BT-Drucksache 17/1054

Entwicklungen im Ausweisungsrecht

Vom 16. März 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1054
17. Wahlperiode 16. 03. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Petra Pau, Jens Petermann,
Frank Tempel, Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Entwicklungen im Ausweisungsrecht

Im Jahr 2007 ist eine Ausweitung der Ausweisungstatbestände im Aufenthalts-
gesetz (AufenthG) in Kraft getreten. Damit sollten die Möglichkeiten ausgedehnt
werden, gegen vermeintliche Integrationsverhinderer und so genannte jugend-
liche Intensivstraftäter mit den Mitteln des Aufenthaltsrechts vorzugehen (§ 55
Absatz 2 Satz 1 Nummer 9 bis 11 des Aufenthaltsgesetzes). Die Präsidentin des
Bundesverwaltungsgerichts, Marion Eckertz-Höfer, erklärte jedoch, dass sie
aufgrund der europarechtlichen Bestimmungen „keine Konstellation“ sehe, in
der diese Neuregelungen zur Anwendung kommen könnten (Süddeutsche Zei-
tung vom 13. November 2006).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fordert seit längerem bei Aus-
weisungen eine umfassende Abwägung aller Einzelfallumstände im Rahmen
einer Verhältnismäßigkeitsprüfung; dem hat sich das Bundesverfassungsgericht
(BVerfG) angeschlossen. Aus den Richtlinien der Europäischen Union und dem
EU-Assoziierungsabkommen mit der Türkei ergeben sich weitere Einschrän-
kungen des Ausweisungsrechts. Die gesetzlichen Regelungen im deutschen Auf-
enthaltsgesetz sind mit diesen europarechtlichen Vorgaben häufig unvereinbar.

Auf der Innenministerkonferenz am 3./4. Dezember 2009 in Bremen wurde der
Bundesminister des Innern gebeten, die „Notwendigkeit einer strukturellen An-
passung der gesetzlichen Vorgaben“ im Ausweisungsrecht „zu prüfen“. „Diese
klaren Regelungen werden wieder zu mehr Ausweisungen von straffälligen Aus-
ländern führen“, erklärte der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann
am 4. Dezember 2009 – was verwundert, weil eine systematische Berücksich-
tigung der Rechtsprechung bei einer Gesetzeskorrektur zu weniger (und nicht zu
mehr) Ausweisungen führen müsste.

Bereits seit längerem beinhaltet das Aufenthaltsrecht Möglichkeiten, gegen Aus-
länder vorzugehen, die im Verdacht stehen, extremistische oder terroristische
Bestrebungen zu unterstützen. Im Rahmen der „Nürnberger Tage zum Asyl- und
Aufenthaltsrecht“ im November 2009 hat der damalige Geheimdienstabteilungs-
leiter im Bundeskanzleramt und jetzige Staatssekretär im Bundesministerium
des Innern (BMI), Klaus-Dieter Fritsche (CSU), die „Warnfunktion“ des Bun-
desamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gewürdigt (siehe FAZ vom
23. November 2009, „Eine neue Übergangsregelung“). Nach Angaben von Teil-

nehmern wurden dort von Seiten des BMI konkrete Zahlen zu Personen genannt,
die ausgewiesen worden sind, weil ihnen extremistische oder terroristische Be-
züge zur Last gelegt wurden. Es ist also davon auszugehen, dass der Bundes-
regierung diese Zahlen vorliegen. Im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum
von Polizei und Geheimdiensten ist in der AG Status auch das BAMF vertreten,
dort werden Informationen zu verdächtigen Ausländern abgeglichen und „status-
rechtliche Begleitmaßnahmen“ abgestimmt (Ausweisung, Abschiebung, Über-

Drucksache 17/1054 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

wachungsanordnung nach § 54a des Aufenthaltsgesetzes, Rücknahme/Widerruf
des Asyls oder Flüchtlingsstatus, Verweigerung von Aufenthaltstiteln).

Um die Beantwortung von Fragen zu ermöglichen, bei denen eine Abfrage bei
zuständigen Länderbehörden notwendig ist, erklärt sich die Fragestellerin mit
einer Fristverlängerung zur Beantwortung der Anfrage einverstanden.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Ausländerinnen und Ausländer sind (mit Stand 31. Dezember
2009) im Ausländerzentralregister (AZR) gespeichert, gegen die eine Aus-
weisungsverfügung ergangen ist, differenziert nach dem Jahr der zuletzt er-
gangenen Ausweisungsverfügung?

2. Wie viele Ausländerinnen und Ausländer sind (mit Stand 31. Dezember
2009) im Ausländerzentralregister gespeichert, gegen die eine Auswei-
sungsverfügung ergangen ist, differenziert nach Geschlecht?

