BT-Drucksache 16/9263

Auslagerung und Privatisierung von Aufgaben im Bereich der Justiz im Rahmen eines Justizzentrums

Vom 23. Mai 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9263
16. Wahlperiode 23. 05. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jörn Wunderlich, Wolfgang Neskovic
und der Fraktion DIE LINKE.

Auslagerung und Privatisierung von Aufgaben im Bereich der Justiz im Rahmen
eines Justizzentrums

In Chemnitz soll ein Justizzentrum entstehen, dessen Betriebsaufnahme für den
1. Januar 2009 geplant ist. Der Freistaat Sachsen hat am 7. September 2006 der
Firma Bilfinger Berger AG den Zuschlag erteilt und startet damit bundesweit
eines der ersten ÖPP-Projekte auf Landesebene.

Im Rahmen des Betreibermodells einer Öffentlich Privaten Partnerschaft (ÖPP)
soll auf dem „Kaßberg“ in der Chemnitzer Innenstadt der Sitz des Amtsgerichts
und der Staatsanwaltschaft Chemnitz entstehen. Das ÖPP-Projekt umfasst die
Planung, den Bau, die Finanzierung, den Betrieb und die Unterhaltung des Jus-
tizzentrums (ca. 10 800 qm Nutzfläche, 475 Beschäftigte) durch den Auftrag-
nehmer. Die Laufzeit beträgt zunächst 20 Jahre. Der Freistaat hat in dieser Zeit
Kosten in Höhe von 135,2 Mio. Euro zu tragen.

In der Antwort auf die Große Anfrage der Linksfraktion.PDS (Landtagsdruck-
sache 4/8700) führt die Sächsische Staatsregierung aus, dass eine Auslagerung
von diversen Aufgabenbereichen des einfachen Dienstes auf Strukturen des
ÖPP-Partners, des Baukonzerns Bilfinger Berger AG mit seinen Tochtergesell-
schaften, geplant sei. Dazu gehörten u. a. Wachdienste, Aufgaben der Poststelle,
Aktentransporte, Mitarbeit bei der Aktenaussonderung, Botendienste, Archiv-
und Kopierarbeiten. Der zuständige Referatsleiter beim Sächsischen Daten-
schutzbeauftragten, Bernhard Bannasch, hat nach Presseangaben (Freie Presse
vom 26. Mai 2007) das Justiz- und Finanzministerium zu einer Stellungnahme
aufgefordert, wie die Berücksichtigung der Belange des Datenschutzes sicher-
gestellt werden soll. Problematisch sei, dass in den Bereichen Poststelle, Boten-
dienst und Aktentransport nahezu zwangsläufig Kenntnisnahme von Inhalten
der Akten aus Gerichtsverfahren erfolge. Der Umgang mit derartigen personen-
bezogenen Informationen stelle besondere Anforderungen an das eingesetzte
Personal. Nach Presseangaben (a. a. O.) ist der private Betreiber laut Justiz-
ministerium vertraglich verpflichtet, seine Beschäftigten ausreichend zu schulen
und zu qualifizieren. Dafür seien ihm unter anderem Rahmenstoffpläne über die
Ausbildung von Justizwachtmeistern zur Verfügung gestellt worden. Der Dienst-
leister habe, so weiter (a. a. O.) sein Personal auf die Wahrung der Interessen der

Behörde zu verpflichten.

Es steht zu befürchten, dass eine Durchführung öffentlicher Aufgaben, die wie
hier nach Einschätzung der Sächsischen Landesregierung im nicht hoheitlichen
Bereich liegen, nicht mit der erforderlichen Zuverlässigkeit und Effektivität
erfolgen könnte. Neben Fragen des Weisungsrechts und der Aufrechterhaltung
der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Bereich des Justizzentrums durch
die privaten Angestellten des ÖPP-Partners Bilfinger Berger AG (bzw. dessen

Drucksache 16/9263 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Tochterunternehmen) stellt sich insbesondere die Frage, wie datenschutzrecht-
liche Belange gewährleistet werden können.

Bundesstaatliche Relevanz erhält die Problematik vor dem Hintergrund, dass
das Projekt in Sachsen als Pilotprojekt bezeichnet wird. Die Bundesregierung
hat das genannte Projekt in ihren Erfahrungsbericht „Öffentlich-Private-Partner-
schaften in Deutschland“ aufgenommen. Auf Bundesebene wird danach durch
das Kompetenzzentrum beim Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadt-
entwicklung (BMVBS) die allgemeine Koordinierung von ÖPP-Projekten vor-
genommen. Auch wenn es sich bei dem konkreten Projekt um ein Modell auf
Landesebene handelt, wird dies doch als allgemeines Pilotprojekt bezeichnet. In
anderen Bundesländern sind ähnliche Projekte zu erwarten oder bereits in der
Umsetzungsplanung. Dem Bund obliegt im Bereich der konkurrierenden Ge-
setzgebung die Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens, vgl. Artikel 74
Abs. 1 Nr. 1 des Grundgesetzes, von der er weitgehend Gebrauch gemacht hat.
Es ist erforderlich, die Privatisierungstendenzen, die auf Länderebene im
Bereich der Justiz verfolgt werden, intensiv zu beobachten und mögliche Aus-
wirkungen auf die Gewährleistung eines ordnungsgemäßen gerichtlichen Ver-
fahrens und einer einheitlichen Handhabung der Bundesgesetze im Auge zu be-
halten. Aus diesem Grund ist die Bundesregierung zu ihren Erkenntnissen und
zu ihrer Einschätzung der Auswirkungen der nachfolgend kurz geschilderten
Zusammenarbeit mit Privaten im Rahmen von ÖPP-Projekten anhand des kon-
kreten Falles zu befragen.

