BT-Drucksache 17/10532

Erkenntnisse der Bundesregierung über rassistische und antiziganistische Gruppen in Bulgarien und deren Kontakte zur neonazistischen Szene in Deutschland

Vom 15. August 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10532
17. Wahlperiode 15. 08. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Annette Groth, Heike Hänsel, Andrej Hunko,
Ulla Jelpke, Niema Movassat, Petra Pau, Katrin Werner und der Fraktion
DIE LINKE.

Erkenntnisse der Bundesregierung über rassistische und antiziganistische
Gruppen in Bulgarien und deren Kontakte zur neonazistischen Szene
in Deutschland

Offiziell leben mit Stand von 2011 in Bulgarien 5 Prozent Roma und 8,8 Prozent
Türkinnen und Türken (www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/
Laenderinfos/01-Nodes_Uebersichtsseiten/Bulgarien_node.html). Allerdings ge-
hen die Schätzungen bei den in Bulgarien lebenden Roma von einem Bevölke-
rungsanteil von ca. 10 Prozent (http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.
do?uri=COM:2011:0173:FIN:DE:PDF, S. 17) aus. Immer wieder sind Roma und
Türken Ziel rassistischer und neofaschistischer Hetze und Angriffe. Wie in ande-
ren Staaten im Baltikum sowie in Mittel- und Südosteuropa knüpfen viele
politische Akteure wieder an nationalistischen und teilweise faschistischen Tra-
ditionen der Zwischenkriegszeit an (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die
Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. auf Bundestagsdrucksache 17/9626).
Bei den politischen Parteien sind es z. B. die Parteien „Ataka“ (Attacke) und
„VMRO-BND“ (Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation – Bulga-
rische Nationale Bewegung), die nationalistische und rassistische Positionen
offensiv vertreten. Letztere hatte 2010 eine Unterschriftensammlung für ein
Referendum gegen den EU-Beitritt der Türkei unter dem Motto „7 Millionen
Bulgaren in der EU gegen 70 Millionen Türken“ organisiert und dank ihrer natio-
nalistischen und rassistischen Hetze 320 000 Unterschriften zusammengebracht
(http://bulgaria.indymedia.org/article/37014).

Auch „Ataka“ fällt vor allem durch eine antitürkische und antiziganistische Hal-
tung auf (www.heise.de/tp/artikel/35/35568/1.html). „Ataka“ war 2007 neben der
„Front National“ (FN), der „Partidul România Mare“ (PRM), dem „Vlaams
Belang“ (VB) und der „Freiheitlichen Partei Österreichs“ (FPÖ) sowie zwei
italienischen und einem britischen Abgeordneten an der Gründung der extrem
rechten und neofaschistischen Fraktion „Identität, Tradition, Souveränität“ (ITS)
im Europaparlament beteiligt. Die Anhänger von „Ataka“ nahmen am 20. Mai
2011 an gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Besucherinnen und Besuchern
der Banja-Baschi-Moschee in Sofia teil, bei denen fünf Menschen, darunter

zwei Mitglieder der Partei, verhaftet wurden. Die Menschenrechtsorganisation
Helsinki-Komitee Bulgarien sprach von einer „beunruhigenden Eskalation der
Fremdenfeindlichkeit und des religiösen Hasses“ und forderte ein Verbot der
Partei (www.tagesschau.sf.tv/Nachrichten/Archiv/2011/05/21/International/
Sofia-Rechtsextreme-greifen-Muslime-an).

