BT-Drucksache 16/982

Unterstützung für einen neuen demokratischen Aufbruch in Haiti

Vom 14. März 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/982
16. Wahlperiode 14. 03. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Heike Hänsel, Hüseyin-Kenan Aydin, Paul Schäfer (Köln),
Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

Unterstützung für einen neuen demokratischen Aufbruch in Haiti

Die hohe Wahlbeteiligung von rund 60 Prozent bei den Präsidentschafts- und
Parlamentswahlen in Haiti am 7. Februar 2006 und die hohe Stimmenzahl für
René Préval (über 50 Prozent im ersten Wahlgang, fast 40 Prozent Vorsprung
vor dem Zweitplatzierten) geben dem neuen Präsidenten eine starke Legitimität.
Damit drückt sich die Hoffnung der Haitianer aus, nach Jahren politischer
Gewalt aus eigener Kraft die lang anhaltende politische und soziale Krise zu
überwinden, die im Februar/März 2004 zum gewaltsamen Sturz der Regierung
Aristide beigetragen hatte und die sich in den darauf folgenden zwei Jahren
unter der Interimregierung von Gérard Latortue und unter der Präsenz der UN-
Blauhelmmission MINUSTAH (Mission des Nations Unies pour la Stabilisation
en Haïti) mit einer hohen Zahl von Gewaltopfern fortsetzte.

Weithin wird kritisiert, dass die MINUSTAH bislang zu wenig zur Stärkung
ziviler Institutionen und zur Entmilitarisierung der gesellschaftlichen Auseinan-
dersetzungen beigetragen hat. Eine Entwaffnung der Banden und Rebellen fand
nicht statt. In der Durchsetzung von Rechtstaatlichkeit sind gewaltige Defizite
zu konstatieren, die ganze Zeit der UN-Präsenz über wurden Politiker und An-
hänger der alten Regierung ohne Anklage in Haft gehalten. Die kriminelle und
politische Gewalt konnte durch die internationale Truppenpräsenz nicht einge-
dämmt werden und verstärkte sich sogar. Seit Februar 2004 kamen in Haiti rund
1 600 Menschen gewaltsam ums Leben. Die MINUSTAH wird selbst für die
Tötung zahlreicher Unschuldiger verantwortlich gemacht. Die zivilen Opfer
der MINUSTAH sind ausschließlich Bewohner der Armenviertel von Port-au-
Prince. Die Zeitschrift „The Economist“ vom 4. Februar 2006 zitiert Anwohner
mit den Worten: „We have nothing to eat or drink, and the UN is shooting at us.
They coop us here and treat us like wild beasts.“

Die Einmischung der internationalen Politik in die politischen und sozialen Aus-
einandersetzungen in Haiti wird vor diesem Hintergrund und vor dem Hinter-
grund der Vorgeschichte des Umsturzes und der Truppenintervention von vielen
als destabilisierend kritisiert. „The New York Times“ vom 29. Januar 2006 schil-
dert beispielsweise den Einfluss der von der US-Regierung umfangreich finan-
ziell unterstützten politischen Stiftung IRI (International Republican Institute)

auf die Verschärfung und Zuspitzung des Konflikts zwischen der Regierung
Aristide und der haitianischen Opposition ab Herbst 2000. Die Implementierung
neoliberaler Wirtschafts- und Entwicklungsstrategien von Weltbank und United
States Agency for International Development (USAID) für Haiti seit Beginn der
80er Jahre mit massiven Zollsenkungen und Reduktion der öffentlichen Lohn-
summe trug nach Meinung vieler Fachleute ebenfalls zu einer Destabilisierung
der sozialen und politischen Situation bei. Der im Juli 2004 auf einer internatio-

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nalen Geberkonferenz in Washington D. C. unter Teilnahme der EU und der
Bundesregierung verabredete und mit der Zusage von über 1 Mrd. Euro ausge-
stattete Entwicklungsrahmenplan für Haiti (Cadre de Coopération Intérimaire –
CCI) formuliert diese Kritik ausdrücklich.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wird sich die Bundesregierung im Rahmen der EU und im Vorfeld und in der
Durchführung des EU-Lateinamerika-Gipfeltreffens am 12. und 13. Mai
2006 in Wien für einen Abzug des militärischen Teils der MINUSTAH, an
dem zahlreiche lateinamerikanische Staaten beteiligt sind, einsetzen und für
eine Verstärkung des zivilen Teils der MINUSTAH eintreten, und wie be-
gründet sie ihre Haltung?

