BT-Drucksache 16/9405

Gedenken und Erinnerung an die Aktion "Arbeitsscheu Reich" 1938

Vom 30. Mai 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9405
16. Wahlperiode 30. 05. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Katja Kipping, Monika Knoche, Jan Korte,
Volker Schneider (Saarbrücken), Dr. Ilja Seifert, Jörn Wunderlich und der
Fraktion DIE LINKE.

Gedenken und Erinnerung an die Aktion „Arbeitsscheu Reich“ 1938

Teil der menschenverachtenden Gesinnung des Nationalsozialismus war die
Abscheu gegenüber den so genannten Asozialen bzw. den synonym so bezeich-
neten Gemeinschaftsfremden, „Arbeitsverweigerern“ bzw. „Landstreichern“.
Gemeint waren damit all jene, deren Verhalten im weitesten Sinne sozial unan-
gepasst war. Das konnten Roma und Sinti sein; Lesben oder Schwule; das
konnten Menschen sein, die keiner festen Arbeit nachgingen, keinen festen
Wohnsitz hatten; und es konnten auch Zuhälter und säumige Unterhaltspflich-
tige sein. Gemein war ihnen lediglich, dass sie von Staat und Partei, vor allem
aber von lokalen Fürsorgeeinrichtungen als „arbeitsscheu“ angesehen wurden.

Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten richtete sich eine der
ersten größeren Aktionen der SA gegen diese „Asozialen“; gemeinsam mit der
Polizei durchsuchte sie Nachtasyle, Herbergen, bekannte Treffpunkte von Bett-
lern und „Landstreichern“, die festgenommen und in Gefängnisse verbracht
wurden. Schon 1933 wurden die „Asozialen“ in den entstehenden Konzentra-
tionslagern untergebracht. Ab 1938 wurden im Rahmen der so genannten „vor-
beugenden Verbrechensbekämpfung“ die „Asozialen“ zu Tausenden in die
Konzentrationslager verschleppt. Vom 21. bis 30. April und 13. bis 18. Juni
1938 fand die Aktion „Arbeitsscheu Reich“ statt, wahrscheinlich zehntausend
Obdachlose und andere „Gemeinschaftsfremde“ wurden bei Razzien festge-
nommen und anschließend in ein KZ gebracht. Als Kennzeichen trugen sie dort
ein schwarzes Dreieck.

Wie geistig oder körperlich behinderte Menschen waren auch die „Asozialen“
Opfer des „Erbgesundheitsgesetzes“ und konnten sterilisiert werden. Für die
nationalsozialistisch gesinnten Ärzte fielen die „Arbeitsscheuen“ unter die
Kategorie „Schwachsinnige“ oder „moralisch Schwachsinnige“, jahrelange
Obdachlosigkeit wurde als Zeichen einer „primitiven Geistesverfassung“ ge-
wertet.

Dennoch sind die so genannten Asozialen nie als Opfergruppe des National-
sozialismus anerkannt worden. Von den Entschädigungsregelungen des Bun-

desentschädigungsgesetzes (BEG) blieben sie weitgehend ausgeschlossen, weil
dieses nur für Opfer so genannter NS-typischer Verfolgungsmaßnahmen galt.
In den 1950er und 1960er Jahren (als Anträge nach dem BEG gestellt werden
konnten) wurde jedoch die Verfolgung von „Asozialen“ regelmäßig nicht als
Unrecht gesehen. Dies hatte seinen Grund nicht zuletzt darin, dass in den Be-
hörden oft genug die Täter von einst saßen, die nicht einräumen wollten, ihren
früheren Opfern Unrecht zugefügt zu haben.

Drucksache 16/9405 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Erst seit einigen Jahren können die heute noch lebenden Opfer der Verfol-
gungsmaßnahmen unter bestimmten Umständen Leistungen nach den Härte-
richtlinien des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes beantragen, d. h. eine Ein-
malzahlung (2556,46 Euro) und gegebenenfalls monatliche Zusatzleistungen
(120 Euro).

Diese Situation ist auch deshalb unbefriedigend, weil Leistungen nach den Här-
terichtlinien ausdrücklich keinen Ausgleich für Kriegsschäden, Vermögens-
schäden und Folgeschäden bezwecken, wie sie das BEG vorgesehen hatte. Die
Leistungen werden außerdem nur an deutsche Staatsangehörige bzw. „Volkszu-
gehörige“ ausbezahlt, die ihren Wohnsitz in Deutschland haben. Nichtdeutsche
oder nicht in Deutschland lebende Betroffene bekommen nicht einmal dieses
Almosen.

