BT-Drucksache 17/1133

Fortgesetzte Rücküberstellungen nach Griechenland im Rahmen der Dublin-II-Verordnung

Vom 22. März 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1133
17. Wahlperiode 22. 03. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Jan van Aken, Sevim Dag˘delen,
Andrej Hunko, Harald Koch, Wolfgang Neskovic, Halina Wawzyniak und der
Fraktion DIE LINKE.

Fortgesetzte Rücküberstellungen nach Griechenland im Rahmen der
Dublin-II-Verordnung

Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren einstweiligen Anordnungen
entschieden (und so auch viele Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte in
mehr als 150 Fällen; vgl. Bundestagsdrucksache 17/203, Anlage 1), dass
Dublin-Überstellungen nach Griechenland wegen Zweifeln am dortigen Asyl-
system derzeit auszusetzen sind. Das Verfassungsgericht entschied ausdrück-
lich unabhängig von der Frage, ob eine „besondere Schutzbedürftigkeit“ im
Einzelfall vorlag oder nicht – worauf jedoch das Bundesministerium des Innern
abstellt. Für den Sommer 2010 wurde eine Grundsatzentscheidung des Bundes-
verfassungsgerichts angekündigt, das dabei auch seine Einschätzung aus dem
Jahr 1996 zur Drittstaatenregelung des „Asylkompromisses“ überprüfen will
(vgl. Pressemitteilung des Gerichts Nr. 137/2009 vom 9. Dezember 2009).

Obwohl das Bundesverfassungsgericht noch keine Entscheidung in der Haupt-
sache gefällt hat, lässt seine mehrfach gleichlautende Abwägung, wonach die
zu befürchtenden Nachteile einer Abschiebung schwerer wögen als das Inte-
resse an einer Durchsetzung der Dublin-II-Verordnung, erkennen, dass es die
derzeitigen Aufnahmebedingungen und Qualitätsmängel im Asylverfahren in
Griechenland als unzureichend ansehen wird. Angekündigt ist eine Prüfung, in
welchen Fallkonstellationen vorläufiger Rechtsschutz gegen Überstellungen
innerhalb der EU gewährt werden muss und „welche Auswirkungen der euro-
parechtliche Grundsatz der Solidarität […] bei einer erheblichen Überlastung
des Asylsystems eines Mitgliedstaates“ hat.

Das Bundesverfassungsgericht wird somit vermutlich Verbesserungen des EU-
Asylsystems anmahnen, wie sie auch von der EU-Kommission zum Teil bereits
vorgeschlagen wurden. Besonders heikel ist deshalb die Positionierung der
Bundesregierung in den EU-Gremien, die darauf hinausläuft, eine Fortentwick-
lung des europäischen Asylsystems davon abhängig machen zu wollen, dass die
EU-Mitgliedstaaten (gemeint ist insbesondere Griechenland) zunächst ihren
rechtlichen Verpflichtungen nachkommen. Denn die von irregulärer Migration
und Asylsuche derzeit besonders betroffenen Länder mit EU-Außengrenzen for-
dern ihrerseits seit längerem eine gerechtere Verantwortungsteilung und mehr
„Solidarität“ innerhalb der EU, damit sie ihren Verpflichtungen nachkommen
können. Somit drohen die dringend erforderlichen Änderungen des EU-Asyl-
systems auf die lange Bank geschoben zu werden. Deutschland profitiert als
Kernland der EU ohne Landesaußengrenzen vom derzeitigen EU-Asylsystem.
Die Bundesregierung will Griechenland nun vor allem dabei helfen, seine

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Grenzen effektiver abzuschotten, sowie für eine Durchsetzung des griechisch-
türkischen Rückübernahmeabkommens eintreten, wie der Bundesminister des
Innern, Dr. Thomas de Maizière, im Innenausschuss des Deutschen Bundestages
am 9. Februar 2010 erklärte.

