BT-Drucksache 17/10389

Sorge um die demokratische Entwicklung in Lateinamerika

Vom 24. Juli 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10389
17. Wahlperiode 24. 07. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel, Jan van Aken,
Sevim Dag˘delen, Andrej Hunko, Stefan Liebich, Katrin Werner und der Fraktion
DIE LINKE.

Sorge um die demokratische Entwicklung in Lateinamerika

Nach Jahrzehnten der Militärdiktaturen und der von multilateralen Banken dik-
tierten neoliberalen Strukturanpassungspolitik sind in vielen lateinamerika-
nischen Ländern in freien und demokratischen Wahlen linke und Mitte-Links-
Regierungen an die Macht gekommen, die auf demokratische Partizipation
aller Bevölkerungsteile, auf sozialen Ausgleich und gesellschaftliche Wohlfahrt
setzen. Im Rahmen demokratisch organisierter Verfassungsprozesse wurden
neue Formen der politischen Teilnahme und soziale Rechte verankert.

Von Beginn an war der Prozess des demokratischen und sozialen Wandels in
Lateinamerika von mächtigen Gegnern bedroht. Alte Eliten versuchen, ihre Be-
sitzstände zu verteidigen und die breite Bevölkerung weiterhin von politischer
und wirtschaftlicher Teilhabe fernzuhalten. Dabei greifen sie auch zu illegalen
und illegitimen Mitteln, im schlimmsten Fall gar zu Gewalt, wie die versuchten
Staatsstreiche in Venezuela 2002 und Ecuador 2010 oder die gescheiterten ge-
waltsamen Separationsbestrebungen im Osten Boliviens 2008 gezeigt haben.

Im Juni dieses Jahres wurde der demokratisch gewählte Präsident Paraguays,
Fernando Lugo, in einem fragwürdigen Verfahren und unter fadenscheinigen
Vorwänden vom Parlament seines Amtes enthoben. Hintergrund der Amtsent-
hebung waren u. a. Konflikte um die von Präsident Fernando Lugo angestrebte
gerechtere und produktivere Verteilung von Landbesitz.

Dieser Vorgang wird von den Regierungen der Nachbarländer als institutionel-
ler Staatsstreich angesehen. Sie verweigern der neuen paraguayischen Regie-
rung unter dem De-facto-Präsidenten Federico Franco die Anerkennung. Zahl-
reiche lateinamerikanische Regierungen zogen ihre Botschafter ab. Paraguays
Mitgliedschaft im südamerikanischen Wirtschaftsverbund MERCOSUR sowie
in der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) wurde vorübergehend
ausgesetzt.

Das hinderte den deutschen Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung Dirk Niebel nicht daran, als erster europäischer Staatsgast
überhaupt nach Paraguay zu reisen, den De-facto-Präsidenten wenige Tage nach

dessen Einsetzung zu treffen und ihm Mittel für die Entwicklungszusammenar-
beit zuzusagen. Der Bundesminister Dirk Niebel wird mit dem Satz zitiert: „Es
gibt keine Anzeichen dafür, dass es beim Regierungswechsel verfassungswidrig
zugegangen ist.“ (z. B. zitiert in Süddeutsche Zeitung, 28. Juni 2012). Diese
Aussage wird in Lateinamerika weithin kritisiert.

Drucksache 17/10389 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

In Honduras fand im Juni 2009 ebenfalls ein Staatsstreich statt, den viele
Beobachter schon damals als „Blaupause“ für institutionelle Staatsstreiche be-
wertet haben. Die Amtsenthebung des demokratisch gewählten Präsidenten
Manuel Zelaya durch das honduranische Parlament wurde durch militärische
Maßnahmen, nämlich die Festnahme des Präsidenten und seine Verbringung
ins Ausland, begleitet. Während und in der Folge des Staatsstreichs kam es zu
erheblichen Menschenrechtsverletzungen. Viele Menschen, die den legitimen
Präsidenten unterstützten, verloren ihr Leben. Politische Aktivisten, kritische
Journalisten und Gewerkschaftsmitglieder sind bis heute in einem Klima allge-
meiner Straflosigkeit erheblichen Risiken für Leib und Leben ausgesetzt.

