BT-Drucksache 16/9589

EU-Lateinamerika-Gipfel in Lima und Lateinamerika-Reise der Bundeskanzlerin

Vom 17. Juni 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9589
16. Wahlperiode 17. 06. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Heike Hänsel, Monika Knoche, Sevim Dag˘delen,
Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, Inge Höger,
Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

EU-Lateinamerika-Gipfel in Lima und Lateinamerika-Reise der Bundeskanzlerin

Die Bundeskanzlerin, Dr. Angela Merkel, besuchte auf ihrer Reise durch
Lateinamerika vom 13. bis 20. Mai 2008 mit Ausnahme Brasiliens ausschließ-
lich solche Länder, die sich nicht oder nur zaghaft an den neuen regionalen
Integrationsprozessen, die sich gegenwärtig z. B. im Rahmen der Bolivariani-
schen Alternative (ALBA) vollziehen, beteiligen und in denen konservative
Regierungen dem sozialen und demokratischen Aufbruch noch standhalten, der
in vielen Ländern bereits zu einer Umwälzung der politischen Kräfteverhält-
nisse und zur Wahl linker Regierungen geführt hat. Insbesondere die dritte
Etappe der Reise, Kolumbien, ist in Lateinamerika weitgehend diplomatisch
isoliert. Die Kanzlerin lobte dennoch öffentlich die Arbeit der kolumbianischen
Regierung. Von einer kritischen Erörterung der Menschenrechtssituation in
Kolumbien im Rahmen des Besuchs wurde in den Medien indes nicht berichtet.

Im Rahmen ihrer Lateinamerika-Reise unterzeichnete die Bundeskanzlerin am
14. Mai 2008 in Brasilia ein „Abkommen über Zusammenarbeit im Energiesek-
tor mit Schwerpunkt auf erneuerbare Energie“ zwischen Deutschland und Bra-
silien. Inhalt des Abkommens ist auch die deutsche Unterstützung bei der Fer-
tigstellung eines Atomkraftwerks.

Am 15. und 16. Mai 2008 nahm die Bundeskanzlerin in der peruanischen
Hauptstadt Lima am fünften EU-Lateinamerika-Gipfel teil. Dort berieten 60
Delegationen der EU-Mitgliedstaaten und aus Lateinamerika und der Karibik
über Fragen der politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit.

Bereits Ende 2007 hatte die Europäische Union (EU) mit den Staaten des
Cariforum (Karibische Regionalgruppe innerhalb der Gruppe der afrikanischen,
karibischen und pazifischen Staaten – AKP-Staaten) ein Wirtschaftspartner-
schaftsabkommen abgeschlossen, dass nicht nur eine deutliche und weitgehend
reziproke Zollsenkung für Güterimporte zum Inhalt hatte, sondern auch Libera-
lisierung und Deregulierung in der öffentlichen Daseinsvorsorge. Auf dem EU-
Lateinamerika-Gipfel konnten die Mitgliedstaaten der EU den von ihnen er-
hofften Durchbruch bei den Assoziierungsverhandlungen mit weiteren Staaten-
gruppen Lateinamerikas nicht erzielen. Namentlich die Verhandlungen mit der

Andengemeinschaft kamen nicht im Sinne der EU voran, weil sich zwei der vier
Mitgliedstaaten der Andengemeinschaft den Verhandlungszielen der EU entge-
genstellten und eigene Vorstellungen bezüglich der Ausgestaltung des Abkom-
mens formulierten. Als Reaktion darauf will die EU fortan separate bilaterale
Verhandlungen mit Einzelstaaten führen.

Anlässlich des Gipfels trafen sich soziale Bewegungen aus Lateinamerika und
Europa vom 13. bis 17. Mai 2008 in Lima zu einem Alternativengipfel unter

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dem Motto „Enlazando Alternativas“, um ihren Protest gegen neoliberale Wirt-
schafts- und Handelspolitik, gegen die Macht globaler Konzerne und gegen
menschenunwürdige Arbeitsbedingungen zu artikulieren und Alternativen zu
formulieren. Die Vorbereitung des Alternativengipfels wurde seitens der perua-
nischen Behörden massiv behindert und in die Nähe von terroristischen Aktivi-
täten gerückt. Dennoch fand er schließlich unter der Beteiligung von Zehntau-
senden statt und erzielte eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit.

