BT-Drucksache 16/9604

Frauen auf dem Sprung in die Wissenschaftselite

Vom 18. Juni 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9604
16. Wahlperiode 18. 06. 2008

Antrag
der Abgeordneten Cornelia Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, Jens Ackermann,
Christian Ahrendt, Rainer Brüderle, Mechthild Dyckmans, Jörg van Essen,
Hans-Michael Goldmann, Miriam Gruß, Dr. Christel Happach-Kasan, Heinz-Peter
Haustein, Elke Hoff, Hellmut Königshaus, Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp,
Jürgen Koppelin, Heinz Lanfermann, Ina Lenke, Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger, Markus Löning, Jan Mücke, Burkhardt Müller-Sönksen, Jörg
Rohde, Dr. Max Stadler, Carl-Ludwig Thiele, Florian Toncar, Christoph Waitz,
Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der FDP

Frauen auf dem Sprung in die Wissenschaftselite

Der Deutsche Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Frauen in der Wissenschafts- und Forschungselite und ihre gleichberechtigte
Stellung im deutschen Wissenschaftssystem sind eine grundlegende Vorausset-
zung dafür, dass Deutschland auch in Zukunft seine Exzellenz und seinen Wett-
bewerbsvorsprung in den konkurrierenden Wissenschaftssystemen der Welt
weiter halten bzw. ausbauen kann.

Staat und Gesellschaft gehen mit ihrer Verantwortung für den wissenschaft-
lichen Nachwuchs insgesamt eher fahrlässig um. Nicht nur vor dem Hintergrund
immer weiter sinkender Geburtenraten stellt sich die Frage, ob und wie lange
sich unsere Gesellschaft die Zurückhaltung bei der Förderung von Frauen im
Wissenschaftssystem noch leisten kann.

Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des
Deutschen Bundestages hat sich in einer öffentlichen Anhörung mit dem Thema
„Frauen in der Wissenschaft und Gender in der Forschung“ auseinandergesetzt
und die Beteiligung, Aufstiegschancen und Repräsentanz sowie vorhandene
Barrieren für Frauen in den einzelnen Qualifikations- und Karrierestufen be-
trachtet.

Es hat sich gezeigt, dass trotz aller Anstrengungen es bis heute nicht gelungen
ist, die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Wissenschaft und Forschung zu
gewährleisten. Auch heute noch sind Frauen in der wissenschaftlichen For-
schung unterrepräsentiert. So sind in der Wirtschaft, die 70 Prozent der Aus-

gaben für Forschung und Entwicklung trägt, nur 10 Prozent Frauen als Forsche-
rinnen tätig.

Es bedarf einer großen gesellschaftlichen Anstrengung, die das Ziel verfolgt,
den Anteil von Frauen in der Wissenschaft schrittweise weiter zu erhöhen.

Bereits im Kindergarten und in der Schule muss mit einer zielgerichteten Förde-
rung von Mädchen und jungen Frauen begonnen werden. Dabei ist ihr Interesse

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gerade auch auf mathematische, natur- und technikwissenschaftliche Fächer zu
lenken. Eine gezielte Berufs- und Studienberatung von jungen Frauen ist ein
dringendes Erfordernis, denn der Anteil der Schulabsolventinnen eines Alters-
jahrgangs, die eine Hochschulzugangsberechtigung erhalten, ist mit 37 Prozent
gegenüber Finnland 93 Prozent, Norwegen 80 Prozent, Italien 76 Prozent und
dem OECD-Durchschnitt 68 Prozent als zu gering anzusehen.

Bund und Länder haben in den letzten 15 Jahren zahlreiche Aktivitäten unter-
nommen, die gleichberechtigte Teilhabe von Mädchen und jungen Frauen in Bil-
dung und Wissenschaft zu verwirklichen. Das reicht aber längst noch nicht aus,
um den künftigen Bedarf an Hochqualifizierten in Wirtschaft und Wissenschaft
zu decken.

