BT-Drucksache 17/11493

Risiken des geplanten Atomkraftwerks in Belarus

Vom 13. November 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11493
17. Wahlperiode 13. 11. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell,
Bärbel Höhn, Sven-Christian Kindler, Oliver Krischer, Undine Kurth (Quedlinburg),
Nicole Maisch, Dr. Hermann E. Ott, Claudia Roth (Augsburg), Dorothea Steiner und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Risiken des geplanten Atomkraftwerks in Belarus

Im November 2007 ordnete Alexander Lukaschenko per präsidialem Dekret
Planung und Bau des ersten Atomkraftwerks in Belarus an. 2008 wurden ent-
sprechende Beschlüsse durch den Nationalen Sicherheitsrat und das Parlament
gefasst und die Errichtung des Atomprojekts international ausgeschrieben. Die
Entscheidung für den Bau des Atomkraftwerks wurde mit der notwendigen
Diversifizierung der Energieversorgung des Landes begründet, die bislang
nahezu vollständig von russischen Erdgas- und Rohöllieferungen abhängt.

Am 14. März 2011, nur drei Tage nachdem im japanischen Fukushima mehrere
Reaktoren außer Kontrolle gerieten, unterzeichneten der russische Premier-
minister Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko in Minsk ein Abkommen
zur Errichtung des Atomkraftwerks in Belarus durch die Tochtergesellschaft
Atomstroyexport JSC des russischen Staatsunternehmens Rosatom. Russland
erklärte sich bereit, hierfür einen Kredit von 10 Mrd. US-Dollar zur Verfügung
zu stellen. Die für den Betrieb notwendigen Brennstäbe sollen ebenfalls von
Russland bereitgestellt werden. Außerdem strebt Russland eine 50-prozentige
Beteiligung an der Betreibergesellschaft an. In Astrawjez (Ostrowjez), direkt an
der litauischen Grenze, sollen zwei Druckwasserreaktoren vom Typ VVER
(AES 2006) mit je 1 200 MW Leistung errichtet werden. Die beiden Blöcke
sollen 2017 und 2018 ans Netz gehen.

25 Jahre nach Tschernobyl ist in Belarus die Errichtung eines ersten Atomkraft-
werks stark umstritten, weil das Land von der Reaktorkatastrophe besonders
betroffen war. Circa 70 Prozent des radioaktiven Niederschlags von Tscherno-
byl trafen die damalige Sowjetrepublik. Viele tausende Menschen starben an
den Folgen der Verstrahlung und noch heute leidet die Bevölkerung unter den
dramatischen Gesundheitsfolgen. Weite Gebiete im Südosten des Landes sind
auf unabsehbare Zeit unbewohnbar (vgl. Artikel „Flüchtlinge in Weißrussland:
Asyl im verstrahlten Niemandsland“, SPIEGEL ONLINE vom 11. Oktober
2005). Belarus muss noch heute einen nennenswerten Anteil seines Haushalts
für die Bewältigung der Folgen der Reaktorkatastrophe aufwenden.
Die belarussische Regierung fürchtet offensichtlich das hohe Protestpotenzial ge-
gen den Bau des Atomkraftwerks und verfolgt Antiatomaktivistinnen und An-
tiatomaktivisten mit aller Härte (vgl. Beitrag „Weißrussland: Der Diktator baut ein
Kernkraftwerk“ aus der ARD-Sendung Weltspiegel vom 16. September 2012).1

1 < http://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/weltspiegel/sendung/ndr/2012/
weissrussland-104.html>

Drucksache 17/11493 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie weit sind nach Kenntnis der Bundesregierung die Bauarbeiten am
Atomkraftwerk in Belarus bereits fortgeschritten?

2. Ist der Bundesregierung der Beitrag „Weißrussland: Der Diktator baut ein
Kernkraftwerk“ aus der ARD-Sendung „Weltspiegel“ vom 16. September
2012 bekannt?

3. Wie bewertet nach Kenntnis der Bundesregierung die Internationale Atom-
energieorganisation (IAEO) den geplanten Bau des Atomkraftwerks in
Belarus, die mit einer Mission Anfang März 2011 zur Begutachtung des
Bauprojekts nach Minsk reiste, und welche Möglichkeiten sieht die Bun-
desregierung, im Rahmen der IAEO auf das geplante Projekt in Belarus
Einfluss zu nehmen?

