BT-Drucksache 16/9816

zu der zweiten und dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung -16/6308, 16/9733- Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Verfahrens in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG-Reformgesetz - FGG-RG)

Vom 25. Juni 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9816
16. Wahlperiode 25. 06. 2008

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Jörn Wunderlich, Wolfgang Neskovic, Diana Golze, Elke Reinke
und der Fraktion DIE LINKE.

zu der zweiten und dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
– Drucksachen 16/6308, 16/9733 –

Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Verfahrens in Familiensachen und in den
Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG-Reformgesetz – FGG-RG)

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der vorliegende Gesetzentwurf greift zu einem nicht unerheblichen Teil die
in den Anhörungen des Rechtsausschusses von Sachverständigen, aber auch
insbesondere von Frauenhäusern und anderen unabhängigen Stellen vorge-
brachte Kritik am neuen familiengerichtlichen Verfahren auf. Dennoch kann
die Reform mit dieser Novelle nicht als abgeschlossen gelten. Insbesondere
die Berücksichtigung der berechtigten Interessen der von häuslicher oder
sexueller Gewalt betroffenen Personen – auch unter dem Aspekt des Kindes-
wohlschutzes – ist noch nicht vollständig gewährleistet.

2. Die uneingeschränkte positive Bezugnahme auf das in der Praxis in vielfäl-
tigen Nuancen umgesetzte sogenannte Cochemer Modell ist vor dem Hinter-
grund der Wahrung der berechtigten Interessen der Betroffenen kritisch zu
hinterfragen. Die Bundesregierung hat die grundlegenden Verfahrensweisen
des Modells nicht ausreichend unabhängig evaluiert. Eine Vernetzung der
Professionen ist zwar generell von Vorteil, wird jedoch im konkreten Einzel-
fall der Konfliktsituation und den jeweiligen Rollen im Verfahren nicht ge-
recht.

3. Die mit dem Gesetzentwurf vorgesehene Festschreibung des Beschleuni-
gungsgrundsatzes bei Umgangs- und Sorgerechtsstreitigkeiten ist insbeson-
dere in Gewaltfällen, aber auch bei hochstreitigen Fällen nicht nur unange-
bracht, sondern contraindiziert. Denn gerade in Trennungssituationen ist die
Gewaltgefährdung erhöht. Zudem dient in allen Fällen von häuslicher oder

innerfamiliärer sexueller Gewalt gegenüber dem anderen Elternteil der Um-
gang des Kindes mit dem Täter nicht dem Kindeswohl. Die gegenüber dem
ursprünglichen Regierungsentwurf vorgesehene Einschränkung hinsichtlich
des Hinwirkens auf Einvernehmen bei entgegenstehendem Kindeswohl ist
zwar ein Schritt in die richtige Richtung. Die berechtigten Interessen eines
von Gewalt betroffenen Elternteils werden dadurch jedoch nur unzureichend
berücksichtigt. Eine Begegnung zwischen Opfer und Täter ist in diesen Fäl-

Drucksache 16/9816 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

len auszuschließen. Das Hinwirken auf Einigung durch die vorgesehene
Beratung unter Zwang mit Kostensanktion ist ungeeignet, den Zweck der
Beratung zu fördern, und ist darüber hinaus sozial ungerecht.

4. Die Rollen der Verfahrensbeteiligten sind zu undifferenziert auf Einigung
und Vermittlung ausgelegt. Dies betrifft insbesondere die sachverständigen
Gutachterinnen und Gutachter und den Verfahrensbeistand.

5. Das Verhältnis zwischen Gewaltschutzsachen und Umgangssachen muss
dringend abgestimmt werden, um Gefährdungen der Gewaltbetroffenen zu
verhindern. Gewaltschutzsachen sind vorrangig zu behandeln.

6. Die Neugestaltung der Rechtsmittel begegnet im Hinblick auf den vorgese-
henen Instanzenzug und die geregelte Beschränkung der Rechtsbeschwerde
erheblichen Bedenken. Der bisherige Instanzenzug bot eine umfassendere
Rechtskontrolle auch im Einzelfall. Die im Gesetzgebungsverfahren einge-
fügte zulassungsfreie Rechtsbeschwerde in Betreuungs-, Unterbringungs-
und Freiheitsentziehungssachen ist als richtiger Schritt zu begrüßen. Die An-
fechtbarkeit von Entscheidungen im Verfahren der einstweiligen Anordnung
in Familiensachen ist unbefriedigend geregelt. Zumindest bei Umgangsrege-
lung und -ausschluss muss diese im Interesse eines effektiven Grundrecht-
schutzes der Kinder zulässig sein, denn ein Umgang dient nicht in jedem Fall
dem Kindeswohl.

