BT-Drucksache 17/1132

Listeriose-Erkrankungen mit tödlichem Verlauf durch mögliche Lücken in der Lebensmittelsicherheit

Vom 22. März 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1132
17. Wahlperiode 22. 03. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Karin Binder, Caren Lay, Dr. Martina Bunge, Inge Höger,
Alexander Süßmair, Dr. Kirsten Tackmann, Harald Weinberg und der
Fraktion DIE LINKE.

Listeriose-Erkrankungen mit tödlichem Verlauf durch mögliche Lücken in der
Lebensmittelsicherheit

Der Bakterienart Listerien muss beim Umgang mit Lebensmitteln besondere
Aufmerksamkeit geschenkt werden. Gelangen die Bakterien in Milch-, Fleisch-
oder Fischprodukte, besteht für Verbraucherinnen und Verbraucher eine Gesund-
heitsgefahr. Die widerstandsfähigen Keime können eine schwere Erkrankung
auslösen. Bei Säuglingen und Schwangeren sowie alten und gesundheitlich ge-
schwächten Menschen kann die Krankheit tödlich enden.

Bei einem aktuellen Listerien-Ausbruch erkrankten in den vergangenen Mona-
ten nach Angaben des Robert Koch-Instituts (Stand 1. März 2010) in Deutsch-
land acht Menschen, drei Patienten verstarben. Auslöser war ein in Österreich
hergestellter Harzer Käse, der hierzulande über den Discounter Lidl vertrieben
wurde. In Österreich, wo das Produkt ebenfalls verkauft wurde, erkrankten
21 Menschen, acht von ihnen starben.

Der Vorfall weist auf mögliche Lücken in der Kontrolle der Lebensmittelsicher-
heit hin, wodurch Verbraucherinnen und Verbraucher unzureichend gewarnt
werden. Ursache ist eine problematische Festlegung im Lebensmittel- und
Futtermittelgesetzbuch (LFGB). Darin ist unter § 40 die Information der
Öffentlichkeit geregelt, wenn ein Risiko für die menschliche Gesundheit be-
steht. Unter Absatz 2 heißt es, dass eine Information der Öffentlichkeit durch
die Behörde nur zulässig ist, wenn dies nicht oder nicht rechtzeitig durch den
Lebensmittelunternehmer erfolgte. Es wird nicht überprüft, ob alle Betroffenen
in angemessener Zeit erreicht werden. Auch ist in Absatz 3 geregelt, dass die
Behörde den Hersteller oder Händler anzuhören hat, bevor die Öffentlichkeit
gewarnt wird. Das kann dazu führen, dass wertvolle Zeit zum gesundheitlichen
Schutz der Bevölkerung verstreicht.

Lidl nahm einen Tag nach der offiziellen Warnmeldung im EU-Schnellwarn-
system zwei betroffene Käsesorten am 23. Januar 2010 aus den Regalen. Ver-
braucherschutzverbände kritisierten allerdings, dass die Verzehrwarnung die
Kundinnen und Kunden nicht wirksam erreichte. Erst am 16. Februar 2010 kam

es zu einer zweiten und unmissverständlichen Meldung durch Lidl sowie zu
einer behördlichen Warnmeldung durch das Ernährungsministerium in Baden-
Württemberg. An dem Tag lief jedoch bereits das Mindesthaltbarkeitsdatum
der betroffenen Käseprodukte ab. Es muss davon ausgegangen werden, dass zu
diesem Zeitpunkt die belastete Ware nahezu vollständig verzehrt war.

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In jedem Fall sind sowohl Behörden als auch die Unternehmen darauf angewie-
sen, dass die Medien die Produktwarnungen wahrnehmbar aufgreifen. Für eine
gewisse Zuspitzung mit dem Verweis auf Todesfälle und mögliche behördliche
Versäumnisse sorgten in diesem Fall Verbraucherverbände. Erst nach der
zweiten Verzehrwarnung durch Lidl griffen die allgemeinen Massenmedien die
Thematik umfassend und an prominenter Stelle auf. Eine von den Medien ge-
wünschte Zuspitzung kann jedoch auch im Widerspruch zu einer sachgenauen
Information der Öffentlichkeit stehen. Es ist daher zu fragen, ob bisherige Mit-
teilungsformen, wie Pressemitteilungen und Informationen auf Internetseiten
von Behörden und Unternehmen ausreichend geeignete Formen der Verbrau-
cherwarnung darstellen.

