BT-Drucksache 16/9312

Die gesetzliche Unfallversicherung fit die Dienstleistungsgesellschaft machen

Vom 28. Mai 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9312
16. Wahlperiode 28. 05. 2008

Antrag
der Abgeordneten Markus Kurth, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, Brigitte Pothmer,
Irmingard Schewe-Gerigk und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Die gesetzliche Unfallversicherung fit für die Dienstleistungsgesellschaft machen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die gesetzliche Unfallversicherung ist ein wichtiger Bestandteil des Sys-
tems der Sozialen Sicherung in Deutschland. Als Garant der Absicherung
vor den gesundheitlichen Risiken des Arbeitslebens hat sich das System der
Unfallversicherung für Arbeitnehmer wie Arbeitgeber grundsätzlich be-
währt. Die gesetzliche Unfallversicherung ist der einzige Sozialversiche-
rungszweig, bei dem es in den vergangenen Jahren keine Leistungskürzun-
gen gab. Die Zahl der Unfälle sank in den letzten Jahren kontinuierlich,
somit konnten die durchschnittlichen Beitragssätze seit 20 Jahren stabil ge-
halten werden. Ob der erstmalige Anstieg der Unfallzahlen im Jahr 2006 um
1,8 Prozent lediglich auf einen Beschäftigungszuwachs zurückzuführen ist,
wird eine längerfristige Betrachtung zeigen.

Die gesetzliche Unfallversicherung nimmt aufgrund der weitgehenden Haf-
tungsfreistellung der Unternehmen für betriebliche Unfälle eine Sonderstel-
lung im Versicherungsrecht ein. Eine institutionelle Besonderheit ist außer-
dem die weitgehende Verpflichtung der Unfallversicherungsträger zu
Beratung, Prävention und Rehabilitation. Der Bundestag begrüßt deshalb,
dass die Bundesregierung nicht den Forderungen einiger Wirtschaftver-
bände nachgekommen ist, das Monopol der Unfallversicherungsträger auf-
zuheben und die versicherten Leistungen für private Versicherungsträger zu
öffnen.

2. Trotz der grundsätzlich erfolgreichen Bilanz gibt es Bedarf zur Reform der
historisch bedingten Struktur der gesetzlichen Unfallversicherung und ihren
Leistungen:

2.1 Die Architektur der gesetzlichen Unfallversicherung basiert im Wesent-
lichen auf den Produktionsstrukturen der Industriegesellschaft. Nicht zu-
letzt durch den sektoralen Wandel gab es Gewichtsverschiebungen zwi-
schen den Branchen sowie innerhalb der Branchen. Entsprechend hat sich
auch der Anteil der Versicherten in den Branchen verschoben. Dadurch

sind einzelne Träger der Unfallversicherung in ihrer Handlungsfähigkeit
gefährdet. Branchen mit abnehmender Bedeutung sind aus strukturellen
Gründen überdurchschnittlich mit Rentenzahlungen (Überaltlast) belastet.
Daher hatte bereits im Jahr 2003 die rot-grüne Bundesregierung erste
Schritte für einen Lastenausgleich für die Baubranche beschlossen. Darauf
aufbauend muss die Organisation der gesetzlichen Unfallversicherung

Drucksache 16/9312 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

fortentwickelt und den Strukturveränderungen in der Wirtschaft angepasst
werden.

2.2 Das Leistungssystem der gesetzlichen Unfallversicherung definiert ledig-
lich Arbeits- und Wegeunfälle sowie Berufskrankheiten als Versiche-
rungstatbestände. Diese Versicherungstatbestände beruhen auf einem
ebenso mechanistischen wie monokausalen Verursachungszusammenhang,
wie er allenfalls noch in der klassischen Industriearbeit mit Fließbandar-
beitsplätzen oder im traditionellen Handwerk vorzufinden ist. Der Versiche-
rungsfall wird durch mechanische (z. B. schweres Heben), chemische (z. B.
Gifte oder Stäube), physikalische (Lärm, Druckluft) oder biologische (z. B.
Parasiten) Einwirkungen definiert. Multiple und zeitlich versetzte Einwir-
kungen in unterschiedlichen Arbeitsverhältnissen sowie psychosoziale
Faktoren werden unzureichend erfasst.