7. Ordnungsmittel haben wegen ihres Sanktionscharakters insbesondere im Be-
reich der Durchsetzung von Umgangsregelungen keine Berechtigung. Auch
wenn hier geringfügige Verbesserungen gegenüber dem ursprünglichen Ent-
wurf erreicht werden konnten, ist insbesondere die Anordnung von Ord-
nungshaft gegenüber einem Elternteil auch wegen der Kindeswohl gefähr-
denden und Konflikt verschärfenden Auswirkungen als völlig ungeeignet
anzusehen. Sie führt darüber hinaus zu sozialer Ungerechtigkeit.

8. Der Zugang zu anwaltlicher und professioneller Beratung muss den besonde-
ren Bedürfnissen des familiengerichtlichen Verfahrens gerecht werden. Eine
Anwendung der Vorschriften zur Prozesskostenhilfe greift daher im Interesse
der Beteiligten zu kurz, was im ursprünglichen Gesetzentwurf auch fest-
gestellt wurde. Am Rechtsschutz der Betroffenen darf nicht gespart werden.

9. Die Situation der Gerichte, Jugendämter und deren Beratungs- und Hilfsein-
richtungen nähert sich einem finanziellen und personellen Kollaps. Die im fa-
miliengerichtlichen Verfahren involvierten Professionen bedürfen dringend
einer zielgerichteten und angemessenen finanziellen und personellen Aus-
stattung, um ihre Aufgaben entsprechend den gesetzlichen Vorgaben zu erfül-
len. In den wirklich für eine Beschleunigung und Beratung geeigneten Fällen
werden die mangelnden Kapazitäten insbesondere der Jugendämter zu einer
wesentlichen Verzögerung der Verfahren führen. Der vorgesehene frühe erste
Termin ist mit den vorhandenen Ressourcen unter den gesetzlichen Maßga-
ben innerhalb eines Monats schwer zu ermöglichen. Zudem ist ein dringen-
des Bedürfnis nach gesetzlichen Qualitätsanforderungen an die beteiligten
Professionen zu konstatieren.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

– eine umfassende unabhängige Evaluation zur Beurteilung der Praxis des
sogenannten Cochemer Modells und anderer vertretener Modelle unter
besonderer Berücksichtigung von Gewaltfällen (a) und zur Frage der Umset-
zungspraxis des Schutzes vor Kindeswohlgefährdung im familiengericht-
lichen Verfahren (b) durchzuführen,
– interdisziplinäre Forschung zur Bestimmung von konkreten bestimmbaren
Kriterien des Kindeswohls und zur Verbesserung des Schutzes vor häuslicher

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/9816

und innerfamiliärer sexueller Gewalt und zur besonderen Situation von Mig-
rantinnen und Migranten durch entsprechende Aufträge zu veranlassen,

– umgehend gemeinsam mit den Ländern eine Sachverständigenkommission
aus unabhängigen Expertinnen und Experten aller beteiligten Professionen
zur Frage der Neujustierung des Verhältnisses zwischen Gewaltschutzsachen
und Umgangs- bzw. Sorgerechtsverfahren (a) und zur Konkretisierung und
Erfassung der Kriterien des Kindeswohls (b) einzusetzen, deren Empfehlun-
gen bis Mitte 2009 vorliegen sollen,

– gesetzliche Vorschläge zur Ergänzung und Verbesserung des Schutzes der
von Gewalt Betroffenen im familiengerichtlichen Verfahren vorzulegen und
hierbei die Ergebnisse und Empfehlungen der Sachverständigenkommission
einfließen zu lassen,

– gesetzliche Vorschläge zur Effektivierung der Rechtskontrolle im Einzelfall
durch eine an dem bisherigen Instanzenzug ausgerichtete Gestaltung der
Rechtsmittel zu unterbreiten,

– gesetzliche Vorschläge für eine angemessene und über die Prozesskosten-
hilferegelung hinausgehende Ausgestaltung der Verfahrenskostenhilfe vor-
zulegen, die die besonderen Schutzbedürfnisse im Verfahren nach dem
FamFG insbesondere auch für Freiheitsentziehungssachen abdeckt und an
einem umfassenden Rechtsschutz der Betroffenen orientiert ist,

– gesetzliche Vorschläge zu unterbreiten, die die Schlechterstellung von Mig-
rantinnen und Migranten, z. B. durch Wohnsitzauflagen und aufenthalts-
rechtliche Beschränkungen, insbesondere in Fällen häuslicher oder familiärer
Gewalt beenden,

– eine gesetzliche Vorschrift zur angemessenen Vergütung der Verfahrensbei-
stände vorzulegen,

– auf die Vernetzung der am familiengerichtlichen Verfahren beteiligten Pro-
fessionen unabhängig vom Einzelfall und deren umfassende Fortbildung und
Schulung, insbesondere auch hinsichtlich des Umgangs mit Gewaltfällen, ge-
genüber den Ländern hinzuwirken.

Berlin, den 25. Juni 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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