Ein Problem einer wirksamen Überwachung und schnellen Warnung der Öffent-
lichkeit durch die Behörden stellt auch die unterschiedliche Zuständigkeit in den
einzelnen Bundesländern dar. Obwohl der Listerien belastete Harzer Käse von
Lidl in mehreren Bundesländern vertrieben wurde, gab es kein einheitliches Vor-
gehen der verantwortlichen Behörden. Während in Baden-Württemberg eine
Warnliste und eine Pressemitteilung am 16. Februar 2010 veröffentlicht wurden,
verwies das Bundesland Hessen im Internet lediglich mit einem Link auf die
Meldung von Lidl. In Mecklenburg-Vorpommern hingegen warnte das zu-
ständige Landesamt für Lebensmittelsicherheit bereits am 25. Januar 2010 vor
dem Lidl-Käse. Bei den Landesbehörden ist durchgängig auffällig, dass der Zu-
gang zu den Warnlisten im Internet ein zum Teil aufwändiges „Durchklicken“
bis zur erforderlichen Fundstelle bedarf. Auch die Darstellungsform ist unein-
heitlich.

Nach Angaben der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA)
nimmt die Zahl der Listeriose-Fälle in Europa wieder zu. Besonders betroffen
sind ältere Menschen ab dem 60. Lebensjahr mit schwachem Immunsystem.
Auffällig ist der Zusammenhang zu Listerien belasteten Fertiggerichten. In
einer neueren Risikobewertung der EFSA vom Januar 2008 wurden Listeriose-
Erkrankungen aufgrund deutlicher Grenzwertüberschreitungen bei verzehrferti-
gen Lebensmitteln festgestellt. Die Art der Lebensmittelverpackungen, die Zu-
bereitungspraktiken, der Maschineneinsatz und die Kühlkette spielen dabei
eine wesentliche Rolle. Auch verweist die Behörde in dem Zusammenhang auf
eine möglicherweise falsche Herangehensweise bei der Probennahme und
Schulungsmängel in den Betrieben.

Industriell hergestellte Fertigprodukte bilden danach den Schwerpunkt der
Listerien-Problematik in Europa. Es muss die Frage gestellt werden, ob Ver-
änderungen bei den Herstellungspraktiken in Großbetrieben eine gefährliche
Lücke in der Lebensmittelsicherheit geöffnet haben. Möglicherweise erfassen
die bisherige Kontrolle und deren behördliche Überwachung keimbegünsti-
gende Bedingungen nur unzureichend. Die geltenden Grenzwerte für Listerien
in Fertiggerichten können nach Ansicht der EU-Expertinnen und -Experten von
Seiten der Hersteller nicht sicher eingehalten werden. Daher wird von ihnen für
betroffene Produkte eine Nulltoleranz – also eine Listerienfreiheit des Produk-
tes – während der gesamten Haltbarkeit vorgeschlagen. Darüber hinaus müss-
ten zusätzliche Daten über den Zusammenhang von Listerien und Fertig-
gerichten erhoben werden, um die Risiken besser einschätzen zu können. Der
österreichische Gesundheitsminister Alois Stöger wirft den deutschen Be-
hörden derweil Untätigkeit vor, obwohl es Tote gegeben habe (Interview mit
dem Magazin profil am 8. März 2010).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wann fand der erste Austausch zwischen deutschen und österreichischen

Behörden – im genannten Fall zu dem Problem einer möglichen Listerien-
Belastung ausgehend von österreichischen Käseprodukten – statt?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1132

2. Wie viele Personen, die an Listeriose erkrankten, wurden nach aktuellstem
Stand zum einen in Österreich zum anderen in Deutschland mit dem Liste-
rien belasteten Käse in Verbindung gebracht?

