BT-Drucksache 16/9649

zu der zweiten und dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung -16/6562, 16/9643- Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht

Vom 18. Juni 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9649
16. Wahlperiode 18. 06. 2008

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Wolfgang Neskovic, Sevim Dag˘delen, Lutz Heilmann, Ulla
Jelpke und der Fraktion DIE LINKE.

zu der zweiten und dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
– Drucksachen 16/6562, 16/9643 –

Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der nachträglichen
Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Das Institut der Sicherungsverwahrung als einschneidendste Maßregel des
Strafrechts ist rechtspolitisch, verfassungs- und völkerrechtlich höchst umstrit-
ten, weil es das lebenslange Wegsperren eines Menschen ohne Schuldgrund-
lage ermöglicht. Unabhängig hiervon ist in den letzten Jahren eine wahre Ge-
setzesflut in diesem Bereich zu verzeichnen. So wurde 1998 die Möglichkeit
der Anordnung der Sicherungsverwahrung auf bis zu diesem Zeitpunkt nicht
erfasste Fallgruppen erstreckt und die bis dahin bei der ersten Anordnung zeit-
lich grundsätzlich auf 10 Jahre befristete Maßregel durch Streichung der
Höchstfrist – auch rückwirkend – in eine potentiell lebenslange Freiheitsentzie-
hung verändert. 2002 wurde die Möglichkeit der Anordnung einer vorbehalte-
nen Sicherungsverwahrung eingeführt (§ 66a des Strafgesetzbuches – StGB).
Seit 2004 ist die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung auch
dann möglich, wenn im Urteil kein entsprechender Vorbehalt enthalten ist
(§ 66b StGB). Ebenfalls im Jahr 2004 wurden die vorbehaltene und die nach-
trägliche Sicherungsverwahrung für Heranwachsende eingeführt und letztere
genauso wie die nachträgliche Sicherungsverwahrung gegenüber Erwachsenen
im Jahr 2007 noch weiter verschärft. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Ent-
wicklung stellt der von der Bundesregierung am 4. Oktober 2007 vorgelegte
Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwah-
rung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht (Bundestagsdrucksache 16/6562)
dar. Damit werden die überaus komplizierten, auch für professionelle Rechts-
anwenderinnen und Rechtsanwender kaum verständlichen Regelungen über die
Sicherungsverwahrung noch unübersichtlicher und von weiteren Wertungs-
widersprüchen durchzogen.

2. Den fortwährenden Ausweitungen des Anwendungsbereichs der Sicherungs-
verwahrung entsprechend hat auch die praktische Bedeutung der Sicherungs-
verwahrung seit Mitte der 90er Jahre stark zugenommen, obwohl die Verurtei-
lungszahlen im Bereich der relevanten Schwerstkriminalität stabil oder gar

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rückläufig waren. Befanden sich 1996 noch 176, 2003 306 und 2005 350
Untergebrachte in Sicherungsverwahrung (vgl. Statistisches Bundesamt Fach-
serie 10 Reihe 4.1), waren es zum Stichtag 31. März 2007 bereits 415 (vgl.
Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE., Bundestagsdrucksache 16/9051).
Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass sich die Sicherungsverwahr-
tenzahlen angesichts der Verschärfungen innerhalb der nächsten Jahre noch
vervielfachen werden. Sind bereits jetzt viele Justizvollzugsanstalten am Rande
ihrer Aufnahmekapazitäten, verschärft sich die Vollzugssituation noch dadurch,
dass die Altersunterschiede zwischen den Insassen immer weiter ansteigen. Vor
allem die Neuregelungen, die Heranwachsende oder nach dem Jugendstrafrecht
Verurteilte betreffen, bewirken, dass immer mehr junge Untergebrachte sich im
Maßregelvollzug wiederfinden werden. Zugleich ist nach dem Wegfall der
Zehnjahresbegrenzung eine größere Anzahl älterer Sicherungsverwahrter
untergebracht. So waren 2006 rund 25 Prozent der Sicherungsverwahrten
60 Jahre oder älter. Damit stellt sich mehr denn je die Frage, wie es den ver-
fassungsrechtlichen Vorgaben entsprechend gewährleistet sein soll, dass „ein
Abstand zwischen dem allgemeinen Strafvollzug und dem Vollzug der Siche-
rungsverwahrung gewahrt bleibt, der den allein spezialpräventiven Charakter
der Maßregel sowohl dem Verwahrten als auch für die Allgemeinheit deutlich
macht (BVerfG in NJW 2004, 739, 744).“