3. Wie viele Ausländerinnen und Ausländer sind (mit Stand 31. Dezember
2009) im Ausländerzentralregister gespeichert, gegen die eine Auswei-
sungsverfügung ergangen ist, differenziert nach Alter (in den Schritten
0 bis 13 Jahre, 14 bis 17 Jahre, 18 Jahre und älter)?

4. Wie viele Ausländerinnen und Ausländer sind (mit Stand 31. Dezember
2009) im Ausländerzentralregister gespeichert, gegen die eine Auswei-
sungsverfügung ergangen ist, differenziert nach Bundesländern?

5. Wie viele Ausländerinnen und Ausländer sind (mit Stand 31. Dezember
2009) im Ausländerzentralregister gespeichert, gegen die eine Auswei-
sungsverfügung ergangen ist, differenziert nach Herkunftsstaaten?

6. Wie viele Ausländerinnen und Ausländer sind (mit Stand 31. Dezember
2009) im Ausländerzentralregister gespeichert, gegen die eine Auswei-
sungsverfügung ergangen ist, differenziert nach Aufenthaltstitel zum Zeit-
punkt der Ausweisungsverfügung bzw. aktuell?

7. Wie viele Ausländerinnen und Ausländer sind (mit Stand 31. Dezember
2009) im Ausländerzentralregister gespeichert, gegen die eine Auswei-
sungsverfügung ergangen ist, differenziert nach befristet und unbefristet,
und wie viele dieser Ausweisungen erfolgten zuletzt im Jahr 2009?

8. Wie viele Ausländerinnen und Ausländer sind (mit Stand 31. Dezember
2009) im Ausländerzentralregister als „aufhältig“ bzw. „nicht aufhältig“ ge-
speichert, gegen die eine Ausweisungsverfügung ergangen ist, und wie viele
dieser Ausweisungen erfolgten zuletzt im Jahr 2009?

9. Wie viele Ausländerinnen und Ausländer sind (mit Stand 31. Dezember
2009) im Ausländerzentralregister gespeichert, gegen die eine Auswei-
sungsverfügung ergangen ist, differenziert nach „noch nicht vollziehbar“,
„sofort vollziehbar“ und „unanfechtbar“, und wie viele dieser Ausweisun-
gen erfolgten zuletzt im Jahr 2009?

10. Welche Erkenntnisse besitzt die Bundesregierung zur Rechtsgrundlage der
im AZR erfassten Ausweisungsverfügungen?

a) Wie viele der Ausweisungsverfügungen stützen sich auf § 53 des Aufent-
haltsgesetzes (Zwingende Ausweisung), bitte soweit wie möglich nach
den einzelnen Tatbeständen differenzieren?

b) Wie viele der Ausweisungsverfügungen stützen sich auf § 54 des Aufent-
haltsgesetzes (Ausweisung im Regelfall), bitte soweit wie möglich nach
den einzelnen Tatbeständen differenzieren?

c) Wie viele der Ausweisungsverfügungen stützen sich auf § 55 des Aufent-

haltsgesetzes (Ermessensausweisung), bitte soweit wie möglich nach den
einzelnen Tatbeständen differenzieren?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1054

11. Wie viele der Ausländerinnen und Ausländer, gegen die eine Ausweisungs-
verfügung erging,

a) reisten „freiwillig“ aus,

b) wurden abgeschoben,

c) konnten aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht abgeschoben
werden,

(bitte nach Herkunftsländern, Jahren und dem Stand der Rechtskraft der
Ausweisungsverfügung auflisten)?

12. Gegen wie viele Ausländerinnen und Ausländer ist nach Kenntnis der Bun-
desregierung nach den neuen Nummern 9 bis 11 in § 55 Absatz 2 Satz 1
AufenthG seit Geltung der Regelung eine Ausweisungsverfügung ergangen,
und wie viele wurden hiervon rechtskräftig bzw. mussten infolge einer
Gerichtsentscheidung oder im Widerspruchsverfahren zurückgenommen
werden?

a) Wie bewertet die Bundesregierung vor diesem Hintergrund die Wirksam-
keit dieser Neuregelungen?

b) Welche Haltung vertritt die Bundesregierung zu der Einschätzung, dass
diese Regelungen vor dem Hintergrund europarechtlicher Vorgaben prak-
tisch unanwendbar seien?

13. Gegen wie viele Ausländerinnen und Ausländer ist nach Kenntnis der Bun-
desregierung eine Ausweisungsverfügung auf Grundlage des § 54 Absatz 5,
5a, 6 und 7 AufenthG (bitte einzeln aufführen) ergangen?