Der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft hat jedoch
auch zu einem Wandel der Produktionsabläufe und der arbeitsbedingten Ge-
sundheitsgefahren geführt. Veränderte Krankheitsbilder aufgrund flexibler
Produktions- und Arbeitsbedingungen, die mit unsteten Arbeitsverhältnis-
sen und steigender Arbeitsverdichtung einhergehen, sind nur unzureichend
in die gesetzliche Unfallversicherung integriert worden. Die gesundheit-
lichen Problemstellungen in den Unternehmen und Verwaltungen sind nicht
mehr primär an der Mensch-Maschine-Schnittstelle zu verorten, sondern an
der Mensch-Mensch-Schnittstelle.

Das unflexible und komplizierte Berufskrankheitenrecht muss an die Ge-
fährdungen der Produktionsweise der Dienstleistungsgesellschaft ange-
passt werden. Lediglich rund 8 Prozent der angezeigten Fälle von Berufs-
krankheiten werden entschädigt. Das Entschädigungsinstrumentarium für
Berufskrankheiten entspricht nicht der Komplexität von umwelt- und
gesundheitsschädigenden Substanzen und anderen Einwirkungen aus mul-
tiplen Ursache-Wirkung-Zusammenhängen. Zudem legt es den Versicher-
ten hohe Beweislasten auf. Ein monokausaler Nachweis für eine Krank-
heit, die erst Jahre oder Jahrzehnte später auftritt, erweist sich in der Praxis
als äußerst schwierig. Dies gilt erst recht, wenn aufgrund zunehmend
unsteter Erwerbsverläufe unterschiedliche Expositionen oder körperliche
Belastungen in unterschiedlichen Betrieben einwirken und wiederum kom-
plexe Wechselwirkungen hervorheben können. Individuelle komplexe
Krankheitsverläufe, die nicht einem monokausalen Ursache-Wirkung-
Schema folgen, sind künftig in der Berufskrankheitenliste zu berücksich-
tigen.

Der Präventionsauftrag der gesetzlichen Unfallversicherung muss ebenfalls
an die veränderte Produktionsweise der Dienstleistungsgesellschaft ange-
passt werden. In Zukunft muss auch die Qualität der zwischenmenschlichen
Beziehungen von besonderer Bedeutung für die betriebliche Gesundheits-
vorsorge sein. Psychosoziale Faktoren der Arbeit sind explizit in den Auf-
trag zur Vermeidung arbeitsbedingter Erkrankungen aufzunehmen. Denn
psychosoziale Faktoren wie zum Beispiel Mobbing spielen eine große Rolle
bei den sogenannten arbeitsbedingten Erkrankungen, deren Bedeutung auf-
grund der wachsenden Zahl von Dienstleistungsberufen gestiegen ist.

Versäumnisse in der Prävention und nicht entschädigte Berufskrankheiten
führen zu Kostenverschiebungen zu Lasten der Krankenversicherungsträ-
ger. Allein die Kosten präventiv nicht vermiedener arbeitsbedingter Erkran-
kungen werden nach einer Analyse, die von der Bundesanstalt für Arbeits-
schutz und Arbeitsmedizin in Auftrag gegeben wurde, auf rund 40 Mrd.
Euro jährlich veranschlagt.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/9312

3. Die Bundesregierung hat mit dem Unfallversicherungs-Modernisierungs-
gesetz einen Entwurf für eine Organisationsreform der gesetzlichen Unfall-
versicherung vorgelegt. Er wird zu einer Zentralisierung und damit einherge-
henden Stärkung der Berufsgenossenschaften und Unfallkassen führen. Der
Bundestag begrüßt den neuen Zuschnitt der gewerblichen Unfallversiche-
rungsträger von derzeit 25 auf neun Berufsgenossenschaften auf der Basis
des Konzeptes der Selbstverwaltung. In diesem Falle hat die Selbstverwal-
tung ihre Handlungsfähigkeit bewiesen.

Die Reduzierung der öffentlichen Unfallkassen fällt dagegen weniger ambi-
tioniert aus. Die Zahl der öffentlichen Unfallkassen muss auf weniger als
einen Träger pro Bundesland und für den Bund gesenkt werden. Der Bundes-
tag fordert die Bundesländer auf, ebenfalls ihren Beitrag zur Kostenreduzie-
rung durch Fusionen zu leisten. Dabei sollen – über den Vorschlag der Bun-
desregierung hinaus – zusätzliche Effizienzgewinne durch Fusionen der
Unfallkassen kleinerer Bundesländer erzielt werden.