3. Wie die vorangegangen Regelungen der nachträglichen Sicherungsverwah-
rung verkennt auch der jetzige Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der
nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstraf-
recht die negativen Folgen der bloßen Möglichkeit einer späteren Anordnung
der nachträglichen Sicherungsverwahrung für die Resozialisierungsbemühun-
gen im Strafvollzug. Über etwa 7 000 bis 10 000 betroffenen Gefangenen im
Erwachsenenvollzug und mehr als 200 Betroffenen im Jugendstrafvollzug, die
die formellen Voraussetzungen der nachträglichen Sicherungsverwahrung er-
füllen, schwebt das Damoklesschwert der möglichen Anordnung. Die Straf-
vollzugsinsassen können keine eigene Lebensplanung entwerfen, da sie nicht
wissen, ob und wann sie damit rechnen können, wieder in Freiheit zu gelangen.
Diese Unsicherheit wird dadurch weiter verstärkt, dass einerseits prognoserele-
vante negative Tatsachen aus Therapien gegen die Gefangenen verwendet wer-
den können, andererseits der Verzicht auf eine Therapie den Betroffenen
gleichfalls negativ angerechnet werden kann, die Insassen also nicht wissen,
wie sie sich während des Vollzuges verhalten sollen. Endgültig unvorhersehbar
wird die Entscheidung über die Anordnung der nachträglichen Sicherungsver-
wahrung für die Betroffenen durch den Verzicht auf das Erfordernis neuer Tat-
sachen, aus denen sich die Gefährlichkeit der oder des Verurteilten ergeben
muss, ausgerechnet für die besonders schutzbedürftigen jungen Gefangenen.
Ausschließlich nach jugendstrafrechtlichen Verurteilungen kann nämlich kurz
vor der Haftentlassung trotz vorbildlichen Vollzugsverhaltens und ohne gefähr-
lichkeitsrelevante Feststellungen im Anlassurteil Sicherungsverwahrung auf-
grund der viele Jahre zuvor in der Anlasstat hervorgetreten Gefährlichkeit
angeordnet werden. Diese Gesamtsituation erschwert einen am Resozialisie-
rungs- oder Erziehungsgedanken ausgerichteten Strafvollzug erheblich.

4. Durch die von einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter Federführung des
Landes Sachsen-Anhalt im Sommer 2005 erarbeiteten „Hinweise zur nachträg-
lichen Sicherungsverwahrung“ und die diesbezügliche Checkliste zur Prüfung
der formellen Voraussetzungen der nachträglichen Sicherungsverwahrung
wurde diese Unsicherheit für alle Insassen, die die formellen Voraussetzungen
der Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung erfüllen, institutionalisiert.
Nach den Hinweisen bzw. der Checkliste erfolgt bei Vorliegen der formellen
Voraussetzungen regelmäßig eine Überprüfung der Gefährlichkeit der Betroffe-
nen, obwohl der Gesetzestext aller einschlägigen Normen eigentlich ein umge-
kehrtes Vorgehen zwingend macht. Erst das Vorliegen von (neuen) Tatsachen,