In der Praxis hält die Bundesregierung trotz der Rechtsprechung des Bundes-
verfassungsgerichts an Rücküberstellungen nach Griechenland grundsätzlich
fest. Den Betroffenen wird dabei häufig die Gelegenheit genommen, vorläufi-
gen gerichtlichen Rechtsschutz zu erlangen, indem ihnen ein Überstellungs-
bescheid erst im Rahmen der Rücküberstellung ausgehändigt wird, so dass ein
Zugang zu den Gerichten faktisch versperrt ist. Die Bundesregierung erklärte
hierzu lapidar (Bundestagsdrucksache 17/203, Frage 5): „Die Frage, ob und in
welcher Form Asylbewerber, die eine Überstellung nach Griechenland ver-
hindern wollen, gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen sollen oder
müssen, muss von jedem Betroffenen für sich beantwortet werden“. Die Neue
Richtervereinigung zeigte sich in einer Presseerklärung vom 23. November
2009 „entsetzt“ über die Antwort der Bundesregierung auf Bundestagsdruck-
sache 16/14169. Der Umgang der Bundesregierung mit den Beschlüssen des
Bundesverfassungsgerichts und der Fachgerichte zeuge „von einer unglaub-
lichen Respektlosigkeit“ und gefährde „die Menschenwürde der Asylsuchen-
den sehenden Auges“.

Das Justizministerium in Schleswig-Holstein hat in einem Erlass vom
1. Februar 2010 verfügt, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen mindestens
sieben Tage vor einer Überstellung anzukündigen sind, damit die Betroffenen
rechtzeitig Rechtsschutz suchen können. Die schwarz-gelb regierten Bundes-
länder Bayern und Baden-Württemberg verzichten bis zur Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache grundsätzlich auf Rücküber-
stellungen nach Griechenland. Das Verwaltungsgericht Frankfurt/Oder ordnete
mit Beschluss vom 3. Februar 2010 (VG 5 L 314/09.A) sogar die Rückholung
eines bereits nach Griechenland Überstellten an, nachdem das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge eine gerichtliche Entscheidung im Eilverfahren
nicht abgewartet hatte.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Geht die Bundesregierung davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht
bis zur angekündigten Grundsatzentscheidung im Sommer 2010 bei Ab-
wägungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren anders als in den bis-
herigen Fällen zu dem Ergebnis kommen könnte, dass Überstellungen nach
Griechenland (wieder) zumutbar seien?

a) Wenn ja, worauf stützt die Bundesregierung ihre diesbezügliche Auf-
fassung konkret, insbesondere angesichts des Umstands, dass das Bun-
desverfassungsgericht seine Bewertung bislang einheitlich, mehrfach und
nahezu wortgleich begründet hat (bitte ausführen)?

b) Wenn nein, wieso hält sie grundsätzlich an Rücküberstellungen nach
Griechenland fest, wenn klar ist, dass alle Betroffenen, die den Rechts-
weg – notfalls bis zum Bundesverfassungsgericht – beschreiten, eine
Überstellung nach Griechenland auf gerichtlichem Wege verhindern
können?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1133

2. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung des Niedersächsischen Ober-
verwaltungsgerichts (13 MC 166/09, B. v. 19. November 2009), das „in An-
betracht der Aktualität der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen keinen
Anlass“ sieht, „weitere Erwägungen zu der Frage der dem Antragsteller
individuell drohenden Nachteile infolge einer Rücküberstellung anzustel-
len“, da es „keinerlei Anhaltspunkte dafür [gibt], dass sich die Situation des
Antragstellers in Griechenland besser darstellen würde, als die Situation der
Asylbewerber in den vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fällen“
(bitte begründen)?

a) Wenn ja, wieso hält sie an ihrer Praxis fest, nur bei „besonders schutz-
bedürftigen“ Personen vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen?

b) Wenn nein, oder wenn sie sich zu dem genannten Beschluss nicht äußern
will, wieso hält sie an ihrer Praxis fest, nur bei „besonders schutzbedürfti-
gen“ Personen vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen, obwohl das
Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen feststellt, dass es auf
eine solche Unterscheidung angesichts der Mängel im griechischen Asyl-
system gerade nicht ankommt?

