BT-Drucksache 17/11336

zu der Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Jan Korte, Sevim Dagdelen, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. - Drucksachen 17/4126, 17/8134 - Umgang mit der NS-Vergangenheit

Vom 6. November 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11336
17. Wahlperiode 06. 11. 2012

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Jan Korte, Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke, Petra Pau,
Jens Petermann, Raju Sharma, Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der
Abgeordneten Jan Korte, Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE.
– Drucksachen 17/4126, 17/8134 –

Umgang mit der NS-Vergangenheit

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Mit der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion DIE
LINKE. liegt nun erstmals ein umfassender offizieller Überblick über Umfang
und Intensität der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in den staat-
lichen Organen der frühen Bundesrepublik Deutschland vor. Dieser Überblick
verdeutlicht, in welchem Maße die NS-Vergangenheit für die frühe Entwicklung
der Bundesrepublik Deutschland prägend war und welcher Anstöße und Kontro-
versen es bedurfte, um eine institutionelle Aufarbeitung von personellen Konti-
nuitäten zwischen der NS-Vergangenheit und der Bundesrepublik Deutschland
in die Wege zu leiten.

Anders als von der Bundesregierung geäußert, kann von einer nachhaltigen Un-
terstützung dieser Aufarbeitung durch Bund und Länder „von Beginn an“ nicht
gesprochen werden. Es bedurfte in vielen Fällen erst des Anstoßes von außen,
um die Politik zum Handeln zu bewegen. Stellvertretend seien hier Persönlich-
keiten wie Martin Niemöller, Gustav Heinemann, Eugen Kogon oder Fritz
Bauer genannt. Ihnen, den Überlebenden, Opfern, Angehörigen, den zahlrei-
chen Antifaschistinnen und Antifaschisten, die sich trotz massiver Widerstände
und Diffamierungen über Jahrzehnte für eine kontinuierliche und kritische Aus-
einandersetzung mit der NS-Vergangenheit eingesetzt haben, gebühren Dank
und Anerkennung.

Der Bundestag erkennt die zahlreichen Forschungsvorhaben der letzten Jahre
an, mit denen die Frage nach personellen und inhaltlichen Kontinuitäten in

Bundesministerien und Institutionen des Bundes angegangen wurden. Beispiel-
haft sind hier die Arbeiten zum Bundeskriminalamt (BKA), zum Auswärtigen
Amt und die Forschungsvorhaben in den Bundesministerien der Finanzen und
für Wirtschaft und Technologie. Angesichts der in der Antwort der Bundesregie-
rung aufgeführten Zahlen von NS-belasteten Personen in den frühen Institu-
tionen des Bundes und angesichts des Umgangs mit diesen Personen zeigt sich

Drucksache 17/11336 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

jedoch der dringende Bedarf nach weiterer wissenschaftlicher Aufklärung. Be-
sonders wichtig wäre hierbei zu untersuchen, wie diese Personen auf die gesell-
schaftliche Entwicklung Einfluss genommen haben. Entscheidend ist dabei auch
der Blick darauf, wie diese Entwicklungen auf die Opfer und ihre Angehörigen
wirkten. Aufschlussreich sind hier die Antworten zur Frage nach Entlassungen
aus Institutionen des Bundes aufgrund von NS-Belastung. Im Auswärtigen Amt
wurden ganze drei Personen aufgrund von NS-Belastungen entlassen, im Ver-
antwortungsbereich des Bundesministeriums der Justiz war es eine Person.
Angesichts der neuesten Studie zum BKA verblüfft die Angabe der Bundes-
regierung, wonach es im gesamten Geschäftsbereich des Bundesministeriums
des Innern nur beim BKA drei Fälle gegeben habe.

Der Bundestag sieht es als Selbstverpflichtung an, die Frage der NS-Belastung
von Mitgliedern des Deutschen Bundestages seit 1949 umfassend wissenschaft-
lich aufarbeiten zu lassen. Eine Initiative dazu soll von allen Fraktionen des
Bundestages auf den Weg gebracht werden.