Drucksache 17/10532 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Doch nicht nur die Parteien können im Schatten der Behörden rassistisch schal-
ten und walten. Der bulgarische „Nationale Widerstand“ nimmt dabei nicht
allein bezüglich der Slogans wie „Frei, Sozial, National“ und durch das Tragen
szenetypischer schwarzer Kleidung klaren Bezug zu den „autonomen Natio-
nalisten“ in Deutschland (www.schattenblick.de/infopool/medien/altern/gras
1118.html). Auch personell bestehen gute Kontakte zur rechtsextremen bzw.
neonazistischen Szene in Deutschland. Die Integration der Faschisten des „Bul-
garischen Nationalbundes“ (BNS) und der rumänischen Faschisten der „Noua
Dreapta˘“ in die Strukturen der „Europäischen Nationalen Front“ (ENF), in der
ansonsten Parteien wie die deutsche Nationaldemokratische Partei Deutschlands
(NPD), die italienische „Forza Nuova“ und die spanische „La Falange“ tonan-
gebend sind und der auch die neofaschistische griechische Partei Chrysi Avgi
(Goldene Morgendämmerung) angehört, die zuletzt bei den Wahlen in Griechen-
land im Juni 2012 knapp 7 Prozent erreichten, zeigt, dass gemeinsame ideologi-
sche Wurzeln und historische Kooperationen heute im Sinne einer europaweiten
Kooperation und Vernetzung der Neofaschisten genutzt werden.

Ausdruck dieser Vernetzung sind regelmäßige Gegenbesuche von Mitgliedern der
ENF-Parteien bei sog. jährliche stattfindenden „Gedenkfeiern“ bzw. „-märschen“
wie die zu Ehren von Ion Mota und Vasile Marin im Januar in Madrid, anlässlich
des Imia-Zwischenfalls im Januar in Athen, anlässlich der Bombardierung Dres-
dens im Februar in Dresden oder auch zu Ehren des Faschistenführers Corneliu
Codreanu im November in Bukarest (www.stiftung-evz.de/w/files/publikatio-
nen/n_ost_stipendien_endgueltig.pdf). Ein weiteres Beispiel ist der jährlich seit
2004 im Februar zu Ehren des faschistischen Generals Hristo Nikolov Lukov
stattfindende sog. Lukov-Marsch in Sofia, an dem sich neben „Blood and
Honour“ Angehörige des „Nationalen Widerstandes“ („Nazionalna Saprotiva“),
des „Bulgarischen Nationalbundes“, Nazi-Skinheads und Mitglieder der sog.
Ultras von Levski Sofia auch Mitglieder extrem rechter Gruppen aus mehreren
europäischen Ländern beteiligen. Hristo Nikolov Lukov war bis zu seinem Tod
1943 ein leidenschaftlicher Anhänger des Nationalsozialismus und Führer der
ehemaligen „Bulgarischen Nationalen Legionen“. 1935 wurde er zum Kriegs-
minister ernannt, unterstützte die Achsenmächte und knüpfte enge Kontakte
zum Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe Hermann Göring als auch zu
anderen führenden Nazi-Politikern. Auf der bulgarischen Nationalkonferenz im
November 1942 wurde beschlossen, Generalfeldmarschall Erwin Rommel und
seine „Deutschen Afrikakoprs“ in Nordafrika zu unterstützen. Durch das Atten-
tat kommunistischer Partisanen auf General Hristo Nikolov Lukov im Februar
1943 konnte dieser Einsatz verhindert werden.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Erkenntnisse besitzt die Bundesregierung über bestehende Kontakte,
den Austausch und die Zusammenkünfte zwischen der NPD, den Jungen
Nationaldemokraten (JN), sog. Freien Kameradschaften und/oder anderen
Angehörigen extrem rechter Organisationen aus Deutschland mit neo-
faschistischen bzw. extrem rechten Organisationen und Zusammenhängen in
Bulgarien wie der Partei „Ataka“, dem „Bulgarischen Nationalbund“ (BNS),
der „VMRO-BND“ und dem bulgarischen „Nationalen Widerstand“ (bitte
nach Anzahl, Datum, Ort und Zweck der Treffen auflisten)?

2. Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnis von der Teilnahme deutscher
Nazis bzw. Angehöriger extrem rechter Organisationen wie der NPD, den
Jungen Nationaldemokraten (JN), sog. Freien Kameradschaften und/oder
anderen Angehörigen extrem rechter Organisationen aus Deutschland an
dem jährlich stattfindenden „Lukov-Marsch“ seit 2004 (bitte entsprechend
der Jahre nach Datum und Ort, Name der Organisation und Anzahl der

deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer aufführen)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10532

3. Inwieweit ist der Bundesregierung bekannt, dass die Nazi-Band Civil
Disorder aus dem Raum Magdeburg, die zur musikalischen Strömung des
„National Socialist Hardcore“ gehört und in den vergangenen Jahren unter
anderem auf „Blood and Honour“-Konzerten in Belgien, Italien und
Dänemark auftrat, am 7. Februar 2009 in Sofia an einem Konzert nach dem
Nazi-Aufmarsch zu Ehren des faschistischen Generals Hristo Nikolov Lukov
am selben Tag teilnahm (http://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2011/12/09/
schiestraining-fur-die-kameraden-das-militante-nazinetzwerk_7755)?

4. Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnis darüber, dass das Europäische
Netzwerk gegen Rassismus (ENAR) am 15. Februar 2012 ein Schreiben an
die Bürgermeisterin Sofias, Yordanka Fandakova, die sich von der rassis-
tischen Partei „Ataka“ unterstützen lässt, sowie an Bulgariens Ombuds-
mann, Konstantin Penchev, geschickt hat, in dem ein Verbot des faschisti-
schen Lukov-Gedenkmarsches gefordert wird, eine Forderung, die auch
von der Initiative „People against Racism“ (XoPa) unterstützt wurde
(www.novinite.com/view_news.php?id=136720)?

5. Inwieweit ist der Bundesregierung bekannt, mit welcher Begründung die
Bürgermeisterin Sofias, Yordanka Fandakova, und Bulgariens Ombuds-
mann, Konstantin Penchev, auf die Forderung offenkundig ablehnend rea-
giert haben?

6. Inwieweit ist der Bundesregierung bekannt, welche Parteien, Organisatio-
nen und Initiativen in Bulgarien bzw. in Sofia zum Protest gegen den neo-
faschistischen Lukov-Marsch aufgerufen haben?

7. Inwieweit sieht die Bundesregierung die Gefahr, dass nach der zum dritten
Mal erfolgreichen Verhinderung von Europas größtem Naziaufmarsch in
Dresden und der damit weggefallenen symbolhaften Zusammenkunft der
europäischen Naziszene, der neofaschistische Lukov-Marsch zu einer
Ersatzveranstaltung werden könnte, worauf möglicherweise die gestiegene
Teilnehmerzahl dieses Jahres hinweisen könnte?

8. Inwieweit sieht die Bundesregierung in der Kriminalisierung antifaschisti-
schen und zivilgesellschaftlichen Engagements gegen derartige Nazi-
aufmärsche auch in Bulgarien einen Hauptgrund für die mangelnde Protest-
kultur gegen rassistische, neofaschistische sowie antisemitische und anti-
ziganistische Angriffe?

9. Inwieweit ist nach Kenntnis der Bundesregierung auch der weitverbreitete
Rassismus und Antiziganismus nicht nur in der bulgarischen Gesellschaft
allgemein, sondern auch bei staatlichen Behörden wie der Polizei im Be-
sonderen ein Hauptgrund dafür, dass immer wieder pogromartige Überfälle
und Gewalt vor allem auf Roma aber auch verstärkt auf Muslime möglich
sind und nicht ausreichend Versuche gemacht werden, diese seitens der
Behörden zu verhindern, wie Amnesty International in seinem Jahresbericht
zu Bulgarien kritisierte (www.amnesty.de/jahresbericht/2012/bulgarien)?

Inwieweit sind der Bundesregierung entsprechende Vorwürfe gegen staat-
liche Behörden in Bulgarien bekannt?

10. Inwieweit hat die Bundesregierung Erkenntnisse über die Teilnahme deut-
scher Nazis bzw. Angehöriger extrem rechter Organisationen und Zu-
sammenhänge an den pogromartigen Übergriffen auf Roma Ende Septem-
ber 2011 sowie anderen Überfällen auf Migrantinnen und Migranten sowie
auf Roma in den letzten fünf Jahren insgesamt (bitte nach Zeitpunkt, Ort,
Anzahl der Teilnehmenden aus Deutschland und Partei bzw. Organisation
auflisten)?

