewaltsamen oder terroristischen Handlungen nach dem Vorbild des
NSU oder des norwegischen Massenmörders Anders Behring Breivik?

23. Gab es nach Kenntnis der Bundesregierung Waffen- oder Sprengstofffunde
bei Anhängern der Reichsbürgerbewegung, und wenn ja, wann, wo, und
welcher Art?

24. Welchen Umgang empfiehlt die Bundesregierung Bundes-, Landes- und
Kommunalbehörden im Umgang mit „Reichsbürgern“?

a) Inwieweit gibt es Informationsmaterial und Schulungen der Bundes-
regierung für Behördenmitarbeiter zum Umgang mit „Reichsbürgern“?

b) Von welchen Landesregierungen gibt es nach Kenntnis der Bundesregie-
rung Informationsmaterial und Schulungen für Behördenmitarbeiter zum
Umgang mit „Reichsbürgern“?

25. Wie und mit welchen Argumenten begegnet die Bundesregierung der Be-
hauptung der „Reichsbürger“, das Deutsche Reich bestände völkerrechtlich
fort und die Bundesrepublik Deutschland sei ein illegitimes „Besatzungs-
regime“?

26. Welche Landesämter für Verfassungsschutz beobachten nach Kenntnis der
Bundesregierung die Reichsbürgerbewegung?

Berlin, den 29. November 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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