Auf dem Alternativengipfel wurde ein „Tribunal der Völker“ über europäische
Konzerne abgehalten, die beschuldigt werden, in ihrer wirtschaftlichen Tätig-
keit in Lateinamerika gegen Sozial-, Menschenrechts- und Umweltstandards zu
verstoßen. Unter den angeklagten Konzernen befanden sich auch deutsche Un-
ternehmen. Bohringer Ingelheim wurde vorgeworfen, in Brasilien gegen ethi-
sche Forschungsgrundsätze verstoßen, Thyssen Krupp, in Brasilien im Zusam-
menhang mit dem Bau eines Stahlwerks und eines Hafenterminals traditionelle
Fischgründe kontaminiert, und Bayer, in Peru ein hoch giftiges Pestizid ver-
marktet zu haben.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. In welcher Weise hat sich die Bundesregierung gegenüber der peruanischen
Regierung dafür eingesetzt, dass der Alternativengipfel „Enlazando Alterna-
tivas“ ungestört vorbereitet und durchgeführt werden kann?

2. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung von den Ergebnissen des Alter-
nativengipfels, beispielsweise von dem dort abgehaltenen „Tribunal der
Völker“ gegen die in Lateinamerika tätigen europäischen Konzerne?

3. In welcher Weise will die Bundesregierung den auf dem „Tribunal der
Völker“ erhobenen Vorwürfen gegen deutsche Unternehmen nachgehen?

4. In welchem Umfang werden oder wurden die auf dem „Tribunal der Völker“
angeklagten deutschen Konzerne Bohringer Ingelheim, Thyssen Krupp und
Bayer in ihrer Investitionstätigkeit in Lateinamerika durch öffentliche
Kredite, anderer öffentliche Förderung und/oder Investitionsschutzab-
kommen begünstigt?

5. Welche Möglichkeiten eines Monitorings der Einhaltung von Sozial-, Men-
schenrechts- und Umweltstandards hat die Bundesregierung gegenüber
deutschen Unternehmen in Lateinamerika bzw. wendet sie an?

6. Wie bewertet die Bundesregierung die Ergebnisse des EU-Lateinamerika-
Gipfels hinsichtlich des Verlaufs der Assoziierungsverhandlungen der EU
mit den unterschiedlichen lateinamerikanischen Staatengruppen (Anden-
gemeinschaft, Zentralamerika, Mercosur)?

An welchen Punkten konnte Übereinkunft erzielt werden, und welche
Punkte blieben strittig (für jede Staatengruppe)?

7. Welche konkreten Vereinbarungen über den Fortgang der Verhandlungen
wurden jeweils getroffen (für jede Staatengruppe)?

8. Wie wird die Einbeziehung von Parlamenten, Gewerkschaften, sozialen
Organisationen und zivilgesellschaftlichen Gruppen in Europa und in den
lateinamerikanischen Partnerstaaten in den weiteren Verhandlungsverlauf
abgesichert?

9. Welche Meinungsverschiedenheiten bestehen zwischen den Mitgliedstaaten
der EU hinsichtlich der Frage, ob künftig weiterhin mit der gesamten Anden-
gemeinschaft oder mit einzelnen Mitgliedstaaten der Andengemeinschaft
verhandelt werden soll?
Welche Haltung nimmt die Bundesregierung diesbezüglich ein?

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10. Welchen Vorteil sieht die Bundesregierung gegebenenfalls darin, die Ver-
handlungen künftig mit einzelnen Mitgliedstaaten der Andengemeinschaft
und nicht mehr mit der Andengemeinschaft als ganze zu führen?