Bei der Wahl des Studienplatzes entscheiden sich heute junge Frauen immer
noch öfter als ihre männlichen Kommilitonen für die geistes-, kultur- und sozial-
wissenschaftlichen Studiengänge.

Der Frauenanteil an den Studierenden, die einen Hochschulabschluss erreich-
ten, beträgt rund 54 Prozent. Hier liegt Deutschland deutlich vor Schweden mit
25 Prozent, Finnland mit 23 Prozent und dem OECD-Durchschnitt mit 20 Pro-
zent.

Der Anteil von Frauen an den Promotionen stieg seit 1990 erfreulicherweise ste-
tig an. Mit einem Frauenanteil von 39 Prozent belegt Deutschland europaweit
einen Spitzenplatz.

Aber auch hier ist erkennbar, dass in dieser für eine wissenschaftliche Karriere
entscheidenden Qualifikationsphase Frauen sich eher für geistes-, kultur- und
sozialwissenschaftliche Fächer entscheiden. Die Forschungsförderung und da-
mit die Promotionsintensität ist aber gerade in den mathematischen, informa-
tischen, naturwissenschaftlichen und technischen Fächern (so genannte MINT-
Fächer) besonders hoch.

Der Anteil der Frauen an den Habilitationen beträgt ca. 22,7 Prozent. Die jewei-
ligen Frauenanteile bezogen auf die Fächergruppen bieten eine ähnliche Vertei-
lung wie bei den Promotionen, jedoch auf niedrigerem Niveau.

In den letzten Jahren hat sich der Anteil von Frauen an den Professuren mit mehr
als 13,6 Prozent zwar verdoppelt, ist aber im Verhältnis zur Zahl der Hochschul-
absolventinnen und Promovendinnen viel zu gering.

Hinzu kommt, dass durch einen schleichenden Rückgang von Professorenstel-
len besonders in den geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Fächern die
Aufstiegschancen von Wissenschaftlerinnen von vornherein begrenzt sind.

Insgesamt hat sich die Zahl der Universitätsprofessorenstellen trotz steigender
Studierendenzahlen seit 1995 um über 1 500 verringert, was einem Rückgang
um 6,4 Prozent aller Universitätsprofessorenstellen entspricht. Jede entfallende
Professur mindert die Chancen des wissenschaftlichen Nachwuchses, gerade
auch von jungen Wissenschaftlerinnen, auf eine Hochschulkarriere.

Jedes Jahr suchen so tausende Nachwuchswissenschaftlerinnen nach einer
Chance, ihre wissenschaftliche Karriere im Ausland voranzutreiben. Viele aus-
ländische Hochschulen und Hochschulsysteme bieten schon aufgrund ihrer bes-
seren Finanzausstattung und unbürokratischen Förderung attraktivere Karriere-
chancen für Frauen.

Aber auch aufgrund hervorragender Verdienst- und Karrieremöglichkeiten in
Industrie und Wirtschaft verlieren die Hochschulen in vielen Fächern den drin-
gend benötigten hochqualifizierten wissenschaftlichen Nachwuchs.

Hinzu kommt die Unplanbarkeit der Karriere im deutschen Hochschulsystem.

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Selbst für den hochqualifizierten wissenschaftlichen Nachwuchs gibt es keine
ausreichend gesicherte Perspektive für eine Karriereplanung. Es fehlt an einer
akademischen Personalentwicklung in den Hochschulen. Dazu kommt ein hohes
Erstberufungsalter. Der Qualifikationsweg zur Professur ist im statistischen
Mittel viel zu lang. Das durchschnittliche Erstberufungsalter auf eine Professur
liegt in Deutschland immer noch beim 42. Lebensjahr.

Auch die finanzielle Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses hat sich
weiter verschlechtert. Die allgemein als Spargesetz wahrgenommene W-Besol-
dung ist Ausdruck eines unterfinanzierten und deshalb unattraktiven Wissen-
schaftssystems.

