BT-Drucksache 17/10410

Gesundheitsforschungsprojekt Nationale Kohorte

Vom 27. Juli 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10410
17. Wahlperiode 27. 07. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Birgitt Bender, Dr. Harald Terpe, Maria Klein-Schmeink,
Elisabeth Scharfenberg, Krista Sager, Sven-Christian Kindler, Kai Gehring,
Tabea Rößner und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gesundheitsforschungsprojekt Nationale Kohorte

Die Nationale Kohorte ist als prospektive, multizentrische Kohortenstudie mit
200 000 Probandinnen und Probanden im Alter von 20 bis 69 Jahren geplant.
Die Studie soll medizinische Untersuchungen mit einer Befragung zu den
Lebensgewohnheiten (z. B. körperliche Aktivität, Rauchen, Ernährung und Be-
ruf) kombinieren. Bei 40 000 Probandinnen und Probanden sollen zusätzliche
umfassende medizinische Untersuchungen vorgenommen werden, u. a. per
Ganzkörper-MRT (Magnet-Resonanz-Tomographie). Die Nationale Kohorte soll
im Frühjahr 2013 starten und über einen Zeitraum von 20 bis 30 Jahren laufen.

Die Etablierung der gesundheitswissenschaftlichen Forschung an deutschen
Hochschulen seit den späten 80er-Jahren hat maßgeblich dazu beigetragen, das
naturwissenschaftlich-biomedizinische Verständnis der Entstehung von Krank-
heit und die primär an Problemgruppen und Risikofaktoren orientierte epide-
miologische Forschung (Old Public Health) zu überwinden. Wir wissen heute,
dass es nicht alleine Risikofaktoren, sondern insbesondere die unterschiedlichen
Lebenslagen und die unterschiedlich verteilten Ressourcen und Schutzfaktoren
sind, welche den Gesundheitsstatus maßgeblich bestimmen und das Auftreten
und Fernbleiben von Krankheiten erklären (vgl. GBE kompakt 5/2010 „Armut
und Gesundheit“). Will man das heute bereits verfügbare Wissen erweitern, wird
daher kein biomedizinischer Forschungsansatz benötigt, sondern ein komplexer
Ansatz, der insbesondere die sozialen Determinanten (Bestimmungsfaktoren)
von Gesundheit und Krankheit und die sozial ungleiche Verteilung von Gesund-
heitschancen, von Krankheit und Tod in einem interdisziplinären, arbeitsteiligen
Vorgehen betrachtet (New Public Health) (vgl. Rio Political Declaration on
Social Determinants of Health vom 21. Oktober 2011).

Dem sollte insbesondere bei kostenaufwendiger, steuerfinanzierter und lang-
fristig angelegter Forschung Rechnung getragen werden, wenn sie sich an dem
Anspruch messen lassen will, dass von den gewonnenen Erkenntnissen geeig-
nete Maßnahmen abgeleitet werden können, die die Gesundheit der Bevölke-
rung insgesamt verbessern helfen. Eine Studie, die allein auf eine Krankheits-
ursachenforschung mit medizinischen Großgeräten fokussiert, erfüllt diese

Aufgabe nicht. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit die Nationale Kohorte
dem oben skizzierten Anspruch gerecht wird.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. a) Teilt die Bundesregierung die Überzeugung, dass der im Studienkonzept
formulierte Anspruch, das Zusammenwirken der maßgeblichen Faktoren

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bei der Entstehung von (Volks-)Krankheiten zu analysieren und diesen
Erkenntnisgewinn einer besseren Vorbeugung und Behandlung zunutze
zu machen, ein interdisziplinäres Expertenteam in der Projektplanung,
Begutachtung und Durchführung erfordert?

b) Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass diesem Anspruch bislang hin-
reichend Rechnung getragen wurde?

Wenn ja, wodurch?

Wenn nein, wie soll dies erreicht werden?

c) Welche der an der Erstellung und Begutachtung des Studienkonzeptes
maßgeblich beteiligten Institutionen und Fachgesellschaften verfügen
über eine ausgewiesene Expertise in der Erforschung der sozial bedingten
gesundheitlichen Ungleichheit, und welche in Fragen der Gesundheits-
förderung und Prävention?

d) Wurden die Befragungsinstrumente in ihrem Gesamtkonzept einer ex-
ternen gesundheitswissenschaftlichen Begutachtung unterzogen?