Die Privatisierung ehemaliger Staatsunternehmen und kommunaler Unter-
nehmen führt zu einer unklaren Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen
öffentlichen Unfallkassen und gewerblichen Berufsgenossenschaften. Der
Plan der Bundesregierung, die privatisierten öffentlichen Unternehmen wei-
terhin den Unfallkassen zuzuordnen, führt zu Doppelstrukturen. Die privati-
sierten öffentlichen Unternehmen müssen künftig der Berufsgenossenschaft
ihrer jeweiligen Branche zugeordnet werden.

Der von der Bundesregierung vorgeschlagene Verteilungsmodus für die
Überaltlast zu 70 Prozent nach Entgelten und zu 30 Prozent nach Neurenten
stößt nicht auf eine ungeteilte Zustimmung innerhalb der Selbstverwaltung.
Die Selbstverwaltung der gewerblichen Berufsgenossenschaften hat ihre
Leistungs- und Entscheidungsfähigkeit bei der Durchsetzung von Fusionen
unter Beweis gestellt. Angesichts der Schwierigkeit, der Selbstverwaltung
gesetzliche Verteilungsvorgaben zu machen, sollte die Selbstverwaltung der
Unfallversicherungsträger in der Lage sein, ein Konzept für eine gerechte
Verteilung der Überaltlasten zu entwickeln.

Der Bundestag begrüßt die Einrichtung einer Nationalen Arbeitsschutz-
konferenz (NAK) und die Verpflichtung von Bund, Ländern und Unverfall-
versicherungsträgern, eine Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie
(GDA) zu entwickeln. Die Bundesregierung versäumt es jedoch, bei der
Neustrukturierung der Präventionsgremien die Sozialpartner zu integrieren
und die Zusammenarbeit von Krankenversicherungs- und Unfallversiche-
rungsträgern neu zu ordnen.

Der Bundesregierung ist es nicht gelungen, die Übertragung der Beitrags-
überwachung auf die Deutsche Rentenversicherung ohne zusätzliche Melde-
pflichten für die Unternehmen zu realisieren. Der Normenkontrollrat schätzt
die vermeidbaren Bürokratiekosten für die Unternehmen aufgrund der zu-
sätzlichen Informationspflichten auf 56 Mio. Euro. Weitere erhebliche zu-
sätzliche Verwaltungskosten sind bei den für die Beitragsmeldung vorge-
schalteten Krankenversicherungsträgern und für den Datenabgleich zwischen
Unfallversicherungsträgern und dem Rentenversicherungsträger zu erwarten.
Diese Kosten werden auf die Beiträge zur Unfallversicherung umgelegt und
belasten zusätzlich die Unternehmen. Der Bundestag folgt dem Vorschlag des
Bundesrates, die Selbstverwaltungen bis zum 31. Dezember 2010 zu ver-
pflichten, ein effizientes und unbürokratisches Verfahren zu finden, das den
Bedürfnissen der Arbeitgeber und der beteiligten Selbstverwaltungen glei-
chermaßen gerecht wird.

4. Der Bundestag begrüßt, dass die ursprünglich geplante und in Form eines

Arbeitsentwurfes vorgeschlagene Reform des Leistungsrechtes zunächst ge-

Drucksache 16/9312 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

stoppt wurde. Aufgrund der wenig durchdachten Pläne für einen System-
wechsel bei den Unfallrenten hätte die geplante Aufspaltung der bisherigen
Unfallrente in einen Erwerbschadens- und einen Gesundheitsschadensaus-
gleich zu Leistungseinschränkungen bei den Verletzten und Berufskranken
geführt und zugleich hohe Kosten produziert.

Mit der Konzentration auf eine Organisationsreform sind allerdings auch eine
Verbesserung des Leistungsrechtes bei der Anerkennungspraxis für Berufs-
krankheiten und eine stärkere Betonung des Präventionsauftrags der gesetz-
lichen Unfallversicherung in weite Ferne gerückt. Der Bundestag appelliert
deshalb an die Bundesregierung, unverzüglich eine Reform des Leistungs-
rechtes auf den Weg zu bringen, die dem Wandel von der Industrie- zur
Dienstleistungsgesellschaft Rechnung trägt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. eine Reform des Leistungsrechtes auf den Weg zu bringen, die dazu führt,
dass sich Leistungsempfänger einerseits und Berufsgenossenschaften sowie
Gutachter andererseits auf Augenhöhe gegenübertreten können. Zu erreichen
ist:

a) eine Stärkung der Informationsmacht der Versicherten durch die Einrich-
tung eines unabhängigen Beratungsdienstes in Form einer Informations-
hotline und einer Internetplattform. Außerdem ist eine Ombudsperson als
zentrale Stelle für Beschwerden zu berufen;

b) Änderungen im Verfahrensrecht, die die Rechte der Unfall- und Berufs-
kranken im Anerkennungsprozess stärken und sicherstellen, dass