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die auf eine erhebliche Gefährlichkeit der oder des Verurteilten hindeuten,
dürfte nach deren Wortlaut das Prüfungsverfahren in Gang setzen. Auch die
wiederholten Äußerungen der Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries, die
Sicherungsverwahrung müsse „Ultima Ratio“ sein und betreffe nur eine „ver-
schwindend geringe Zahl“ von Fällen (vgl. Pressemitteilung des Bundesminis-
teriums der Justiz vom 10. März 2004 und vom 18. Juli 2007 sowie SPIEGEL
ONLINE vom 18. Juli 2007), sind nur vor dem Hintergrund eines solchen Ver-
ständnisses zu erklären. In der durch die genannten Hinweise geprägten Voll-
zugsrealität wird jedoch die Erfüllung der formellen Voraussetzungen der nach-
träglichen Sicherungsverwahrung bei Strafantritt in der Vollstreckungsakte mit
der Folge vermerkt, dass bei Tausenden Betroffenen alle möglicherweise prog-
noserelevanten Auffälligkeiten aufgeklärt und gerichtsverwertbar aktenkundig
gemacht werden müssen. Betroffene werden so von Anfang an stigmatisiert,
einer Sonderüberwachung unterworfen und von Vollzugslockerungen weit-
gehend ausgenommen. Die Umkehrung der Prüfungsreihenfolge erhöht die
Chance der Anordnung der Maßregel deutlich, welche dadurch tendenziell
ihren Ausnahmecharakter verliert. Die unsichere Situation liefert die Insassen
den Disziplinierungswünschen der Vollzugsbediensteten wie Erpressungs-
versuchen der Mitgefangenen aus, da jede Meldung über tatsächliches oder
vermeintliches auffälliges Verhalten aus Sicht der Gefangenen zu potentiell
lebenslanger Wegsperrung führen kann. Die bestehenden Unsicherheiten be-
schädigen das Verhältnis der Betroffenen zu Vollzugsbediensteten und Mit-
gefangenen gleichermaßen und beeinträchtigen darüber hinaus das gesamte
Vollzugsklima.

5. Über die vorgenannten gegenüber dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes
zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen
nach Jugendstrafrecht ebenfalls zutreffenden Kritikpunkte hinaus ergeben sich
diesem gegenüber spezielle Bedenken. Die geplanten Vorschriften führen dazu,
dass die Sicherungsverwahrung gegenüber den Betroffenen neben einer Ver-
urteilung zu einer siebenjährigen Haftstrafe aufgrund bestimmter Delikte nur
noch von der Gefährlichkeitsprognose abhängt. Weder Vorverurteilungen noch
ein Hang zur Begehung erheblicher Straftaten oder neue Tatsachen, aus denen
auf die Gefährlichkeit der oder des Verurteilten geschlossen werden kann, wer-
den nach dem Gesetzentwurf als materielle Erfordernisse vorausgesetzt. Damit
kommt der Kriminalprognose eine überragende Bedeutung zu, der die Progno-
semethoden insbesondere vor dem Hintergrund der noch nicht abgeschlossenen
Persönlichkeitsbildung junger Menschen nicht gerecht werden. Die gängigen
Rückfallprognoseinstrumentarien sind höchst mangelhaft und verwenden oft
unreflektierte multifaktorielle Ansätze, bei denen unterschiedlichste Faktoren
für die Entstehung von als kriminell betrachtetem Verhalten schlicht addiert
werden, ohne dass die Art, das Gewicht und das Zusammenspiel dieser Fak-
toren angemessen berücksichtigt würden. Naturgemäß werden gesellschaftliche
Faktoren der Gefährlichkeit immer den Betroffenen zugerechnet, weil sich das
gesamte Maßregelkonzept auf Individuen richtet. Gerade Delikte von jungen
Menschen erfolgen aber häufig aus Gruppenzusammenhängen und ihrer Dyna-
mik heraus. Durch neuere kriminologische Studien, in denen die Entwicklung
von Menschen über mehrere Lebensalter beobachtet werden konnte, wurde die
Annahme widerlegt, es gäbe eine sich bereits früh entwickelnde persönlich-
keitsbedingte Neigung zur Kriminalität (vgl. insbesondere die Arbeiten von
Sampson und Laub, Crime in the making 1995, Shared Beginning, Divergent
Lives: Delinquent Boys to Age 70, 2003). Die mit der Sicherungsverwahrung
in den Blick genommene Kategorie eines persönlichkeitsbedingt gefährlichen
jungen Menschen ist daher aus erfahrungswissenschaftlicher Sicht obsolet.