Wenn ja, durch wen?

Wenn nein, warum nicht?

2. In welchem Projektstadium befindet sich die Nationale Kohorte derzeit, und
für wann sind welche weiteren Schritte geplant?

3. a) Wie sieht der Finanzierungsplan der Nationalen Kohorte aus, wie hoch
wird das Fördervolumen aus öffentlichen Mitteln sein, und wie wird sich
die Förderlast zwischen Bund und Ländern sowie nach Kenntnis der
Bundesregierung zwischen den Ländern verteilen?

b) Gibt es hier einen Dissenz?

Wenn ja, wo?

4. a) Welche Fördersumme ist für die Durchführung der medizinischen Unter-
suchungen vorgesehen, und welche Summe für den Befragungsteil?

b) Ist im Rahmen der umfassenden MRT-Untersuchungen bei 40 000 Pro-
bandinnen und Probanden eine Neuanschaffung von medizinischen
Großgeräten geplant?

c) Wie hoch liegen die voraussichtlichen Kosten für eine geplante Anschaf-
fung der Großgeräte und für die Durchführung der MRT-Untersuchun-
gen?

5. a) Wie sollen gezielt Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den bildungsfer-
nen Schichten für eine Teilnahme gewonnen werden?

b) Ist beabsichtigt, Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit Migrationshinter-
grund in die Nationale Kohorte einzubeziehen?

Wenn ja, welches Konzept gibt es, um hier eine Teilnehmerzahl zu er-
reichen, die auch explizite Aussagen zur Gesundheit der verschiedenen
Migrantengruppen zulässt?

Wenn nein, warum nicht?

c) Trifft es zu, dass man vom ursprünglichen Plan, eine eigene Migranten-
kohorte zu etablieren, zugunsten weiterer kostspieliger medizintechni-
scher Untersuchungen abgerückt ist?

Wenn ja, wie positioniert sich die Bundesregierung hierzu?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10410

6. a) Welche Fragenkomplexe wird der Fragebogen enthalten?

b) Wie viel Zeit ist für das Interview mit einer Probandin bzw. einem Proban-
den vorgesehen?

c) Welche sozialen Determinanten von Gesundheit und Krankheit sollen im
Studienkonzept und in der Befragung berücksichtigt werden, und wie
viel Interviewzeit ist für diese Fragen vorgesehen?

d) Ist geplant, bei allen Probandinnen und Probanden den sozioökonomi-
schen Status zu erfassen?

Wenn ja, wie differenziert soll dieser erfasst werden, und wie viel Inter-
viewzeit ist hierfür vorgesehen?

7. a) Nehmen die lebensverlaufsbezogenen Studienperspektiven einzig die
Akkumulation von Risikofaktoren in den Blick, oder berücksichtigen sie
auch den Einfluss von Schutzfaktoren (Ressourcen)?

Wenn ja, welche Schutzfaktoren werden erhoben, welche Instrumente zur
Erfassung werden eingesetzt, und wie viel Interviewzeit ist hierfür vor-
gesehen?

Wenn nein, warum nicht?

Wie verträgt sich das mit dem Anspruch, den komplexen Entstehungsme-
chanismus chronischer Erkrankungen zuverlässig erklären bzw. nach-
bilden zu wollen?

b) Inwieweit wird die Bewältigung psychischer Belastungen wie Leistungs-
verdichtung und ausgeprägter Stress in die Studienkonzeption einbezo-
gen?

c) Wie werden die belastenden und schützenden Faktoren der verschiedenen
Lebenskontexte (z. B. Wohnbedingungen, ausgeübter Beruf, Freizeit-
aktivitäten usw.) erhoben, und wie viel Zeit wird diesen Aspekten ge-
widmet?

d) Werden Ereignisse und Statuspassagen im Lebensverlauf, die mit weitrei-
chenden, auch für die Gesundheit relevanten Veränderungen der Lebens-
situation einhergehen, berücksichtigt (z. B. Arbeitslosigkeitserfahrungen,
Frühberentung oder Scheidung/Trennung)?