4. Von wem werden nach Kenntnis der Bundesregierung üblicherweise die
Experten einer solchen IAEO-Mission ausgewählt, in welchem Verfahren
und können Dritte Expertenvorschläge unterbreiten, die von der IAEO zu
berücksichtigen sind?

5. Von wem und in welchem Verfahren wurden nach Kenntnis der Bundes-
regierung konkret die Experten der o. g. IAEO-Belarus-Mission ausge-
wählt?

6. Kann die Bundesregierung bestätigen, dass üblicherweise die IAEO-Be-
richte über derartige IAEO-Missionen zunächst dem Zielland geschickt
werden und dieses darüber entscheidet, ob sie veröffentlicht werden?

7. Kann die Bundesregierung die Vorwürfe der litauischen Regierung bestäti-
gen, wonach Belarus bei der Planung des Atomkraftwerks die Espoo-Kon-
vention verletzt habe, da Fragen des betroffenen Nachbarstaates zur Um-
weltverträglichkeitsprüfung (UVP) des Atomprojekts nicht oder nur un-
vollständig beantwortet worden seien, und was wird die Bundesregierung
tun, um eine umfassende Beteiligung der EU und ihrer Mitgliedstaaten bei
der Planung des Atomkraftwerks in Belarus einzufordern und die Möglich-
keiten der Aarhus- und Espoo-Konventionen im vollen Umfang etwa durch
Einforderung der Beteiligung Deutschlands an der Umweltverträglichkeits-
prüfung zu nutzen?

8. Warum hat sich die Bundesrepublik Deutschland nicht an dem UVP-Ver-
fahren beteiligt?

Wurde die Bundesrepublik Deutschland von Belarus zu Beginn des Verfah-
rens darüber benachrichtigt, und falls ja, wann genau, und welches Bundes-
ministerium bzw. welche Bundesministerien?

9. Welche schriftlichen Unterlagen und Informationen hat die Bundesregie-
rung im Zusammenhang mit dem Neubauvorhaben und dem UVP-Verfah-
ren von Belarus bekommen, und jeweils wann genau (bitte Datum und be-
treffendes Bundesministerium angeben)?

10. Welche Berichte von Belarus sind der Bundesregierung im Zusammenhang
mit der IAEO bekannt, insbesondere im Zusammenhang mit der „Conven-
tion on Nuclear Safety – CNS“?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/11493

11. Ist die Bundesregierung auf Basis dieser Berichte der Meinung, dass
Belarus die Kapazitäten hat, ein eigenständiges Atomprogramm aufzu-
bauen?

Ist insbesondere nach den Kenntnissen der Bundesregierung sichergestellt,
dass im Hinblick auf die Behörden ausreichende

a) Ressourcen,

b) Unabhängigkeit (im Hinblick auf Interessenkonflikte) und

c) Fachkompetenz

vorhanden sind, um heutigen Anforderungen an Genehmigung, Aufsicht
und Trennungsgebote (im Hinblick auf Interessenkonflikte) zu genügen?

12. Wie bewertet die Bundesregierung die Risiken des Atomkraftwerkprojekts
für die Bevölkerung in Deutschland konkret im Zusammenhang mit der
vorangegangenen Frage, wenn die darin genannten Kriterien nicht erfüllt
sind oder sich die Bundesregierung nicht sicher sein kann, dass sie erfüllt
sind?

Welche Konsequenzen will sie dann ggf. ziehen?

13. Welche Sachverständigenorganisationen wie z. B. die Gesellschaft für An-
lagen- und Reaktorsicherheit (GRS) mbH oder Forschungseinrichtungen,
die vom Bund getragen werden, haben nach Kenntnis der Bundesregierung
in den letzten Jahren wann genau an welchen Projekten mitgewirkt, die in
direktem oder indirektem Zusammenhang mit dem Atomkraftwerkvorha-
ben oder Fragen der Nuklearsicherheit oder des Strahlenschutzes in Bela-
rus stehen?

14. Von wem wurde diese Beteiligung nach Kenntnis der Bundesregierung
jeweils finanziert, welchen finanziellen Umfang hatte sie jeweils, auf wes-
sen Initiative hin kam sie jeweils zustande, und welche schriftlichen Ergeb-
nisse und Berichte sind der Bundesregierung dazu jeweils bekannt?