Nachwuchswissenschaftlerinnen befinden sich vielfach in einer Sackgasse. Die-
jenige, die den Sprung auf eine Professur in Deutschland nicht schafft, hat in der
Hochschule kaum mehr Berufungschancen. In Betracht kommen nur noch die
wenigen Stellen als unbefristete wissenschaftliche Mitarbeiter. Solche unvoll-
endeten akademischen Karrieren fristen ein Nischendasein als Lehrbeauftragte
nicht selten ohne Bezahlung.

Last but not least fällt in der Phase des wissenschaftlichen Aufstieges für Frauen
die Familienplanung ins Gewicht. Kinder und Karriere lassen sich nur durch ein
flexibles und gut ausgebautes Kinderbetreuungssystem, flexible Arbeitszeiten
und Perspektiven für eine sog. Dual Career auf befriedigende Weise vereinba-
ren.

Der Hochschullehrernachwuchs qualifiziert sich dezentral und – schon aus
Rechtsgründen – ohne Bedarfssteuerung. Das führt dazu, dass in den Berufungs-
verfahren der wissenschaftliche Nachwuchs häufig erst nach einer längeren Frist
eine Professorenstelle erreicht. Eine bemerkenswert große Zahl von Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftlern bleibt ohne den Karriereerfolg Professur,
obwohl sie hochqualifiziert sind.

Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates zur Chancengleichheit von Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftlern vom 13. Juli 2007 heben hervor: Es sind
nicht kurzlebige Kampagnen, die zum Erfolg führen. Die Stellung der Frauen
in Wissenschaft und Forschung zu stärken, ist eine längerfristige, aber exis-
tenzsichernde notwendige Aufgabe für das deutsche Wissenschaftssystem.

Der konkrete politische Auftrag, durch geeignete Maßnahmen die Gleichstel-
lung von Frauen und Männern in allen gesellschaftlichen Bereichen zu verwirk-
lichen, ergibt sich aus Artikel 3 des Grundgesetzes.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. in einem Wissenschaftsfreiheitsgesetz durch ein sogenanntes Kaskadensys-
tem, das den Anteil von Frauen an der vorausgegangenen Qualifikationsstufe
berücksichtigt, ein ausgewogenes Verhältnis von Frauen und Männern bei
gleichwertiger Qualifikation im Bewerbungsverfahren zu gewährleisten;

2. im Rahmen des Hochschulpaktes von Bund und Ländern ein bundesweites
Programm zur Studienorientierung und Studienberatung aufzulegen, das das
Interesse junger Frauen zur Aufnahme eines Studiums als Weg in den Beruf
fördert und ihnen Karrierechancen auch in den MINT-Fächern aufzeigt;

3. das Professorinnenprogramm des Bundesministeriums für Bildung und For-
schung besonders auch auf die MINT- Fächer auszurichten. Diejenigen Hoch-
schulen und Forschungseinrichtungen, die den Anteil an Frauen, insbeson-
dere in verantwortungsvollen und leitenden Positionen, am stärksten stei-
gern, sollten durch Bund und Länder gezielt durch entsprechende Zuwendun-
gen unterstützt werden;

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4. im Rahmen des Paktes für die Hochschulen darauf hinzuwirken, dass durch
frühere Erstberufungen die Position von Wissenschaftlerinnen gestärkt
wird. Dabei ist darauf zu achten, dass künftig zwischen Promotion und Be-
rufungsfähigkeit im Regelfall nicht mehr als sechs Jahre liegen;

5. im Rahmen des Paktes für die Hochschulen künftig stärker darauf hinzuwir-
ken, die Zahl der Professuren deutlich zu erhöhen, was neben neuen
Berufungschancen für Frauen zugleich eine erhebliche Verbesserung der
Betreuungsrelation für die Studierenden bedeutet;

6. im Rahmen des Paktes für die Hochschulen darauf hinzuwirken, dass auch
durch zusätzliche zeitlich befristete Stellen, vorgezogene Berufungen,
marktgerecht bezahlte Lehraufträge und die Bezahlung von Lehrstuhlver-
tretungen für die Dauer eines Semesters die Situation junger Wissenschaft-
lerinnen verbessert wird;