Die Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries, äußerte in einer Rede bei der
Gewerkschaftspolitischen Arbeitstagung des dbb beamtenbund und tarifunion
am 8. Januar 2008 in Köln (http://www.bmj.bund.de): „Wenn es etwa um Justiz
oder Polizei geht, gehören Gewährleistungs- und Erfüllungsverantwortung zu-
sammen. Hier bleibt für Privatisierungen wenig Raum.“ Weiter führte sie aus:
„Der Staat muss sicherstellen, dass Grundrechte, Daten, Verbraucher oder Ju-
gendliche geschützt werden.“

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Handelt es sich nach Auffassung der Bundesregierung bei folgenden Auf-
gaben um die Erfüllung nichthoheitlicher Aufgaben (bitte begründen):

a) Wachdienste an der Pforte und im Gebäude, Sicherheitsdienst, Ordnungs-
dienst, Betrieb der Eingangsschleuse, Überwachung des Eingangsbe-
reichs, sonstige Tätigkeiten zur Aufrechterhaltung von Ruhe, Ordnung
und Sicherheit,

b) Entgegennahme und direkte Weiterleitung von persönlich übergebener
Post an die Posteinlaufstelle,

c) Bearbeitung des Posteingangs (Eingangsstempel),

d) Leerung des Briefkastens und Nachtbriefkastens,

e) Posttransporte,

f) Aktentransport zu benachbarten Behörden und innerhalb der Dienst-
gebäude,

g) Überwachung des Aushangs an der Gerichtstafel, Aushängen und Abneh-
men öffentlicher Aushänge und Bekanntmachungen,

h) Mitarbeit bei der Aktenaussonderung, Mitarbeit beim Führen der Alt-
aktenregistratur (außer Aufgaben des mittleren Dienstes),

i) Kopierarbeiten,
j) Hauskontrolle (Rundgang, Videoüberwachung)?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/9263

2. Hält die Bundesregierung die Übertragung der einzelnen, unter den Fragen
1a bis 1j genannten Aufgaben an Private jeweils grundsätzlich für zulässig,
und wenn ja, unter welchen Bedingungen?

Falls nein, warum nicht (bitte gesondert nach 1a bis 1j darstellen und be-
gründen)?

3. Ist bei der Ausübung des Hausrechts im Bereich des Sicherheits- und Ord-
nungsdienstes und bei sonstigen Tätigkeiten zur Aufrechterhaltung von
Ruhe, Ordnung und Sicherheit durch Private auf Veranlassung der Justiz-
verwaltung nach Ansicht der Bundesregierung durch die getroffenen Ver-
einbarungen ausreichend gewährleistet, dass die Rechte der Betroffenen
gewahrt sind (bitte begründen)?

4. Ist hier ausreichend dafür Sorge getragen, dass die Wahrnehmung des Haus-
rechts nur in Übereinstimmung mit den Weisungen des Hausrechtsinhabers
ausgeführt wird (bitte begründen)?

5. Sind vertragliche Verpflichtungen des privaten Vertragspartners ausrei-
chend, um die bisher aufgrund von Weisungen durchgesetzte Ordnung und
Sicherheit in Gerichtsgebäuden zu erhalten und damit die Funktionsfähig-
keit der Gerichte zu gewährleisten?

Falls ja, warum?

Falls nein, warum nicht?

6. Ist nach Auffassung der Bundesregierung die vertragliche Verpflichtung des
privaten Betreibers ausreichend, um eine Gleichbehandlung von Bürgerin-
nen und Bürgern zu gewährleisten (bitte begründen)?

7. Ist es nach Auffassung der Bundesregierung ausreichend, die Einhaltung
eines rechtmäßigen und sorgfältigen Umgangs mit Akten vertraglich zu
regeln (bitte begründen)?

8. Ist es nach Auffassung der Bundesregierung für die Wahrung der Belange
des Datenschutzes ausreichend, wenn der private Dienstleister sein Per-
sonal auf die Wahrung der Behördeninteressen verpflichtet, also insbeson-
dere zur Verschwiegenheit über alle Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse?

Falls ja, warum?

Falls nein, warum nicht?

9. Sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit, bei Übertragung von Auf-
gaben im Bereich des Umgangs mit behördlichen Akten an Private, diese
Tätigkeiten insbesondere datenschutzrechtlich gesetzlich explizit zu regeln?

Falls ja, welche Regelungen wären erforderlich, um einen geordneten und
datenschutzkonformen Umgang zu gewährleisten?

10. Ist es nach Auffassung der Bundesregierung vertretbar, wenn kein direktes
Weisungsrecht und keine Dienstaufsicht gegenüber den Personen besteht,
die im Auftrag des Gerichts bestimmte Aufgaben (wie z. B. Aktentransport,
Poststelle) erfüllen (bitte begründen)?

11. Hält die Bundesregierung die Übertragung der unter Frage 1 aufgeführten
einzelnen Aufgaben in Form eines einfachen Vertrages vor dem Hinter-
grund, dass für gerichtliche Prozesse oder Ermittlungsverfahren erforder-
liche Akten, Klageschriften o. Ä. eventuell durch die Folgen einer unsach-
gemäßen Personalauswahl des privaten Betreibers verloren gehen könnten,
für angemessen (bitte begründen)?

Drucksache 16/9263 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
12. Welche Erfahrungen hat die Bundesregierung mit ÖPP-Projekten im Be-
reich der Justiz bisher gewonnen und wie bewertet sie diese (bitte detailliert
ausführen)?

Berlin, den 20. Mai 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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