11. Wie ist nach Meinung der Bundesregierung die Absicht der EU, die Asso-
ziierungsverhandlungen künftig bilateral mit den einzelnen Mitgliedstaaten
der Andengemeinschaft zu führen, mit dem Auftrag aus dem Abkommen
vom 15. Dezember 2003 über politischen Dialog und Zusammenarbeit, die
regionale Integration innerhalb der Andengemeinschaft zu vertiefen, zu
vereinbaren?

12. Hat die Bundesregierung Kenntnis von der Kritik des guayanischen Präsi-
denten Bharrat Jagdeo, das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit der
EU sei von den Staaten des Cariforum unter hohem politischem Druck und
ohne Möglichkeit einer tiefer gehenden Prüfung unterzeichnet worden?

13. Wie stellt sich die Bundesregierung zur Kritik des guayanischen Präsiden-
ten am Verhandlungsverlauf zum Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwi-
schen EU und Cariforum und welche Konsequenzen für den Verlauf weite-
rer Verhandlungen mit anderen AKP-Regionalgruppen sollte die EU-Kom-
mission nach Ansicht der Bundesregierung aus dieser Unzufriedenheit zie-
hen?

14. Wie stellt sich die Bundesregierung zur Kritik von Parlamentariern und
Vertretern von Gewerkschaften und Zivilgesellschaft in den Ländern des
Cariforum, die weitreichende negative Konsequenzen des Abkommens für
die eigenständige ökonomische Entwicklung der karibischen Staaten be-
fürchten?

15. Welche Mechanismen wollen EU und Cariforum etablieren, um eine fort-
laufende Evaluierung der sozialen, ökologischen und ökonomischen Aus-
wirkungen des Wirtschaftspartnerschaftsabkommens in der EU und in der
Karibik zu gewährleisten, und wie ist dabei die Beteiligung von Parlamen-
ten, Gewerkschaften, sozialen Organisationen und zivilgesellschaftlichen
Gruppen geregelt?

16. Welche politischen Erwägungen haben die Bundeskanzlerin bei der Aus-
wahl Brasiliens, Perus, Kolumbiens und Mexikos als Ziele ihrer Latein-
amerikareise geleitet?

17. In welcher Weise waren die regionalen Integrationsprozesse, die sich im
Rahmen von ALBA und Unasur (Südamerikanische Union) vollziehen,
Thema der Reise der Kanzlerin?

18. Welche Potenziale erkennt die Bundesregierung in den regionalen Integra-
tionsprojekten ALBA, Unasur und Petrosur, zur Armutsbekämpfung in La-
teinamerika beizutragen?

19. Wie bewertet sie die im Rahmen von ALBA und Petrosur bislang erzielten
Effekte in der Armutsbekämpfung?

20. Teilt die Bundesregierung die Ansicht, dass die im Rahmen von ALBA
durchgeführten Projekte gegenseitiger Hilfe, insbesondere die von kubani-
schen Ärztinnen und Ärzten durchgeführte und von Venezuela finanzierte
„Operación Milagro“ zur Behandlung von Augenkrankheiten und das mit
kubanischen Lehrmaterialien und mithilfe kubanischer Lehrerinnen und
Lehrerinnen durchgeführte Alphabetisierungsprogramm „Yo si puedo“,
von denen bereits Millionen von Menschen in Lateinamerika und Afrika
profitiert haben, eine vorbildhafte und unterstützenswerte Leistung der
Süd-Süd-Zusammenarbeit darstellen (bitte mit Begründung)?

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21. Welche für die deutsche und europäische Entwicklungszusammenarbeit
mit Lateinamerika nutzbaren Synergiepotenziale erkennt die Bundesregie-
rung in der verstärkten Süd-Süd-Kooperation im Rahmen von ALBA,
Petrosur und Unasur?

22. Auf welche Weise will die Bundesregierung diese verstärkte Süd-Süd-
Kooperation in ihrer Lateinamerikapolitik aufgreifen und unterstützen?

23. In welcher Weise hat die Bundeskanzlerin die schwierige Menschenrechts-
lage in Kolumbien gegenüber dem kolumbianischen Präsidenten thema-
tisiert?