– die Auswahl der Gutachter ausschließlich Qualitätskriterien folgt,

– der Gewerbearzt künftig eine zentralere Rolle als neutrale Instanz be-
kommt,

– die Versicherten das Recht erhalten, ihre Gutachter selbst auswählen zu
können;

2. die Verlagerung der Kosten von arbeitsbedingten Erkrankungen auf das Sys-
tem der gesetzlichen Krankenversicherung durch eine Stärkung der Präven-
tion und eine Überarbeitung des Berufskrankheitensystems zu begrenzen,
insbesondere durch:

a) Maßnahmen zur Beschleunigung des Verfahrens zur Feststellung von Be-
rufskrankheiten sowie zur Aufnahme neuer Krankheiten in die Berufs-
krankheitenliste;

b) Erleichterungen für Berufskranke in der Beweisführung, insbesondere
für die im Rahmen der Einzelfallprüfung nach § 9 Abs. 2 des Siebten
Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) beweisrechtlich restriktiv gehand-
habten Fälle. Die Gefährdungsbeurteilungen der Unternehmen bei den
Kausalitätsfeststellungen für Berufskrankenrenten sind stärker heranzu-
ziehen. Liegen keine dokumentierten Gefährdungsbeurteilungen nach
den §§ 5 und 6 des Arbeitsschutzgesetzes vor, sind Beweiserleichterun-
gen dergestalt einzuführen, dass in diesem Falle von einer krankmachen-
den Exposition ausgegangen werden muss;

c) die Förderung von „Arbeitsschutzpartnerschaften“ zur Unterstützung von
kleinen und mittleren Unternehmen;

d) eine Überarbeitung des Präventionsauftrags der gesetzlichen Unfallver-
sicherung: Der Anstieg psychischer Beeinträchtigungen und die arbeitsbe-

dingten Ursachen chronischer Krankheiten müssen zukünftig im Zentrum
der Präventionsarbeit stehen. Die Bundesregierung muss Anreize setzen,

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/9312

dass neben den versicherungsrelevanten Präventionsaufgaben (Berufsun-
fälle und Berufskrankheiten) auch die Reduzierung arbeitsbedingter Ge-
sundheitsgefahren in den Fokus der Präventionsaktivitäten der gesetzli-
chen Unfallversicherung gestellt werden;

e) eine Erweiterung der in der GDA formulierten Arbeitsschutzziele um
arbeitsbedingte psychische Erkrankungen als eigenständiges Ziel;

f) die Unfallversicherungsträger zu verpflichten, die Unternehmen bei der
Einführung eines „Disability Managements“, insbesondere bei dem seit
dem 1. Mai 2004 verpflichtend vorgeschriebenen betrieblichen Eingliede-
rungsmanagement gemäß § 84 Abs. 3 SGB IX zu unterstützen;

g) in Kooperation mit den Trägern der Krankenversicherung neue Anreizin-
strumente für Unternehmen zu entwickeln, um die betriebliche Gesund-
heitsförderung voranzutreiben. Ein solches Instrument könnte ein Bonus-
system für Unternehmen sein, die besondere präventive Maßnahmen
ergreifen. Diese könnten mit reduzierten Beiträgen zur Unfallversiche-
rung belohnt werden;

3. im Rahmen der organisatorischen Reform der Unfallversicherung:

a) mehr Effizienzsteigerungen bei den öffentlichen Unfallkassen anzustre-
ben – die privatisierten Staatsunternehmen und kommunalen Unternehmen
sind künftig den gewerblichen Berufsgenossenschaften zuzuordnen, die
der gleichen Branche zuzurechnen sind –; die Zahl der öffentlichen Un-
fallkassen durch eine Fusion der Kassen kleinerer Bundesländer weiter zu
reduzieren;

b) bei der Verteilung der Überaltlast sicherzustellen, dass das Prinzip risiko-
gerechter Beiträge weiterhin gewahrt bleibt. Darüber hinaus soll es der
Selbstverwaltung der Unfallversicherungsträger zu überlassen sein, ein
Konzept für eine gerechte Verteilung der Überaltlasten zu entwickeln;