15. Unterstützt die Bundesregierung das EU-Mitgliedsland Litauen bei seinen
Bedenken gegen den Bau des Atomkraftwerks in Belarus, das keine 50 km
von Vilnius entfernt, direkt an der litauischen Grenze entstehen soll, und
falls ja, in welcher Weise?

16. Teilt die Bundesregierung die Ansicht des litauischen Ministerpräsidenten,
Andrius Kubilius, wonach das in Belarus und das in der russischen Enklave
Kaliningrad geplante Atomkraftwerk aufgrund fehlenden einheimischen
Strombedarfs von Russland vorrangig als Konkurrenzprojekt zum bislang
in Litauen geplanten Atomkraftwerk geplant sind, mit dem Ziel, das
litauische Atomprojekt zu verhindern und die nahezu vollständige Energie-
abhängigkeit der baltischen Staaten von Russland zu erhalten (siehe FAZ,
9. Oktober 2012), und falls nicht, wie begründet die Bundesregierung ihre
Ansicht?

17. Waren Bedenken Litauens gegenüber dem Projekt Gegenstand bilateraler
Kontakte zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Litauen, und falls
ja, wann genau, und inwiefern konkret?

Gab es dazu insbesondere Kontakte und Austausch zwischen den jeweili-
gen Auslandsvertretungen in Litauen und Deutschland mit Behördenvertre-
tern des jeweiligen Staates, und jeweils wann genau?

Drucksache 17/11493 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

18. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung über die Sicherheitsbewertung
des in Belarus geplanten russischen Reaktortyps VVER-1200, der als Neu-
entwicklung bislang nicht in der Praxis getestet wurde, und sieht sie eine
Gefährdung für die Bürgerinnen und Bürger von EU-Mitgliedstaaten wie
Litauen, Lettland, Polen und Deutschland durch den Bau des Atomkraft-
werks?

19. In welchem EU-Land fand zu diesem Reaktortyp nach Kenntnis der Bun-
desregierung bereits eine Prüfung durch eine nukleare Aufsichtsbehörde
statt?

20. Kann die Bundesregierung Zeitungsmeldungen bestätigen, wonach in
Großbritannien ein „Generic design Assessment“ des VVER-1200 abge-
lehnt wurde?

Falls ja, von wem, und mit welcher Begründung wurde es nach Kenntnis
der Bundesregierung abgelehnt?

21. Welche Untersuchungen zu den wesentlichen Sicherheitsmerkmalen (safety
features) des VVER-1200 sind der Bundesregierung bekannt (bitte Aufzäh-
lung mit Datum und Autor)?

Sind der Bundesregierung probabilistische Sicherheitsanalysen (PSA 1 und
PSA 2) zum VVER-1200 bekannt?

Welche davon wurden nach Kenntnis der Bundesregierung von welchen
(auch ausländischen) Institutionen einem Review unterzogen?

22. Welche Untersuchungen zum VVER-1200 sind der Bundesregierung
konkret zu auslegungsüberschreitenden Unfällen bekannt (bitte Aufzäh-
lung mit Datum und Autor)?

Mit welchen Freisetzungen muss danach im schlimmsten anzunehmenden
Fall bei einem schweren Unfall in einem VVER-1200 ausgegangen wer-
den?

23. Entspricht nach Kenntnis der Bundesregierung das bei Bau und Betrieb des
Atomkraftwerks zur Anwendung kommende belarussische und russische
kerntechnische Regelwerk westlichen Standards, und falls nicht, welche
Schlüsse zieht die Bundesregierung hieraus für die Gefährdungsanalyse für
die Bevölkerung in den Anrainerstaaten und Deutschland durch den Bau
der Anlage in Belarus?

24. Sind dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit Untersuchungen bekannt, die einen Vergleich der kerntechnischen
Regelwerke Russlands und Belarus mit dem Deutschlands zulassen?

In welchen Bereichen bestehen wesentliche Unterschiede, und welche
sicherheitsrelevante Bedeutung haben diese?

25. Wird nach Ansicht der Bundesregierung der Bau des geplanten Atomkraft-
werks, wie von Belarus angestrebt, seine energiepolitische Unabhängigkeit
von Russland stärken, angesichts der Tatsache, dass Kreditfinanzierung,
Bau und Brennmaterial für den Meiler von Russland gestellt werden sollen
und Russland eine 50-prozentige Beteiligung an der Betreibergesellschaft
anstrebt?