Die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit fiel seinerzeit durch
eine ausgesprochen positive Kommentierung des Staatsstreichs auf und lud
wichtige Protagonisten des Staatsstreichs nach Deutschland ein, wo sie in den
Räumen des Deutschen Bundestages auftreten konnten. Die Bundesregierung
hat erst jüngst in ihrer Länderliste für die Entwicklungszusammenarbeit Hondu-
ras als Kooperationsland in der ersten Kategorie bestätigt, während bei anderen
Partnern strengere Maßstäbe an die Einhaltung von Menschenrechten und Re-
gierungsführung angelegt werden.

In Mexiko und Zentralamerika bedrohen Korruption und ausufernde Gewalt
jeden Versuch eines demokratischen Aufbruchs. So sind im Zusammenhang
mit den jüngsten Wahlen in Mexiko, aus denen die Partei der Institutionalisier-
ten Revolution (PRI) siegreich hervorgegangen war, Vorwürfe des millionen-
fachen Stimmenkaufs und der Manipulation laut geworden. Schon im Jahr
2006 hatte es dort massive Vorwürfe der Wahlfälschung gegeben.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Kann die Bundesregierung bestätigen, dass der deutsche Botschafter in
Paraguay an der Vorstellung des Regierungsprogramms des De-facto-Präsi-
denten Federico Franco teilgenommen hat?

2. Falls ja, kann die Bundesregierung bestätigen, dass der deutsche Botschafter
neben den Vertretern Italiens und Frankreichs der einzige europäische
Botschafter war, der an der Vorstellung des Regierungsprogramms des
De-facto-Präsidenten Federico Franco teilgenommen hat?

Welche weiteren Botschafter nahmen teil?

3. Falls der Botschafter an der Vorstellung des Regierungsprogramms des
De-facto-Präsidenten Federico Franco teilgenommen hat, welche Über-
legungen haben die Bundesregierung bei der Entscheidung für die Teil-
nahme geleitet?

4. Falls der Botschafter nicht an der Vorstellung des Regierungsprogramms des
De-facto-Präsidenten Federico Franco teilgenommen hat, welche Über-
legungen haben die Bundesregierung bei der Entscheidung gegen die Teil-
nahme geleitet?

5. Hat die Bundesregierung zu irgendeinem Zeitpunkt nach der Amtsenthebung
von Präsident Fernando Lugo erwogen, ihren Botschafter aus Asunción ab-
zuziehen bzw. zur Berichterstattung zurückzubeordern?

6. Welche Argumente für und gegen die Rückholung des deutschen Botschaf-
ters hat die Bundesregierung abgewogen, und welche Argumente gaben den
Ausschlag für den Verbleib des Botschafters in Asunción?

7. Kann sich die Bundesregierung der Bewertung des Machtwechsels von
Fernando Lugo zu Federico Franco als „institutionellem Staatsstreich“ an-

schließen?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10389

8. Wie bewertet die Bundesregierung die Amtsenthebung von Präsident
Fernando Lugo in Paraguay und die Einsetzung von Federico Franco an
seiner Stelle, insbesondere im Hinblick auf die Frage, ob dieser Vorgang
verfassungskonform und demokratisch legitimiert war?

9. Wie hat die Bundesregierung ihre Einschätzung des Amtsenthebungsver-
fahrens hinsichtlich dessen Rechtsstaatlichkeit und politischer Legitimität
gegenüber der Regierung unter dem De-facto-Präsidenten zum Ausdruck
gebracht?

10. Welche Konsequenzen wird der Regierungswechsel in Paraguay bzw. die
Art und Weise, auf die er sich vollzog, für die Entwicklungszusammen-
arbeit zwischen Deutschland und Paraguay haben?

11. Welche Einschätzung der Rechtsstaatlichkeit bei der Amtsenthebung und
der Entwicklung der allgemeinen Menschenrechtslage nach der Amts-
enthebung liegen der Entscheidung der Bundesregierung über die künftige
Zusammenarbeit mit Paraguay zugrunde?