Aus heutiger Sicht beschämend ist die große Zahl der reintegrierten Personen
mit NS-Belastung durch das „131er-Gesetz“, das vom Deutschen Bundestag
1951 verabschiedet wurde. Aufgrund dieser Regelung waren bis zum 31. März
1955 77,4 Prozent der Besetzungen im Verteidigungsministerium sogenannte
131er, im Vertriebenenministerium waren es 71 Prozent, im Wirtschaftsministe-
rium 68,3 Prozent und im Presse- und Informationsamt 58,1 Prozent. Der größte
Teil dieser Personen wies eindeutige NS-Belastungen auf. Die mit diesen Zahlen
deutlich werdende personelle Kontinuität hat sich nach Überzeugung des Bun-
destages als schwere Hypothek für die Anfangsjahre der Bundesrepublik
Deutschland erwiesen. Gegenüber den Opfern und Verfolgten des NS-Regimes
war und ist diese Form der staatlichen Personalpolitik nicht zu erklären.

Ein Bespiel für die zunächst mehr als zögerliche Haltung auch bei der justiziel-
len Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ist die „Zentrale Stelle der Landes-
justizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ im
schwäbischen Ludwigsburg. 20 Jahre nach Kriegsende hatte sie gerade einmal
121 Mitarbeiter, eine verschwindend geringe Zahl angesichts der Dimension der
zu bearbeitenden Fälle. Nie in ihrer Geschichte hatte die Zentralstelle, die der-
zeit mit ganzen 16 Mitarbeitern auskommen muss, auch nur annähernd ausrei-
chende Mittel oder genügend Personal, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden.

Anders als die Bundesregierung in ihrer Antwort sieht der Bundestag sehr wohl
ungeklärte bzw. juristisch umstrittene Fragen beim Thema Entschädigung für
NS-Unrecht. Nach wie vor ist die bis heute ausgebliebene Entschädigung für
sowjetische Kriegsgefangene oder die italienischen Militärinternierten eine be-
schämende Tatsache. Und anders als die Bundesregierung sieht der Bundestag
das Erfordernis, über solche Entschädigungsleistungen schnell und umgehend
nachzudenken und positiv zu entscheiden.

Die in Abständen immer wieder öffentlich thematisierte Unterstützung oder Be-
schäftigung von und Zusammenarbeit mit Verantwortlichen für die Massenver-
brechen des Nationalsozialismus seitens des Bundesnachrichtendienstes oder
auch des Verfassungsschutzes – genannt seien hier stellvertretend nur die
Namen Adolf Eichmann, Klaus Barbie, Alois Brunner und Walther Rauff – ist
beschämend. Der Bundestag erwartet eine vollständige Offenlegung aller noch
vorhandenen Akten zu diesen und ähnlichen Fällen und spricht sich für einen
freien Zugang zu den entsprechenden Akten für Wissenschaft und interessierte
Öffentlichkeit aus.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/11336

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Aufarbeitung und wissenschaftliche Erforschung der Bundesministerien
und Institutionen des Bundes zum Thema NS-Vergangenheit fortzusetzen
und auch auf solche Bundesministerien und Institutionen auszuweiten, die
nur mittelbare Vorläufer im Nationalsozialismus haben;

2. jegliche Beschränkungen für den Zugang zu Akten der entsprechenden Bun-
desministerien und Behörden zu beseitigen und Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern, Journalistinnen und Journalisten und der interessierten Öf-
fentlichkeit den Zugang zu gewähren;

3. die Ergebnisse der Forschungsvorhaben zu Bundesministerien und Institu-
tionen des Bundes zeitnah und vollumfänglich zu veröffentlichen;

4. sich im Zusammenwirken mit dem Bundestag, der Stiftung „Erinnerung, Ver-
antwortung, Zukunft“ und den Organisationen der betroffenen Gruppen über
noch offene Fragen der Entschädigung von NS-Unrecht zeitnah zu verständi-
gen und einen Vorschlag für eine Entschädigung einzubringen.

Berlin, den 6. November 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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