In wie vielen Fällen hat die AG Status eine Ausweisung angeregt (bitte nach
Jahr und Herkunftsstaat der Betroffenen differenzieren)?

14. In wie vielen Fällen ist durch die AG Status die Verweigerung eines Aufent-
haltstitels empfohlen worden, und in wie vielen Fällen wurde dieser Emp-
fehlung nach Kenntnis der Bundesregierung Folge geleistet (bitte nach Jah-
ren und Herkunftsstaat der Betroffenen aufschlüsseln)?

15. In wie vielen Fällen hat die AG Status eine Überwachungsanordnung nach
§ 54a AufenthG empfohlen, in wie vielen Fällen wurde dieser Empfehlung
nach Kenntnis der Bundesregierung Folge geleistet, und wie viele Überwa-
chungsanordnungen gab es insgesamt (bitte nach Jahren und Herkunftsstaat
der Betroffenen aufschlüsseln)?

16. In wie vielen Fällen hat die AG Status eine Abschiebungsanordnung ohne
vorherige Ausweisung nach § 58a AufenthG empfohlen, in wie vielen Fäl-
len wurde dieser Empfehlung nach Kenntnis der Bundesregierung Folge
geleistet, und wie viele Abschiebungsanordnungen gab es insgesamt (bitte
nach Jahren und Herkunftsstaat der Betroffenen aufschlüsseln)?

17. In wie vielen Fällen hat das BAMF auf Empfehlung der AG Status ein
Widerrufs- bzw. Rücknahmeverfahren gegen eine Asyl- oder Flüchtlings-
anerkennung eingeleitet (bitte nach Jahren, Staatsangehörigkeit der Betrof-
fenen und Ausgang des Verfahrens aufschlüsseln)?

18. Welches sind die inhaltlichen Eckpunkte des Berichts des Bundesinnen-
ministeriums an die Innenministerkonferenz zu „praxisgerechten Optionen
zur Fortentwicklung des Ausweisungsrechts“?

19. Wieso wurde dieser Bericht nicht zur Veröffentlichung freigegeben?

20. Was wurde zum weiteren Vorgehen in der Frage der Vereinfachung des Aus-
weisungsrechts im Rahmen und bei Anlass der Innenministerkonferenz ver-

abredet?

Drucksache 17/1054 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
21. Was sind von der genannten Tagung der Innenminister der Länder unabhän-
gige Planungen des Bundesinnenministeriums zur Fortentwicklung des
Ausweisungsrechts?

22. Wie verhält sich die Bundesregierung insbesondere zur Forderung des nie-
dersächsischen Innenministers, bei jeder Verurteilung zu einer Freiheits-
strafe ohne Bewährung die Ausweisung zum Regelfall zu machen, und hält
sie dies für vereinbar mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-
hofs für Menschenrechte (EGMR) und des BVerfG, die bei längerem Auf-
enthalt ergebnisoffene Einzelfallabwägungen und Verhältnismäßigkeitsprü-
fungen fordert?

23. Welche (Gruppen von) Staatsangehörige(n) sind von der Systematik des gel-
tenden Aufenthaltsgesetzes mit den so genannten Ist-, Soll- und Kann-Aus-
weisungen insofern nicht betroffen, als für sie nach europäischer und deut-
scher Rechtsprechung hiervon abweichende oder zusätzliche Ausweisungs-
regelungen gelten, und wie hoch ist schätzungsweise ihr Anteil an der nicht-
deutschen Bevölkerung in Deutschland?

24. Ist es zutreffend, dass für türkische Staatsangehörige, die das Assoziations-
recht für sich in Anspruch nehmen können, Ausweisungsregelungen wie für
Unionsangehörige gelten, wobei in der Rechtsprechung nur noch umstritten
ist, ob hierzu auch der erhöhte Ausweisungsschutz nach zehnjährigem Auf-
enthalt gehört (bitte begründen), und wie hat sich insbesondere die Zahl der
Ausweisungen türkischer Staatsangehöriger seit 2000 entwickelt?

25. Welche Schritte hat die Bundesregierung bislang unternommen, um die
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur
Vereinbarkeit von Ausweisungen mit dem Recht auf Privatleben aus
Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (beispielhaft Maslov
vs. Bundesrepublik Österreich, Urteil vom 23. Juni 2008) umzusetzen (bitte
auch konkret auf einzelne Aspekte der Rechtsprechung eingehen), und wel-
che Änderungen im Wortlaut des Aufenthaltsgesetzes hält sie – auch im
Sinne einer größeren Rechtsklarheit – für erforderlich, um den Anforderun-
gen der Rechtsprechung des EGMR und des BVerfG zu Ausweisungen zu
entsprechen?

Berlin, den 16. März 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.