c) die Krankenkassen mit in die Entwicklung der Gemeinsamen Arbeits-
schutzstrategie auf der Ebene der Nationalen Arbeitsschutzkonferenz ein-
zubeziehen und der Bedeutung der Selbstverwaltung in der gesetzlichen
Unfallversicherung dadurch Rechnung zu tragen, dass die Sozialpartner
nicht nur als beratendes Mitglied, sondern mit Sitz und Stimme vertreten
sind;

d) den Vorrang des staatlichen Arbeitsschutzrechtes nur dann gesetzlich fest-
zuschreiben, wenn sichergestellt ist, dass die Bundesländer ihre Ämter für
den staatlichen Arbeitsschutz so ausstatten, dass sie die ihnen anvertrauten
Aufgaben in quantitativer und qualitativer Hinsicht erfüllen können;

e) die Selbstverwaltungen bis zum 31. Dezember 2010 zu verpflichten, ein
effizientes und unbürokratisches Verfahren zu finden, das den Bedürfnis-
sen der Arbeitsgeber und der beteiligten Selbstverwaltungen gleicher-
maßen gerecht wird.

Berlin, den 28. Mai 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Drucksache 16/9312 – 6 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Begründung

1. Mit der Konzentration auf eine Organisationsreform hat die Bundesregierung
die Chance verpasst, das Leistungsrecht und die Präventionsstrukturen an die
Erfordernisse der Dienstleistungsgesellschaft anzupassen. Um eine Verlage-
rung der Kosten arbeitsbedingter Krankheiten auf die gesetzliche Kranken-
versicherung zu vermeiden, müssen sowohl das Berufskrankheitenrecht als
auch die Prävention gestärkt werden.

Im Jahr 2006 hat sich ausweislich des aktuellen Berichtes der Bundesregie-
rung über den Stand von Berufskrankheiten und Arbeitsunfällen die Diskre-
panz zwischen den von den Ärzten angezeigten Verdachtsfällen für eine
Berufskrankheit und den tatsächlichen anerkannten Berufskrankheiten wei-
terhin verschärft. Zwar sind die angezeigten Berufskrankheiten wie in den
Jahren zuvor gestiegen. Im Jahr 2006 stieg die Zahl um 2,6 Prozent gegen-
über dem Vorjahr. Von 64 182 Anzeigen auf Verdacht einer Berufskrankheit
sind lediglich 14 732 anerkannt, 1 787 Fälle weniger als im Jahr 2005. Davon
wurden 4 940 Fälle als Berufskrankheit entschädigt. Das sind 14 Prozent we-
niger als im Jahr zuvor. Die Quote für Entschädigungen lag im Berichtsjahr
bei nur rund 8 Prozent.

Die Tatsache, dass nicht jede anerkannte Berufskrankheit auch entschädigt
wird, ist auch darauf zurückzuführen, dass eine Verletztenrente erst dann ge-
währt wird, wenn die „Minderung der Erwerbsfähigkeit“ (MdE) mindestens
20 Prozent beträgt. Ein zentraler Grund für die Schere zwischen den anzeig-
ten und entschädigten Berufskrankheiten ist jedoch das Berufskrankheiten-
recht. Es wirkt wie ein starker Filter. Bei den Ermittlungsverfahren treten oft
Mängel auf. So werden z. B. die Arbeitsbedingungen und die aufgetretenen
gesundheitsgefährdenden Belastungen nur unzureichend ermittelt oder von
den Unternehmen entgegen den Bestimmungen im Arbeitsschutzgesetz nicht
hinreichend dokumentiert.

Berufskrankheiten entwickeln sich häufig über Jahrzehnte hinweg. Oft wer-
den sie den Berufsgenossenschaften gar nicht angezeigt, weil das Wissen
über Zusammenhänge zwischen bestimmten Erkrankungen und beruflichen
Einflüssen häufig gar nicht vorhanden ist. Zudem liegt die Beweislast beim
Erkrankten selbst: Nachgewiesen werden muss immer, dass die schädigende
Einwirkung im Beruf erfolgt ist und sich nicht im außerberuflichen Bereich
ereignet hat. Außerdem muss die Gesundheitsstörung mit Wahrscheinlichkeit
auf die besonderen beruflichen Belastungen zurückgeführt werden können,
d. h. es muss mehr dafür als dagegen sprechen. Die Beweislast liegt dabei
ganz wesentlich beim Beschäftigten selbst und nicht beim Arbeitgeber bzw.
der Berufsgenossenschaft, um eine arbeitsunabhängige Krankheitsursache
nachzuweisen. Dies gilt insbesondere für die Krankheiten, die noch nicht in
die Berufskrankheitenliste aufgenommen sind, aber grundsätzlich die Krite-
rien einer Berufskrankheit erfüllen. In diesen Fällen obliegt es den Geschä-
digten im Rahmen der Einzelfallprüfung nach § 9 Abs. 2 SGB VII, den in der
Praxis der sehr schwierigen (wissenschaftlichen) Nachweis zu führen, dass
die Krankheit eine solche im Sinne der Berufskrankheitenliste ist.