12. Worauf bezieht sich die vom Auswärtigen Amt geäußerte „gewisse Sorge“
über die Entwicklungen in Paraguay (zitiert in Frankfurter Rundschau –
online, 25. Juni 2012) konkret?

13. Wie wird die Bundesregierung diese „gewisse Sorge“ gegenüber der jetzi-
gen De-facto-Regierung zum Ausdruck bringen?

14. Unter welchen Voraussetzungen wird die Bundesregierung die De-facto-
Regierung unter Federico Franco anerkennen?

15. Welche Initiativen planen die Europäische Union und die Bundesregierung,
um sich mit den lateinamerikanischen Staatenbündnissen wie UNASUR
und MERCOSUR über den Umgang mit der Situation in Paraguay zu ver-
ständigen?

16. Kann die Bundesregierung Verbindungen zwischen aktiven Befürwortern
der Amtsenthebung (paraguayische Parlamentarier, Regierungsmitglieder,
Unternehmer, Großgrundbesitzer) und deutschen Stiftungen sowie anderen
ausländischen Organisationen ausschließen?

17. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass gerade die Kräfte, die
aktiv das Amtsenthebungsverfahren gegen den demokratisch gewählten
Präsidenten Fernando Lugo betrieben haben, zugleich diejenigen sind, die
eine Landreform, wie sie Präsident Fernando Lugo angestrebt hatte, verhin-
dert haben, und was verspricht sich die Bundesregierung vor diesem Hinter-
grund von der Ermutigung des Entwicklungsministers an den De-facto-
Präsidenten, eine Landreform durchzuführen?

18. Wie bewertet die Bundesregierung die augenblickliche Situation in Hondu-
ras hinsichtlich Rechtsstaatlichkeit und Regierungsführung?

19. Wie bewertet die Bundesregierung die gegenwärtige Menschenrechtslage
in Honduras?

20. Tauscht sich die Bundesregierung mit honduranischen Menschenrechts-
organisationen wie beispielsweise COPINH (Consejo Cívico de Organiza-
ciones Populares e Indígenas de Honduras) oder COFADEH (Comité de
Familiares de Detenidos Desaparecidos en Honduras), die von schweren
Menschenrechtsverletzungen bis hin zu politischen Morden in ihrem Land
berichten, aus, und wie finden die Berichte solcher Organisationen Eingang
in die Politik der Bundesregierung gegenüber Honduras?

21. Aufgrund welcher Überlegungen hat die Bundesregierung die Entschei-
dung getroffen, Honduras weiterhin als Kooperationsland der ersten Kate-

gorie in der Entwicklungszusammenarbeits-Länderliste zu belassen, ob-
wohl Berichte von Menschenrechtsverletzungen in Honduras evident sind?

Drucksache 17/10389 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

22. Was unternimmt die Bundesregierung, um zur Verbesserung der Men-
schenrechtslage in Honduras beizutragen?

23. In welcher Weise dringt die Bundesregierung gegenüber der Regierung von
Honduras auf die Aufklärung der hohen Zahl politisch motivierter Morde
und der Beteiligung der Sicherheitskräfte, und auf welche Resonanz stößt
sie dabei seitens der honduranischen Behörden?

24. Sieht sich die Bundesregierung angesichts der von ihr selbst konstatierten
Unterwanderung von Justiz und Polizei durch die Organisierte Kriminali-
tät (Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion
DIE LINKE. auf Bundestagsdrucksache 17/10298) sowie der eskalieren-
den Gewalt unter mutmaßlicher Beteiligung der Sicherheitskräfte und der
allgemeinen Straflosigkeit veranlasst, die Zusammenarbeit mit Honduras
im Sicherheitssektor und namentlich das EU-finanzierte Programm zur
Stärkung des Sicherheitssektors (PASS) neu zu bewerten (vgl. Antwort der
Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. auf
Bundestagsdrucksache 17/4451)?

25. Welchen Beitrag könnte die Bundesregierung bzw. sollte die internationale
Gemeinschaft dazu leisten, dass ein einwandfreier Ablauf der nächsten
Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, bei denen die neu gegründete
linke Partei LIBRE und ihre Kandidatin Xiomara Castro de Zelaya mit
guten Erfolgsaussichten antreten, gewährleistet ist?