Drucksache 17/10532 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
11. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Aufnahme von Er-
mittlungen gegen deutsche Staatsangehörige in Bulgarien vor dem Hinter-
grund rechtsmotivierter Straftaten?

12. Welche Informationen wurden wann, an welche zuständige Stelle in Bulga-
rien durch welche deutschen Sicherheitsbehörden in Zusammenhang mit
Reisen, Treffen, geplanten bzw. verübten politisch motivierten rechten
Straftaten weitergeleitet?

13. Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnis von der Teilnahme Angehöri-
ger neofaschistischer bzw. extrem rechter Organisationen und Zusammen-
hänge aus Bulgarien wie der Partei „Ataka“, dem „Bulgarischen National-
bund“, der „VMRO-BND“ und dem bulgarischen „Nationalen Widerstand“
an Veranstaltungen deutscher Nazis bzw. extrem rechter Organisationen
beispielsweise am „Fest der Völker“ (Sommer, Jena/Altenburg), am „Ge-
denkmarsch“ anlässlich der Bombardierung Dresdens (Februar, Dresden)
und/oder am „Pressefest der Deutschen Stimme“ in den letzten fünf Jahren
(bitte entsprechend der Jahre aufführen)?

14. Inwieweit ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Äußerung des
Menschenrechtsbeauftragten des Europarates, Nils Muiznieks, wonach er
die größte Gefahr darin sehe, dass die rassistischen Aussagen und Über-
griffe in Griechenland als „normale Phänomene“ betrachtet würden, was
den Tätern den Eindruck vermittle, sie hätten die Unterstützung der Gesell-
schaft (AFP-Meldung vom 15. Juli 2012) auch auf Bulgarien übertragbar
ist?

15. Welche Auftritte weiterer extrem rechter bzw. Nazi-Musikgruppen aus
Deutschland in Bulgarien bzw. aus Bulgarien in Deutschland sind der
Bundesregierung bekannt, und inwieweit kam es dabei zu Straftaten?

16. Inwieweit hat die Bundesregierung Erkenntnisse über die Schändung reli-
giöser Stätten wie Friedhöfe (z. B. türkische und jüdische Friedhöfe) sowie
andere Einrichtungen wie Schulen, in denen beispielsweise hebräisch
unterrichtet wird?

17. Welche weiteren extrem rechten Organisationen und Parteien neben den be-
reits in der Vorbemerkung genannten, existieren nach Kenntnis der Bundes-
regierung in Bulgarien?

18. Inwieweit ist der Bundesregierung bekannt, dass die rassistische Partei
„Ataka“ mit ihrer gleichnamigen Parteizeitung, die seit 2006 herausgegeben
wird, an die Tradition der Zeitung „Ataka“ anknüpft, die zwischen 1932 und
1934 erschien und nach der deutschen Nazi-Zeitung „Angriff“ gezielt ent-
sprechend der bulgarischen Übersetzung „Ataka“ benannt wurde?

19. Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnis darüber, welche Initiativen
und Maßnahmen seitens der bulgarischen Regierung nach dem Start der
vom Europarat und der Europäischen Union finanzierten Kampagne
„Dosta“ (Romanes für „Genug!“) in 2010 ergriffen wurden?

20. Inwieweit ist der Bundesregierung bekannt, ob und inwieweit die bul-
garische Regierung im Zuge der im ersten Halbjahr 2011 verabschiedeten
EU-Rahmenstrategie für die gesellschaftliche Integration der Roma zur
Verbesserung der Situation der Roma ergangene Aufforderung an alle
EU-Mitgliedstaaten, bis Ende 2011 eigene nationale Strategien vorzulegen,
entsprechend erfüllt hat?

Berlin, den 15. August 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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