Die im Arbeitsschutzgesetz vorgeschriebene Dokumentation der Gefähr-
dungslage wird im Besonderen durch kleine Unternehmen vernachlässigt, da
diese mit der aufwändigen Erstellung oftmals überfordert sind. Psychische
Gefährdungen sind ebenfalls zu dokumentieren. Auch dies wird häufig nicht
in die Tat umgesetzt. Zur Entlastung kleinerer und mittlerer Unternehmen
von Präventionsaufgaben können Arbeitsschutzpartnerschaften beitragen.
Nicht erstellte Gefährdungsdokumentationen erschweren erheblich die Be-
weislast der versicherten Arbeitnehmer bei der Erlangung von Entschädi-

gungsleistungen. Um einen Anreiz zur Dokumentation zu geben und zum

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/9312

Schutz der Beschäftigten sind deshalb Beweislasterleichterungen bei Verstö-
ßen gegen die Dokumentationspflicht einzuführen.

Arbeitsbedingte Erkrankungen, die häufig auch auf psychosoziale Faktoren
zurückzuführen sind, sind zwar Gegenstand des Präventionsauftrags an die
Unfallversicherungsträger. Da sie nicht entschädigungsrelevant sind, werden
sie oftmals nicht mit der nötigen Priorität verfolgt. Die Ausgaben der Unfall-
versicherungsträger für Prävention sind trotz Preissteigerungen seit 2002
leicht rückläufig. Auf der Grundlage einer Analyse des BKK-Teams Gesund-
heit im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin
(Bödeker u. a. 2003; Bödeker u. a. 2004) ist von rund 40 Mrd. Euro für
Kosten für arbeitsbedingte Erkrankungen auszugehen, die sich vor allem in
Behandlungskosten und Frühinvalidität sowie Produktionsverlusten aus-
drücken. Diese Kosten werden von den Unternehmen weitgehend auf die
Sozialkassen abgewälzt. Vorenthaltene Prävention kommt die Gesellschaft
teuer zu stehen!

Um die Sozialisierung dieser von den Unternehmen verursachten Kosten zu
verhindern, müssen außerdem die Verfahrensrechte der Betroffenen gestärkt
werden. Durch die Konzentration auf eine Organisationsreform stellt die
Bundesregierung wichtige Reformansätze zurück. So war z. B. im Arbeits-
entwurf zum leistungsrechtlichen Teil von der Bundesregierung eine Ände-
rung des § 200 SGB VII dahingehend vorgesehen, dass der Versicherte dem
Unfallversicherungsträger auch andere Gutachter benennen können soll.

Ausweislich des Berichtes „Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz in
Deutschland“ des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psycho-
logen vom April 2008 ist der Anteil psychischer Erkrankungen und Verhal-
tensstörungen im Bereich arbeitsbedingter Erkrankungen von 6,6 Prozent im
Jahr 2001 auf 10,5 Prozent im Jahr 2005 drastisch gestiegen. Gleichwohl hat
die Arbeits- und Sozialministerkonferenz im November 2007 die Verringe-
rung psychischer Krankheiten nicht als prioritäres Ziel festgelegt. Von den
drei Arbeitsschutzzielen und Handlungsfeldern, die für den Zeitraum 2008
bis 2012 im GDA festgelegt wurden, ist die Verringerung von psychischen
Fehlbelastungen lediglich ein Faktor der Prävention in den Schwerpunkt-
bereichen Logistik, Zeitarbeit, Gesundheitsdienste etc. Sie wird jedoch nicht
als eigenständiges Arbeitsschutzziel benannt. Damit wird der zunehmenden
Bedeutung psychosozialer Faktoren insbesondere im Dienstleistungssektor
nicht entsprochen.

2. Im Rahmen der Organisationsreform könnten bessere Effizienzsteigerungen
erzielt und die Unternehmen zugleich weniger belastet werden.