2. Welche Vorstellungen hat die Bundesregierung von den Aufgaben und der
Ausgestaltung einer verstärkten zivilen Mission in Haiti, und in welcher
Weise könnte nach Meinung der Bundesregierung die Bundesrepublik
Deutschland einen Beitrag dazu leisten?

3. Welche Anstrengungen der deutschen politischen Stiftungen für ein verstärk-
tes Engagement in Haiti sind der Bundesregierung bekannt, und in welchen
Bereichen wäre ein solches verstärktes Engagement nach Meinung der Bun-
desregierung besonders wünschenswert?

4. Teilt die Bundesregierung die im CCI formulierte Kritik, die bislang vorherr-
schende Orientierung der internationalen Entwicklungszusammenarbeit mit
Haiti auf die Stützung des Privatsektors und der Zivilgesellschaft und das ab-
rupte, politisch motivierte Einfrieren von Hilfsgeldern in Höhe von 500 Mio.
US-Dollar durch die EU und die USA ab 2000 hätten zu einer Schwächung
der staatlichen Funktionen beigetragen?

Wie begründet die Bundesregierung ihre diesbezügliche Haltung?

5. Inwiefern hat diese Schwächung der staatlichen Funktionen nach Meinung
der Bundesregierung zur Destabilisierung der sozialen Situation in Haiti und
damit zur schweren politischen Krise der Jahre ab 2001 beigetragen?

6. Inwiefern haben nach Meinung der Bundesregierung die in den 80er Jahren
in Haiti implementierten massiven Zollsenkungen (Code Commercial von
1986) und der ab 1995 unter internationalem Druck durchgesetzte Perso-
nalabbau im öffentlichen Dienst zur Destabilisierung der politischen und
sozialen Situation in Haiti beigetragen?

7. Teilt die Bundesregierung die Schlussfolgerungen des CCI, der in diesem
Zusammenhang und in Abkehrung von in den 80er und 90er Jahren für Haiti
aufgestellten Entwicklungsparadigmen für die künftige Entwicklungs-
zusammenarbeit eine deutlichere Ausrichtung auf die finanzielle und perso-
nelle Stärkung der öffentlichen Verwaltung und der staatlichen Strukturen an-
mahnt?

Wie begründet sie ihre Haltung?

8. Wie sollte sich dieser Paradigmenwechsel nach Meinung der Bundesregie-
rung auf die konkrete Ausgestaltung der deutschen und europäischen Ent-
wicklungszusammenarbeit mit Haiti auswirken?

9. Welche Schlussfolgerungen lassen sich nach Meinung der Bundesregierung
aus dem Scheitern bisheriger Wirtschafts- und Entwicklungsstrategien für
Haiti für die künftige Ausgestaltung der wirtschaftlichen Beziehungen der
EU und der Bundesrepublik Deutschland zu Haiti sinnvollerweise ziehen?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/982

10. In welchem Umfang ist die Bundesrepublik Deutschland an den Finanzie-
rungszusagen des CCI direkt und indirekt (im Rahmen der EU) beteiligt,
und wie viele Mittel wurden in diesem Zusammenhang bereits ausgezahlt
und mit welchen Schwerpunkten?

11. Wird Haiti zu den 60 Partnerländern gehören, auf die die Bundesregierung
ihre bilaterale Entwicklungszusammenarbeit reduzieren will?

12. Falls ja: An welchen Schwerpunkten wird die Bundesregierung ihre künfti-
ge Entwicklungszusammenarbeit mit Haiti ausrichten, und in welchem Um-
fang plant die Bundesregierung, ihre finanzielle Hilfe für Haiti, die in den
Jahren 2001 bis 2003 erheblich reduziert worden war, wieder anzuheben?

13. Falls nein: Wie kann abgesichert werden, dass bestehende bilaterale Projek-
te und Programme langfristig durch europäische Partner aufgefangen bzw.
fortgesetzt werden, damit der neu beginnende Demokratisierungsprozess
durch wirkungsvolle Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen und wirt-
schaftlichen Situation der ärmsten Bevölkerungsteile gestützt werden kann?

Berlin, den 10. März 2006

Heike Hänsel
Hüseyin-Kenan Aydin
Paul Schäfer (Köln)
Alexander Ulrich
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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