7. mit der Einrichtung unbefristeter Dozentenstellen neue Möglichkeiten für
Wissenschaftlerinnen zu schaffen, um so auch eine Perspektive unterhalb
der Professur zu eröffnen;

8. die Durchlässigkeit der Bildungswege von der dualen Ausbildung hin zu
Berufsakademien, Fachschulen und Fachhochschulen und Universitäten
entscheidend zu verbessern, so dass besonders qualifizierten Facharbeite-
rinnen und Meisterinnen der Zugang zu einer Hochschule ermöglicht wird;

9. die Karrierechancen von Frauen in der Wissenschaft und ihre geschlech-
terspezifische Benachteiligung durch die Schaffung besserer Kinderbe-
treuungsangebote und besonderer Hilfen bei der Kinderbetreuung, insbeson-
dere durch Bildungs- und Betreuungsgutscheine für Krippen, Kindergärten
und Tageseltern, zu verbessern;

10. durch flexiblere Arbeitsteilzeitlösungen und Arbeitszeitregelungen, aber
auch durch die Vermittlung von Arbeitsmöglichkeiten für Ehepartner (Dop-
pelkarrieren) die Situation von Frauen in der Wissenschaft zu erleichtern;

11. durch die Erhöhung der Transparenz der Entscheidungsprozesse der Beru-
fungskommissionen an den Hochschulen und außeruniversitären For-
schungseinrichtungen die Verwirklichung von Chancengleichheit sichtbar
zu machen;

12. zu gewährleisten, dass junge Wissenschaftlerinnen Entscheidungsfreiheit
über den eigenen Qualifikationsweg bekommen. Habilitation, Juniorprofes-
sur, Leiterin einer Nachwuchsgruppe (z. B. im Rahmen des Emmy-Noether-
Programms), die Einbindung in Graduiertenkollegs der Deutschen For-
schungsgemeinschaft und in eine sog. Research-Training-Group der Max-
Planck-Gesellschaft sind hierbei als gleichwertige Qualifikationswege zu
betrachten;

13. durch entsprechende Mentoringprogramme der Hochschulen und Wissen-
schaftsorganisationen jungen Wissenschaftlerinnen bereits frühzeitig Ma-
nagementkenntnisse und Kenntnisse über betriebswirtschaftliche Abläufe
verstärkt zu vermitteln, um ihnen so die Möglichkeiten für eine frühe Selb-
ständigkeit zu schaffen;

14. den sog. Tenure Track als eine Perspektive für eine Wissenschaftlerkarriere
zu betrachten. Durch die Zusage, nach Ablauf einer positiv evaluierten Qua-
lifikationszeit eine Universitätsprofessur zu erhalten, bekommen junge Wis-
senschaftlerinnen und Wissenschaftler eine gewisse Planungssicherheit.
Der derzeitige Ausschluss von Habilitanden vom Tenure Track ist unsinnig
und eine rechtswidrige Diskriminierung;
15. Forschungsstipendien und Forschungspreise, Best-practice-Modelle, Ver-
gütungsmodelle, mit denen sich Wissenschaftlerinnen „Zeit kaufen“ kön-

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nen, sind zur gezielten Förderung von jungen Wissenschaftlerinnen in
Deutschland breit anzuwenden (Vorbild nach der Nüsslein-Vollhardt-Stif-
tung);

16. sich für einen Wissenschaftstarif einzusetzen, der eine konkurrenzfähige
Vergütungsstruktur vorsieht, die es erlaubt, den Nachwuchs im Wissen-
schaftssystem zu halten und der im Wissenschaftsbereich an die Stelle des
bisherigen Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst (TVöD) tritt;

17. einen Gesetzentwurf für eine attraktive und internationale konkurrenzfähige
W-Besoldung vorzulegen.

Berlin, den 17. Juni 2008

Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

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