Wenn ja, wodurch?

8. a) Inwiefern berücksichtigt das Untersuchungskonzept Geschlechterunter-
schiede bei Krankheitshäufigkeit und Schweregrad und die Bedeutung
des Geschlechts (biologisch, sozial) für Krankheitsprozesse und die In-
anspruchnahme gesundheitlicher Versorgung?

b) Inwiefern wurden bzw. werden Geschlechteraspekte bei der Besetzung
der Entscheidungsgremien der Nationalen Kohorte – Epidemiologisches
Planungskomitee, thematische Arbeitsgruppen, Begutachtungsgremium,
Governance-Verein – berücksichtigt?

c) Inwiefern wurde bzw. wird Kompetenz in der Gender-Medizin und ge-
schlechtersensibler Gesundheitsforschung in den genannten Entschei-
dungsgremien eingebunden?

9. a) Inwieweit ist geplant, dass die Daten zur Identifizierung von Zielgruppen
für präventive und gesundheitsfördernde Maßnahmen und Programme
beitragen?

b) Welchen Beitrag soll die Studie zur Entwicklung von Public-Health-
Strategien leisten, die auf eine Verringerung der gesundheitlichen Un-
gleichheit bzw. Stärkung der gesundheitsbezogenen Chancengerechtig-

keit zielen?

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10. a) Wurde die Empfehlung des Rates für Sozial- und Wirtschaftsdaten
(RatSWD) zur Nationalen Kohorte vom 26. April 2012 umgesetzt?

b) Wurden die Fragebögen und die Erhebungsinstrumente in die Begutach-
tung einbezogen?

Wenn nein, warum nicht?

Wenn ja, mit welchen Ergebnissen?

c) Welche gemeinsamen Schnittstellen mit anderen großen Langzeitstu-
dien wie dem Sozioökonomischen Panel oder dem Nationalen Bil-
dungspanel werden geschaffen?

d) Ist für Forschungszwecke ein freier Zugang zu den Projektdaten vor-
gesehen?

Wenn ja, wie?

Wenn nein, warum nicht?

e) Wird eine Akkreditierung des geplanten Datenzentrums nach den
RatSWD-Kriterien für Forschungsdatenzentren angestrebt?

Wenn nein, warum nicht?

11. Welchen Stellenwert besitzt die Studie für die Gesundheitsberichterstat-
tung?

12. Welchen Beitrag soll die Studie zur Etablierung und Weiterentwicklung der
nationalen Gesundheitsziele leisten?

13. a) Welchen Nutzen werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der
Studie für die eigene Gesundheit haben?

b) Werden Befunde sowie in ihrer Bedeutung unklare Auffälligkeiten (z. B.
aus den MRT-Untersuchungen oder den Blutprobenanalysen) den Pro-
bandinnen bzw. Probanden mitgeteilt, und wenn ja, wann, wie, und durch
wen?

c) Werden die Probandinnen und Probanden vor Beginn der medizinischen
Untersuchungen aufgeklärt, dass Befunde einen Abklärungs- und Be-
handlungsbedarf nach sich ziehen können, und werden sie auf mögliche
psychosoziale Belastungen vorbereitet für den Fall, dass es zu Befunden
mit nicht behandelbaren oder schwerwiegenden Krankheiten kommen
kann?

Wenn ja, wer wird diese Aufklärung vornehmen?

14. Gibt es ein Ethikvotum zum Gesamtkonzept der Studie?

Wenn ja, von wem?

Wenn nein, warum nicht?

15. a) Welche Daten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden zusätzlich
zu den medizinischen Daten erhoben?

b) Welche Überlegungen gibt es zu der Frage, ob mit den abgefragten
Lebensumständen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer deren Reidenti-
fizierung möglich werden könnte und demzufolge eine Pseudonymisie-
rung nicht ausreichend sein könnte?

Wie positioniert sich die Bundesregierung hierzu?

Berlin, den 27. Juli 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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