Unabhängig von dieser Grundsatzproblematik wird die Prognose durch die
Prognosesituation im Strafvollzug noch weiter erschwert. Dieser ist eine Kunst-
welt, die keine Verhaltensprognosen bezüglich des Verhaltens außerhalb ihrer

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selbst erlaubt. Die im Vollzug äußerst eingeschränkten Möglichkeiten, eigene
Ziele zu erreichen und die unabhängig von ihrer Berechtigung entstehende Ver-
antwortungszuschreibung für solche Autonomiebeschränkungen an das Perso-
nal führen zu einem diesem spezifischen Ort angepassten Verhalten, das keine
Schlüsse auf das Verhalten nach Aufhebung dieser Autonomiebeschränkungen
zulässt. Aber auch ganz grundsätzlich ist es rechtsstaatlich inakzeptabel, die
gesetzliche Möglichkeit dafür zu eröffnen, einen jungen Menschen, der als
Jugendlicher eine einzige schwerwiegende Straftat begangen hat, aufgrund
unsicherer Prognosen potentiell lebenslänglich wegzusperren.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

zeitnah eine aus Justizpraktikerinnen und Justizpraktikern, Gesellschaftswissen-
schaftlerinnen und Gesellschaftswissenschaftlern, Expertinnen und Experten des
Straf-, Polizei- und Verfassungsrechts sowie psychiatrischen und kriminologi-
schen Sachverständigen bestehende Kommission einzusetzen, die zunächst Fest-
stellungen zu einem außerhalb des Schuldstrafrechts bestehenden Handlungs-
bedarf zum Schutz vor Wiederholungstäterinnen und Wiederholungstätern aller
Altersgruppen trifft und gegebenenfalls neue Vorschläge für eine stimmige und
verfassungsrechtlich unbedenkliche materiell-, verfahrens- und vollzugsrecht-
liche Lösung erarbeitet.

Berlin, den 18. Juni 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Die Sicherungsverwahrung ist sowohl die schärfste als auch umstrittenste
Sanktion des deutschen Rechts. Durch die Vielzahl von Änderungen in den
letzten Jahren sind die diesbezüglichen Regelungen unübersichtlich, unnötig
kompliziert und von Wertungswidersprüchen geprägt.

Der nun vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der nachträglichen
Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht stellt sowohl
historisch als auch im internationalen Vergleich eine Neuerung dar, welche An-
lass bietet, das Gesamtsystem der Sicherungsverwahrung einer grundsätzlichen
Überprüfung zu unterziehen. Insoweit erscheint es geboten, eine interdiszipli-
näre Expertengruppe zusammenzustellen, die sich mit den theoretischen und
verfassungsrechtlichen Grundlagen sowie den praktischen Bedürfnissen eines
staatlichen Schutzes vor Wiederholungstätern aller Altersstufen auseinander-
setzt. Eine aus Justizpraktikerinnen und Justizpraktikern, Gesellschaftswissen-
schaftlerinnen und Gesellschaftswissenschaftlern, Experten des Straf-, Polizei-
und Verfassungsrechts sowie psychiatrischen und kriminologischen Sachver-
ständigen bestehende Kommission erscheint geeignet, ein stimmiges und verfas-
sungsrechtlich unbedenkliches Gesamtkonzept des gesellschaftlichen Umgangs
mit schwerer Wiederholungskriminalität zu erstellen.

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