26. Wie wird sich nach Einschätzung der Bundesregierung die geplante Kredit-
aufnahme von 10 Mrd. US-Dollar für das Atomkraftwerk auf die volks-
wirtschaftliche Situation von Belarus auswirken, angesichts des drama-
tischen Anwachsens der Auslandsverschuldung und der drohenden weite-
ren Abwertungen des Belarussischen Rubels?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/11493

27. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung zum Potential von Alternativen
zu dem Atomkraftwerkvorhaben, z. B. Energieeinsparung und -effizienz,
Gaskraft oder einheimischer erneuerbarer Energien zur Deckung des Ener-
giebedarfs von Belarus, insbesondere durch Windenergie und Holzpellets,
und der damit verbundenen Investitionskosten im Vergleich zum geplanten
Atomkraftwerk?

28. Ist nach Kenntnis der Bundesregierung eine deutsche Beteiligung an der
Finanzierung des Atomkraftwerks etwa durch Kredite, Hermesbürgschaf-
ten oder über deutsche, europäische und weitere internationale Institutio-
nen, wie die KfW Bankengruppe, die Europäische Bank für Wiederaufbau
und Entwicklung oder die Weltbank, vorgesehen oder zumindest (vor-)an-
gefragt oder beantragt, und falls ja, in welchem Umfang?

29. Ist nach Kenntnis der Bundesregierung die Beteiligung von Firmen aus
Deutschland oder der EU am Bau und Betrieb des geplanten Atomkraft-
werks in Belarus geplant, und falls ja, in welchem Umfang?

30. Teilt die Bundesregierung die Bedenken von belarussischen und russischen
Umweltorganisationen zur Umweltbeeinträchtigung etwa des nahe gelege-
nen Nationalparks Narotsch-See durch den Betrieb des geplanten Atom-
kraftwerks?

31. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung von der Verfolgung von Anti-
atomaktivistinnen und -aktivisten in Belarus, insbesondere durch Verhaf-
tungen bei Demonstrationen gegen das geplante Atomkraftwerk am
25. April 2011 und am 18. Juli 2012 jeweils in Minsk, und in welcher
Weise unterstützt die Bundesregierung die Aktivistinnen und Aktivisten?

32. Mit welcher Begründung verweigerte nach Kenntnis der Bundesregierung
Litauen am 26. September 2012 belarussischen Antiatomaktivistinnen und
Antiatomaktivisten trotz gültiger Schengenvisa die Einreise, und was un-
ternimmt die Bundesregierung, um den betroffenen Personen weiterhin die
Reisefreiheit innerhalb des Schengenraums zu ermöglichen?

33. Mit welcher Begründung wurde nach Kenntnis der Bundesregierung ein
russischer Aktivist gegen das in der Enklave Kaliningrad geplante Atom-
kraftwerk durch Litauen im Schengener Informationssystem zur Einreise-
verweigerung ausgeschrieben, woraufhin ihm durch das deutsche Konsulat
vor Ort am 2. Oktober 2012 das Visum zur Teilnahme an einer UNO-Kon-
ferenz in Genf verweigert wurde, und was unternimmt die Bundesregie-
rung, um der betroffenen Person zukünftig die Reisefreiheit innerhalb des
Schengenraums zu ermöglichen?

34. War nach Ansicht der Bundesregierung angesichts des hohen Protestpoten-
tials gegen das in Belarus geplante Atomkraftwerk und der offensichtlich
gewaltsamen Verfolgung von Antiatomaktivistinnen und -aktivisten der
Polizeieinsatz beim Castortransport im November 2010 in Niedersachsen
ein geeignetes Schulungsobjekt für belarussische Polizisten, und falls ja,
wie begründet die Bundesregierung ihre Ansicht?

35. Welche konkreten Schwerpunkte hatte die Schulungskooperation mit Bela-
rus im Zusammenhang mit dem genannten Castortransport?

Existieren dazu Ergebnisse bzw. Abschlussberichte, Vermerke etc., und
wenn ja, gegebenenfalls (auch) in welchen Bundesministerien?

Berlin, den 13. November 2012
Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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