3. Wie viele Listeriose-Fälle wurden seit dem Jahr 2000 in Deutschland pro
Jahr gemeldet, und wie viele Todesfälle waren darunter zu beklagen?

4. Auf welche Lebensmittel und Darreichungsformen waren die Listeriose-
Fälle jeweils zurückzuführen, und waren auch Personen in der Herstellungs-
kette betroffen?

5. Welche vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) und der EFSA be-
nannten Risikogruppen sind seit dem Jahr 2000 besonders von Erkrankun-
gen betroffen, und wie verteilen sich die Todesfälle auf diese Gruppen?

6. Ist bei den Risikogruppen eine Veränderung in der Betroffenheit zu frühe-
ren Jahren erkennbar, wie ist dies zu erklären, und welche Schlüsse zieht
die Bundesregierung daraus?

7. Wie informiert sich die Bundesregierung über eine möglichst wirksame
Information der Öffentlichkeit bei Verzehr- bzw. Verbraucherwarnungen
bei den zuständigen Landesbehörden?

8. Sind Form und Umfang der Verbraucherwarnungen durch Unternehmen
nach Ansicht der Bundesregierung in jedem Fall der konkreten Gefährdung
angemessen (bitte mit Begründung)?

9. Erreichen die Verbraucherwarnungen der Unternehmen nach Einschätzung
der Bundesregierung die betroffenen Verbraucherinnen und Verbraucher
im nötigen Maße (bitte mit Begründung)?

10. Hat die Bundesregierung Hinweise darauf, dass Unternehmen wichtige
oder sachgerechte Informationen in Verzehr- bzw. Verbraucherwarnungen
zurückgehalten haben?

Wenn ja, um welche Informationen handelt es sich?

11. Werden Verbraucher- bzw. Verzehrwarnungen der Unternehmer dahin-
gehend überprüft, ob sie möglichst alle Betroffenen erreichen und im er-
forderlichen Maße wirksam sind?

Nach welchen Methoden und durch wen erfolgen derartige Überprüfungen?

Was sind die zentralen Erkenntnisse daraus?

12. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Verbraucherwarnung des
Unternehmens Lidl bezüglich des Listerien belasteten Harzer Käses vom
23. Januar 2010 ausreichend wirksam war, um alle Betroffenen zu er-
reichen, und wie begründet sie ihre Auffassung?

13. In welchen Bundesländern wurde der belastete Käse durch Lidl angeboten?

14. Wie hoch war der Anteil der von Lidl zurückgenommenen Ware im Ver-
hältnis zum Abverkauf in der Zeit von der ersten Warnmeldung bis zum
Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums?

15. Wie viele Verbraucherinnen und Verbraucher haben sich in oben genann-
tem Zeitraum bei der Firmenhotline (Telefon und E-Mail) über den Liste-
rien-Vorfall informiert?

16. Warum hat Lidl am 16. Februar 2010 eine erneute Verbraucherwarnung
herausgegeben, obwohl an diesem Tag das Mindesthaltbarkeitsdatum des
betroffenen Käses bereits ablief?

Hatten behördliche Stellen einen Einfluss auf dieses Vorgehen, und wie er-
klärt die Bundesregierung, dass die Massenmedien erst nach dieser zweiten

Meldung den Listerien-Vorfall in deutlich wahrnehmbarer Weise aufgegrif-
fen haben?

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17. Hält die Bundesregierung die unterschiedlichen Vorgehensweisen einzelner
Landesbehörden im Fall des Lidl-Käses für sachgerecht und geeignet, ob-
wohl sich Art, Umfang und Zeitpunkt der Öffentlichkeitsinformation in
den einzelnen Bundesländern erheblich unterschied (bitte mit Begrün-
dung)?

18. Durch welche Maßnahmen stellt die Bundesregierung ein einheitliches und
wirksames Vorgehen zwischen den Ländern und auch beim Bund bezüg-
lich der Verzehr- bzw. Verbraucherwarnungen sicher?