Die Zahl der öffentlichen Unfallversicherungsträger soll auf einen Träger pro
Land gesenkt werden. Auch der Bund strebt einen Träger an, so dass künftig
mit 17 Unfallkassen zu rechnen ist. Inzwischen zeichnet sich bereits ab, dass
nicht alle Länder der Fusionsempfehlung des Bundes folgen werden. Die
derzeitige Zuordnung von privatisierten öffentlichen Unternehmen an die
Unfallkassen soll belassen werden (Moratoriumslösung). Der Bund lässt
offen, ob und wann er eine Zuordnung von Post, Telekom, Bahn zu den ge-
werblichen Berufsgenossenschaften realisieren wird.

Bei dieser Lösung haben offensichtlich die Länder ihre Interessen durchge-
setzt. Auch kleinere Bundesländer bekommen unabhängig von Wirtschaft-
lichkeitsaspekten jeweils eine Unfallkasse zugeordnet. Von den Bemühungen
der Bundesregierung und der Länder, den Unfallversicherungsträgern durch
Fusionen zu einer effizienteren Struktur zu verhelfen, sind öffentliche Be-
triebe ausgenommen: Privatisierte kommunale Unternehmen sind nach wie
vor in der Zuständigkeit der vergleichsweise kostengünstigen Unfallver-

Drucksache 16/9312 – 8 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

sicherungsträger der öffentlichen Hand. Derartige Doppelstrukturen sollten
jedoch unter Effizienzaspekten vermieden werden.

Im Gesetzentwurf der Bundesregierung werden die Meldepflichten des Ar-
beitgebers im Rahmen der Einzugsverfahren zum Gesamtsozialversiche-
rungsbeitrag erweitert. Die Bundesregierung ist damit den Wünschen der
Rentenversicherung nachgekommen, die anders als die Unfallversicherungs-
träger die Beiträge nicht unternehmensbezogen (Lohnsumme), sondern bezo-
gen auf den einzelnen Arbeitnehmer erfasst. Diese zusätzlichen Meldepflich-
ten sind mit zusätzlichen Kosten für die Unternehmen und die beteiligten Trä-
ger im Rahmen der Meldung zum Gesamtsozialversicherungsbeitrag
verbunden, die wiederum von der gesetzlichen Unfallversicherung finanziert
werden müssen. Nach Auskunft des Nationalen Normenkontrollrates in der
Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am 13. Februar 2008 entste-
hen aufgrund der zusätzlichen Meldepflichten den Unternehmen vermeidbare
Kosten von 56 Mio. Euro. Die beträchtlichen – noch nicht bezifferbaren – zu-
sätzlichen Kosten für An-, Ab- und Ummeldungen bei den Trägern der Kran-
kenversicherung, Renten- und Unfallversicherung sind in dieser Kalkulation
nicht enthalten. Der Bundesrat hat deshalb zu Recht vorgeschlagen, die
Selbstverwaltungen zu verpflichten, ein effizientes und unbürokratisches
Verfahren zu finden, das den Bedürfnissen der Arbeitgeber und der Selbstver-
waltungen gleichermaßen gerecht wird.

3. Die Verteilungswirkungen des von der Bundesregierung vorgeschlagenen
Lastenausgleichs für die sog. Überaltlast sind problematisch. Die Überaltlas-
ten einzelner Branchen sollen auf alle Branchen der gewerblichen Unfallver-
sicherungsträger verteilt werden, und zwar im Verhältnis 70 Prozent der Ent-
gelte (Lohnsummen) zu 30 Prozent der Neurenten. Dieser Verteilungsmodus
stößt auf Kritik der Verwaltungsberufsgenossenschaft und der Unterneh-
mensverbände aus dem Dienstleistungs- und Handelsbereich, die branchen-
gemäß hohe Lohnsummen, aber vergleichsweise wenig Berufsrisiken und
entsprechend wenig Neurenten zu verzeichnen haben. Damit einher geht die
Forderung bei der Verteilung der Altlasten nicht auf die Lohnsumme, sondern
nur auf die Gefährdung einer Branche (Neurenten) abzustellen.

Es ist nachzuvollziehen, dass durch das gewählte Umlageverfahren die oben
genannten Branchen überproportional für die Altlasten anderer Branchen
herangezogen werden. Dies liegt u. a. an der sehr heterogenen Struktur und
den unterschiedlichen Gefährdungspotenzialen einzelner Branchen. Entspre-
chend unterschiedlich ist auch die Kritik am Verteilungsmodus. Während die
Verwaltungs- und Dienstleistungsbranche eine Verteilung zu 100 Prozent der
Neurenten fordert, besteht die besonders vom wirtschaftlichen Struktur-
wandel betroffene Bauberufsgenossenschaft dagegen auf eine Verteilung zu
100 Prozent der Lohnsumme.