Da als „asozial“ gebrandmarkte Menschen in der Gegenwart zunehmender Ag-
gressivität ausgesetzt sind (vgl. Heitmeier, „Deutsche Zustände“, 2008) sollte
auch diese Form von Menschenfeindlichkeit ihren Platz in der Mahn- und Ge-
denkpolitik haben.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele „Asoziale“ wurden nach Kenntnis der Bundesregierung

a) Opfer von Zwangssterilisationen nach dem Erbgesundheitsgesetz,

b) während des Naziregimes in Gefängnissen inhaftiert,

c) während des Naziregimes in Zuchthäusern inhaftiert,

d) während des Naziregimes in Konzentrationslagern inhaftiert,

e) durch erlittene Verfolgungsmaßnahmen langfristig in ihrer Gesundheit
beeinträchtigt,

f) während des Naziregimes zum Tode verurteilt,

g) während des Naziregimes hingerichtet,

h) während des Naziregimes in Gefängnis-, Zuchthaus- oder KZ-Haft um-
gebracht?

2. Wie viele „Asoziale“ wurden im Rahmen der Aktion „T 4“ getötet, wie viele
von dieser Aktion Betroffene kamen später in den Konzentrationslagern zu
Tode oder wurden ermordet?

3. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung, wie viele der von den Nazis
als „Asoziale“ in Konzentrationslager Verschleppten deswegen mit dieser
Bezeichnung belegt worden sind, weil sie

a) lesbisch

b) schwul

c) Sinti oder Roma waren (falls möglich, jeweils detaillierte Zahlen benen-
nen)?

4. Falls die Bundesregierung keine detaillierten Kenntnisse zu den vorange-
gangenen Fragen hat: welche Anstrengungen will sie unternehmen, um sich
diese Kenntnisse zu beschaffen?

5. Wie viele „Asoziale“ erhielten nach Kenntnis der Bundesregierung eine Ent-
schädigung für das erlittene Unrecht, und wie viele hiervon waren als „Aso-
ziale“ Opfer von Zwangssterilisationen (bitte die Regelungen angeben, auf
denen die Entschädigung beruhte)?
6. Wie viele „Asoziale“ erhielten nach Kenntnis der Bundesregierung als Opfer
von Zwangsarbeit eine Entschädigung?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/9405

7. Welche Regelungen auf Landesebene sind der Bundesregierung bekannt,
nach denen „Asoziale“ im Rahmen von Härtefallregelungen Entschädi-
gungen erhalten haben, und wie groß ist die Anzahl der Empfänger so ge-
regelter Entschädigungszahlungen?

8. Falls der Bundesregierung keine exakten Zahlen vorliegen: In welchem
ungefähren Verhältnis steht nach Einschätzung der Bundesregierung die
Zahl derjenigen, die als „Asoziale“ Opfer von NS-Verfolgung wurden, und
die Zahl derjenigen, die hierfür entschädigt worden sind, und welche Kon-
sequenzen ergeben sich aus diesem Verhältnis?

Wie viele Opfer dieser Verfolgungsmaßnahmen leben heute noch?

9. Beabsichtigt die Bundesregierung, auch den Opfern der Verfolgung „Aso-
zialer“ eine Entschädigung für Kriegsschäden, Verfolgungsschäden und
Folgeschäden zuzubilligen, und zwar auch solchen Opfern, die nach dem
Ende des Faschismus Deutschland verlassen haben, und wenn nein, warum
nicht?

10. Inwiefern spielt der Umgang mit den so genannten Asozialen in der Auf-
arbeitung der Geschichte von Bundesministerien und nachgeordneten
Behörden, insbesondere dem Bundeskriminalamt, eine Rolle, und welche
Aktivitäten sind hier ergriffen worden bzw. noch geplant?

11. Welche Initiativen sind von der Bundesregierung geplant oder ergriffen
worden, um für diese spezifische NS-Opfergruppe Möglichkeiten des Ge-
denkens zu schaffen?

12. Welche Rolle spielen die „Asozialen“ in den vom Bund geförderten Mahn-
und Gedenkstätten, bzw. in welchen dieser Mahn- und Gedenkstätten fin-
den sie besondere Beachtung?

13. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung zu gegenwärtigen Straf- und
Gewalttaten gegen Wohnungslose und sozial unangepasste Gruppen, und
inwiefern stehen diese Gewalttaten in einer inhaltlichen Kontinuität zu den
Vorstellungen des Naziregimes?

14. Welche Maßnahmen und Initiativen hat die Bundesregierung ergriffen, um
gegen Diskriminierung und Diffamierung von Wohnungslosen und so ge-
nannten sozial unangepassten Gruppen heute vorzugehen?

15. Inwiefern finden diese Themen Niederschlag in von der Bundesregierung
geförderten Projekten mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen (bitte
nach Ministerien auflisten)?

16. Ist der Bundesregierung das von zivilgesellschaftlichen Akteuren geplante
Gedenken zur Aktion „Arbeitsscheu Reich“ am 13. Juni 2008 in Berlin be-
kannt, und wie nimmt sie zu diesem Gedenken Stellung?

Berlin, den 30. Mai 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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