19. Hält es die Bundesregierung für sinnvoll, einheitliche Standards für die
Veröffentlichung von Warninformationen festzulegen, um eine schnelle
und breite Erreichbarkeit der Bevölkerung sicherzustellen (bitte mit Be-
gründung)?

20. Ist es nach Ansicht der Bundesregierung sachgerecht, das Lebensmittel-
und Futtermittelgesetzbuch (LFGB) in § 40 zu ändern, um den zuständigen
Behörden zum Schutz der menschlichen Gesundheit bei Verbraucherwar-
nungen mehr Handlungsbefugnisse zu geben, indem sie unabhängig von
Unternehmen Warnungen herausgeben dürfen (bitte mit Begründung)?

21. Erwägt die Bundesregierung andere gesetzgeberische Möglichkeiten, um
den Gesundheitsschutz durch Verbraucher- bzw. Verzehrwarnungen sowie
Rückrufe oder Verkaufsverbote zu verbessern?

Falls ja, welche?

Falls nein, warum nicht?

22. Ist die derzeit praktizierte Form der Öffentlichkeitsinformation bei Verzehr-
bzw. Verbraucherwarnungen, wobei im Wesentlichen darauf vertraut wird,
dass die Massenmedien die Meldungen aufgreifen, geeignet, die Bevölke-
rung im erforderlichen Maße zu warnen, und wie begründet die Bundes-
regierung ihre Haltung?

23. Stimmt die Bundesregierung mit den Erkenntnissen der EFSA überein,
dass die Zahl der Listeriose-Fälle in Europa seit der Jahrtausendwende wie-
der zunimmt und insbesondere ältere Menschen über 60 Jahre betroffen
sind (bitte mit Begründung), und welche Erkenntnisse hat sie daraus bisher
für Deutschland gezogen?

24. Teilt die Bundesregierung die Auffassung der EFSA, dass eine erhöhte
Listeriose-Gefährdung insbesondere von Fertigprodukten ausgeht und dass
die Ursachen auch bei der Art der Lebensmittelverpackung, den Zuberei-
tungspraktiken, dem Maschineneinsatz und der Kühlkette liegen (bitte mit
Begründung)?

25. Sieht die Bundesregierung ein Erfordernis, die Listeriose-Gefährdung, die
von verzehrfertigen Lebensmitteln ausgehen kann, durch eine verbesserte
Lebensmittelkontrolle und behördliche Überwachung zu mindern?

Wenn nein, warum nicht, und wenn ja, durch welche Maßnahmen?

26. Kann die Bundesregierung ausschließen, dass Veränderungen bei den Her-
stellungspraktiken, insbesondere in Großbetrieben, zu Keim begünstigen-
den Bedingungen führen, die von der Kontrolle und der behördlichen Über-
wachung unzureichend erfasst werden (bitte mit Begründung)?

27. Inwieweit ist die Bundesregierung bereit, zum Schutz der Gesundheit der
Verbraucherinnen und Verbraucher der EFSA-Empfehlung zu folgen, bei
Fertiggerichten eine Nulltoleranz für Listerien während der gesamten Halt-
barkeit festzulegen (bitte mit Begründung)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/1132

28. Welche zusätzlichen Untersuchungen bzw. Datenerhebungen will die Bun-
desregierung in Zusammenarbeit mit den Ländern bezüglich der Listerien-
Häufigkeit in Fertigprodukten und den damit zusammenhängenden Produk-
tionsverfahren durchführen, um die Risiken besser einschätzen zu können?

29. Welche weiteren Maßnahmen ergreift die Bundesregierung in Zusammen-
arbeit mit den Ländern aufgrund der Erkenntnisse aus der EFSA-Stellung-
nahme?

30. Welche Haltung hat die Bundesregierung zu dem Vorwurf des österreichi-
schen Gesundheitsministers Alois Stöger, die deutschen Behörden seien im
Fall des Listerien belasteten Käses trotz Todesfälle untätig geblieben (bitte
mit Begründung)?

Berlin, den 22. März 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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