3. Was genau sind die Inhalte der Änderungen des griechischen Asylsystems
vom Sommer 2009, wie ist seitdem die Struktur und der genaue Ablauf des
griechischen Asylverfahrens (welche Stellen entscheiden in welchen Fall-
konstellationen bzw. in welchen Verfahrensschritten, wie sind diese Stellen
besetzt usw.), und welche Erkenntnisse liegen über die Auswirkungen dieser
Änderungen in der Praxis vor?

4. Wie viele Asylverfahren waren Ende 2009 in Griechenland anhängig und
noch nicht entschieden, und wie hoch war die Anerkennungsquote im Jahr
2009 in Griechenland (bitte jeweils auch nach den verschiedenen Ent-
scheidungsinstanzen unterscheiden und gegebenenfalls Angaben zu anderen
Zeiträumen machen, soweit diese vorliegen)?

5. Wie begründet die Bundesregierung ihre Hoffnung auf Verbesserungen im
griechischen Asylsystem (vgl. Bundestagsdrucksache 16/14149, Frage 29),
z. B. infolge der Änderungen des griechischen Asylsystems vom Sommer
2009 (u. a. Dezentralisierung) angesichts des Umstands, dass der Hohe
Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) in einer Pressemit-
teilung vom 15. Mai 2009 erklärte, dass gerade diese Änderungen die Unab-
hängigkeit und Objektivität der zweiten Instanz gefährden und damit unter
anderem die einheitliche Anwendung der Genfer Konvention und internatio-
nalen und europäischen Rechts und ein faires Verfahren „aufs Spiel“ gesetzt
würden?

6. Wie begründet die Bundesregierung ihre Hoffnung auf Verbesserungen im
griechischen Asylsystem angesichts des Umstands, dass alle eine Über-
stellung nach Griechenland untersagenden Beschlüsse des Bundesverfas-
sungsgerichts nach den und in Kenntnis der Änderungen vom Sommer 2009
ergangen sind?

7. Wie begründet die Bundesregierung ihre Hoffnung auf Verbesserungen im
griechischen Asylsystem angesichts der derzeitigen massiven allgemeinen
wirtschaftlichen und sozialen Probleme in Griechenland, die eine Verbesse-
rung des Asylsystems aus Sicht der griechischen Regierung womöglich
nicht als vordringlich erscheinen lassen?

8. Wie begründet die Bundesregierung ihre Hoffnung auf Verbesserungen im
griechischen Asylsystem angesichts des Umstands, dass sich bereits ihre
Hoffnung auf positive Veränderungen infolge der Umsetzung von EU-Richt-
linien im Juli 2008 nicht realisiert hat?

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9. Ist es zutreffend, dass der UNHCR seit April 2008 einen generellen Stopp
von Überstellungen nach Griechenland fordert, und wie weit geht diese
Forderung in die Überlegungen der Bundesregierung ein (bitte begrün-
den)?

10. Ist es zutreffend, dass der UNHCR sich seit Juni 2009 nicht mehr am
griechischen Asylsystem beteiligt, und geht die Bundesregierung damit
ebenfalls nicht mehr davon aus, dass der Zugang zum Asylverfahren
„grundsätzlich“ gegeben sei, wie der UNHCR in früheren Stellungnahmen
geschrieben hatte?

11. Welche bundesdeutsche Behörde genau bestimmt in welchen Fallkonstella-
tionen (z. B. Einreise mit oder ohne Asylantragstellung, Praxis in den Flug-
häfen, bei Aufgriffen innerhalb der 30-km-Zone usw.) in welcher Form und
zu welchem Zeitpunkt darüber, dass eine Rücküberstellung nach Griechen-
land im Rahmen der Dublin-II-Verordnung erfolgen soll?

12. Welche Behörden vollziehen Dublin-Überstellungen in welchen Fall-
konstellationen, und inwieweit handeln sie dabei in eigener Zuständigkeit
bzw. in Amtshilfe für eine andere Behörde?

13. Bei welcher Behörde liegt grundsätzlich die Verantwortung dafür, den
Rechtsschutz der Betroffenen sicherzustellen, etwa indem Überstellungs-
bescheide mit einer mehrtätigen Frist übergeben werden?

14. Wie viele der 200 Überstellungen nach Griechenland im Jahr 2009 wurden
in Zuständigkeit einer Bundesbehörde (welcher?) bzw. durch eine Bundes-
behörde vollzogen?