Der Berechnungsmodus für die Ermittlung der Überaltlast ist von der Selbst-
verwaltung selbst entwickelt worden und wird von den Branchen weitgehend
akzeptiert. Der Verteilungsmodus für diese Überaltlast entspricht jedoch eher
dem Solidarprinzip als dem Verursacherprinzip. Da die gesetzliche Unfall-
versicherung die Unternehmen von ihrer individuellen Haftpflicht freistellt,
müssen sich der Verteilungsmodus am Verursacherprinzip orientieren und
der Grundsatz risikogerechter Beiträge gewahrt bleiben. Dieser Grundsatz
könnte mit der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales vorgeschla-
genen Verteilungsformel verletzt werden. Die einfache Formel „Lohnsumme
im Verhältnis zu Neurenten“ scheint der Komplexität des Problems nicht an-
gemessen zu sein.

Angesichts der Schwierigkeit, der Selbstverwaltung von Staats wegen Vertei-

lungsvorgaben zu machen, sollte es der Selbstverwaltung der Unfallversiche-
rungsträger – die im Rahmen der Fusionsverhandlungen ihre Leistungsfähig-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 9 – Drucksache 16/9312

keit bewiesen hat – überlassen sein, ein Konzept für eine gerechte Verteilung
der Überaltlasten zu entwickeln. Diese kann mit ihrer Branchenkenntnis am
ehesten beurteilen, welche Verteilungsmodalitäten zu berücksichtigen sind,
damit das Risikoprinzip gewahrt bleibt. Eine zentrale bundesgesetzliche Vor-
gabe birgt die Gefahr, dass sich aufgrund der heterogenen Struktur der Träger
der gesetzlichen Unfallversicherung Fehlsteuerungen ergeben. Damit würde
das Verursacherprinzip durch das Solidarprinzip zurückgedrängt.

4. Bund, Länder und Unfallversicherungsträger sollen dazu verpflichtet werden,
eine gemeinsame Arbeitsschutzstrategie zu entwickeln. Hierzu soll eine
Nationale Arbeitsschutzkonferenz eingerichtet werden. Die Träger der
gesetzlichen Krankenversicherung werden hieran nicht beteiligt. Dies ist
insofern problematisch, als mit Inkrafttreten des GKV-Wettbewerbsstär-
kungsgesetzes (GKV-WSG) die betriebliche Gesundheitsförderung – die bis-
her eine den Arbeitsschutz ergänzende Kann-Leistung war – seit April 2007
eine Pflichtleistung der Krankenkassen ist, die gleichberechtigt neben der
Prävention durch die gesetzliche Unfallversicherung steht. Deshalb ist die
Zusammenarbeit beider Träger auf betrieblicher Ebene neu zu ordnen. Die
Krankenkassen sollten deshalb mit in die Entwicklung der GDA auf der
Ebene der NAK einbezogen werden. Außerdem sollte der Bedeutung der
Selbstverwaltung in der gesetzlichen Unfallversicherung Rechnung getragen
werden und die Sozialpartner nicht nur als beratendes Mitglied, sondern mit
Sitz und Stimme vertreten sein.

Zudem sollte auf immer knapper werdende Personalressourcen für den staat-
lichen Arbeitschutz nicht nur mit verstärkter Kooperation reagiert werden.
Ausweislich des Berichtes der Bundesregierung über den Stand von Sicher-
heit und Gesundheit bei der Arbeit (Bundestagsdrucksache 16/7704) haben
die Länder ihre Betriebsbesichtungen in der Zeit von 2004 bis 2006 von
449 337 auf 370 479 reduziert. Entsprechend wurde innerhalb des gleichen
Zeitraumes das Gewerbeaufsichtspersonal von 4 103 Beschäftigten auf 3 521
und die Zahl der Ärzte von 133 auf 110 verringert. Die Länder haben ihre
Ämter für den staatlichen Arbeitsschutz so auszustatten, dass sie die ihnen
anvertrauten Aufgaben in quantitativer und qualitativer Hinsicht erfüllen
können. Nur unter diesen Bedingungen sind die Pläne der Bundesregierung
gerechtfertigt, den Vorrang des staatlichen Arbeitsschutzrechtes festzuschrei-
ben und den Rechtsetzungsauftrag der Unfallversicherungsträger auf ein
unabdingbar notwendiges Maß zurückzuführen.

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.