24. In welcher Weise und mit welchen Inhalten wurden dabei die ungeahnde-
ten Morde an Friedensaktivisten und Gewerkschaftern, die hohe Zahl
extralegaler Hinrichtungen durch reguläre Streitkräfte, die Bedrohung der
Friedensgemeinden durch Streitkräfte, Paramilitärs und Guerilla und die
Verstrickung zahlreicher Parlamentarier der Regierungsmehrheit mit den
rechten Paramilitärs angesprochen?

25. Mit welchen weiteren Gesprächspartnern konnte sich die Bundeskanzlerin
in Kolumbien über die Menschenrechtslage in Kolumbien austauschen,
und welche von der Position der kolumbianischen Regierung abweichen-
den Einschätzungen zur Entwicklung der Menschenrechtslage in Kolum-
bien wurden dabei vorgetragen?

26. Welche Festlegungen oder Verabredungen zur Verbesserung der Men-
schenrechtssituation in Kolumbien wurden während des Besuchs getrof-
fen?

27. Durch welche Maßnahmen im Rahmen der bilateralen Entwicklungs-
zusammenarbeit und mittels welcher diplomatischen Bemühungen will die
Bundesregierung zu einer politischen und friedlichen Lösung der gewalttä-
tigen Konflikte in Kolumbien beitragen?

28. Wie stellt sich Bundesregierung zu den Befürchtungen von Umweltschüt-
zern, Kirchen und Gewerkschaftern, das deutsch-brasilianische Energieab-
kommen trage zur Beschleunigung der Produktion von Biotreibstoff und
damit zu weiterer Zerstörung des Regenwaldes und anderer ökologisch
sensibler Flächen bei und verschärfe die Flächenkonkurrenz zur Nahrungs-
mittelproduktion?

29. Inwiefern trägt die Bundesregierung in ihrer energiepolitischen Zusam-
menarbeit mit Brasilien der von Bauern- und Indigenenverbänden vorge-
tragenen Kritik Rechnung, die Ausweitung der Biospritproduktion gehe
mit einer weiteren Landkonzentration, die die eingeforderte Agrarreform
unterminiert, und mit Vertreibungen und menschenunwürdigen Arbeitsbe-
dingungen auf den Zuckerrohr- und Sojaplantagen einher?

30. Hält die Bundesregierung die sozial und ökologisch nachhaltige Produk-
tion von Biomasse in Brasilien für zertifizierbar?

31. Welche konkreten sozialen, menschen- und arbeitsrechtlichen und ökolo-
gischen Standards wird die Bundesregierung an eine mögliche Ausweitung
des Imports von Biokraftstoff aus Brasilien anlegen?

32. Wie könnte gegebenenfalls ein entsprechendes Zertifizierungsregime aus-
sehen, welche Sanktionierungsmöglichkeiten müssten vorgesehen werden,
und wie könnten entsprechende Kontrollen sichergestellt werden?

33. Welcher finanzielle und personelle Aufwand wäre in Deutschland und Bra-
silien nach Meinung der Bundesregierung für die Kontrolle der Nachhaltig-
keitsstandards zu erbringen, und welche Vorstellungen hat die Bundesregie-

rung von dem dafür zu schaffenden institutionellen Rahmen?

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34. Welche Vereinbarungen bezüglich der Finanzierung von Zertifizierung und
Kontrolle wurden bereits getroffen bzw. werden vorbereitet?

35. Für welche konkreten Standards für die soziale und ökologische Nachhal-
tigkeit in der Biospritproduktion für den europäischen Bedarf wird sich die
Bundesregierung im Rahmen der Aushandlung der europäischen Richtlinie
für erneuerbare Energien einsetzen?

36. Wie vereinbart die Bundesregierung ihre Unterstützung für Drittländer
beim Aufbau von Atomreaktoren mit ihrem eigenen Ziel eines Ausstiegs
aus der Atomenergienutzung?

37. Welche Gründe, die für das Festhalten der Bundesregierung am Ausstieg
aus der Atomenergienutzung in Deutschland maßgeblich sind, müssen be-
züglich der Atomenergienutzung in Brasilien keine Beachtung finden (bitte
mit Begründung)?

Berlin, den 13. Juni 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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