15. Wäre es für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge möglich, Amts-
hilfeersuchen zur Durchsetzung einer beabsichtigten Rücküberstellung
nach Griechenland erst dann zu stellen, wenn den Betroffenen mindestens
eine Woche zuvor schriftlich die beabsichtigte Überstellung angekündigt
wurde?

Wenn ja, warum ordnet das Bundesinnenministerium eine solche Praxis
nicht an, damit die Betroffenen rechtliches Gehör finden können, und wenn
nein, warum nicht?

16. Welche anderen Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, für eine ange-
messene Frist zwischen Zustellung des Überstellungsbescheids und dem
Vollzug der Überstellung zu sorgen, in der die Betroffenen die Frage nach
einem Rechtsschutzantrag für sich beantworten und gegebenenfalls alles
dafür Notwendige in die Wege leiten können?

17. Welche aktuellen, neuen Kenntnisse hat die Bundesregierung zur Über-
stellungspraxis anderer Dublin-Staaten betreffend den Vollzug von Über-
stellungen nach Griechenland?

18. Welche aktuellen, neuen Kenntnisse hat die Bundesregierung zur Über-
stellungspraxis der Bundesländer betreffend den Vollzug von Überstellun-
gen nach Griechenland?

19. Wie hoch war die Quote der Asylgesuche, gemessen an der Bevölkerungs-
größe, im Jahr 2009 in den Ländern der Europäischen Union (bitte im
Durchschnitt und einzeln ausweisen, Angaben zumindest für die Länder
Griechenland und Deutschland machen)?

20. Wie begründet die Bundesregierung ihre Haltung, Griechenland müsse erst
einmal seinen europarechtlichen Verpflichtungen nachkommen, bevor die
EU-Richtlinien geändert werden, angesichts des Umstands, dass sich die
Situation in Griechenland vermutlich nicht bessern wird, solange die
geltenden EU-Verteilungsregelungen Griechenland und andere EU-Rand-
staaten übermäßig und einseitig belasten?

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21. Auf welcher Rechtsgrundlage und aus welchen Gründen wird auf eine
Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verzichtet,
wenn ein „EURODAC-Treffer“ (EURODAC – europäische Datenbank zur
Speicherung von Fingerabdrücken) vorliegt, wie ist dies mit der Regelung
nach § 24 Absatz 1 Satz 3 bis 5 des Asylverfahrensgesetzes vereinbar, die
einen Verzicht auf eine Anhörung infolge eines EURODAC-Treffers nicht
vorsieht, und hat dies zur Konsequenz, dass das Bundesamt von seiner
Möglichkeit eines Selbsteintritts keinen Gebrauch mehr machen kann
(wenn ja, wie bewertet die Bundesregierung dies)?

22. Wie lautet die monatliche Statistik zu Dublin-Überstellungen/Selbstein-
tritten/gescheiterten Überstellungen (aus unterschiedlichen Gründen) in
Bezug auf Griechenland für die Jahre 2009 und 2010 (soweit vorliegend,
bitte in der Form wie zu Frage 13 auf Bundestagsdrucksache 17/203 an-
geben)?

23. Welche Entscheidungen in der Rechtsprechung zur Frage der Zulässigkeit
von Dublin-Überstellungen nach Griechenland sind der Bundesregierung
inzwischen aus den Jahren 2009 und 2010 bekannt (bitte wie in Anlage 1
zu Frage 15 auf Bundestagsdrucksache 17/203 antworten, jedoch die Ent-
scheidungen des Jahres 2010 noch einmal gesondert ausweisen), und wel-
che Schlussfolgerungen zieht sie aus dieser Rechtsprechung?

24. Wie bewertet die Bundesregierung zu den Plänen der Europäischen
Kommission, durch Änderung der Dublin-II-Verordnung einen effektiven
Rechtsschutz mit aufschiebender Wirkung im Dublin-Verfahren verpflich-
tend vorzusehen, und wie hat sie sich diesbezüglich bislang in den euro-
päischen Gremien verhalten bzw. wie wird sie sich künftig zu dieser Frage
verhalten?

Berlin, den 18. März 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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