26. Kann die Bundesregierung Verbindungen zwischen aktiven Befürwortern
der Amtsenthebung von Manuel Zelaya (honduranische Parlamentarier,
Unternehmer, Großgrundbesitzer) und deutschen Stiftungen sowie anderen
ausländischen Organisationen ausschließen?

27. Falls nein, wie stellen sich diese Beziehungen nach Einschätzung der Bun-
desregierung dar?

28. Wie bewertet die Bundesregierung den Einfluss deutscher Stiftungen auf
die aktiven Befürworter der Amtsenthebung in Honduras 2009?

29. Welche Parallelen sieht die Bundesregierung zwischen den Vorgängen in
Honduras im Juni 2009 und in Paraguay im Juni 2012?

30. Teilt die Bundesregierung die Sorge um die demokratische Entwicklung in
Lateinamerika angesichts der Staatsstreiche in Honduras und Paraguay und
der versuchten Staatsstreiche in Venezuela und Ecuador?

31. Wo verortet die Bundesregierung die Risiken für die weitere demokratische
Entwicklung in Lateinamerika?

32. Inwiefern sieht sich die Bundesregierung veranlasst, die demokratisch
gewählten Regierungen, die bereits Putschversuche abwehren mussten
(Ecuador, Venezuela) oder in denen sich aktuell Szenarien einer gezielt
herbeigeführten Destabilisierung abzeichnen, bei der Stabilisierung ihrer
demokratischen Entwicklung zu unterstützen, und wie drückt sich diese
Unterstützung in der Zusammenarbeit mit den betroffenen Ländern aus?

33. Welchen Stellenwert haben die Stabilisierung und Stärkung des demokra-
tischen Wandels in der Zusammenarbeit der Bundesregierung mit latein-
amerikanischen Staaten, und wie prägt sich dieser Stellenwert konkret in
der Zusammenarbeit aus?

34. Welche Rolle sollten die deutschen Stiftungen nach Ansicht der Bundes-
regierung in diesem Zusammenhang spielen?

35. Wie will die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit regionalen Organisa-
tionen wie CELAC und UNASUR der Gefahr entgegenwirken, dass in

Lateinamerika weitere Versuche unternommen werden, demokratisch ge-
wählte und legitimierte Regierungen durch Staatsstreiche zu bedrohen?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/10389

36. Auf welche gesellschaftlichen, politischen und historischen Ursachen führt
die Bundesregierung den Umstand zurück, dass zwar die Menschen in
Mexiko, Guatemala, El Salvador und Honduras, nicht aber in Nicaragua,
das von 1979 bis 1990 und wieder seit 2006 von der FSLN (Frente
Sandinista de Liberación Nacional) regiert wurde bzw. wird, von ausufern-
der Gewalt, Straflosigkeit und Drogenhandel heimgesucht werden?

37. Welchen Zusammenhang sieht die Bundesregierung zwischen der Ver-
schärfung sozialer Gegensätze in der Folge neoliberaler Strukturanpassung
und dem Auftreten von Gewalt vor dem Hintergrund der aktuellen Ent-
wicklungen in Mittelamerika?

38. Welche Gefahren gehen nach Meinung der Bundesregierung von der
zunehmenden Militarisierung des Kampfes gegen den Drogenhandel in
Zentralamerika für die Möglichkeiten einer demokratischen Entwicklung
dort aus?

39. Wie bewertet die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die Verstär-
kung der militärischen und polizeilichen Kapazitäten der USA in Zentral-
amerika und den Berichten zufolge geplanten Einsatz von Drohnen über dem
Golf von Mexiko (FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND, 11. Juli 2012)?

40. Wie reagiert die Bundesregierung in ihrer Zusammenarbeit mit Mexiko auf
die massive Verschlechterung der Menschenrechtsverletzungen dort, ins-
besondere auf die allgemeine Straflosigkeit, die Militarisierung im Kampf
gegen den Drogenhandel mit Zehntausenden von Toten und die Berichte
über massiven Stimmenkauf bei den letzten Wahlen?

Berlin, den 24. Juli 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.