BT-Drucksache 16/9143

Keine Abschiebungen in das Kosovo

Vom 8. Mai 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9143
16. Wahlperiode 08. 05. 2008

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Wolfgang Neskovic, Monika Knoche, Sevim
Dag˘delen, Jan Korte, Michael Leutert, Kersten Naumann, Petra Pau und der
Fraktion DIE LINKE.

Keine Abschiebungen in das Kosovo

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich gegenüber den Bundesländern für eine Aussetzung der Abschiebungen
von Flüchtlingen aus dem Kosovo gemäß § 60a Abs. 1 des Aufenthaltsge-
setzes (AufenthG) einzusetzen;

2. den Bundesminister des Innern zu beauftragen, sein Einverständnis gegen-
über den Bundesländern für eine Aufenthaltsgewährung aus humanitären
Gründen nach § 23 Abs. 1 AufenthG für Mitglieder nationaler Minderheiten
und andere schutzbedürftige Personen aus dem Kosovo zu erklären und sich
für eine entsprechende Regelung einzusetzen;

3. das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge anzuweisen, gewährte Asyl-
bzw. Flüchtlingsanerkennungen von Flüchtlingen aus dem Kosovo nicht zu
widerrufen und laufende Widerrufsverfahren einzustellen.

Berlin, den 7. Mai 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Die serbische Provinz Kosovo hat am 17. Februar 2008 ihre staatliche Unab-
hängigkeit erklärt. Die Bundesrepublik Deutschland hat, wie eine Reihe weite-
rer Staaten, diese Unabhängigkeit innerhalb kurzer Zeit anerkannt. Von allen
am Prozess der Staatsgründung beteiligten Akteuren wurde immer das Ziel aus-
gegeben, im Kosovo eine multiethnische und demokratische Gesellschaft auf-
bauen zu wollen. Doch die bisherige Bilanz fällt leider ernüchternd aus.
Ein Vorfall im März 2004 trat dabei besonders in den Fokus der Öffentlichkeit.
Ausschreitungen gegen die serbische Minderheit führten zu zahlreichen Toten
und Verletzten, Tausende wurden vertrieben, viele serbisch-orthodoxe Kirchen
wurden zerstört – ohne dass die anwesenden KFOR-Truppen dies verhindert
hätten.

Drucksache 16/9143 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Nach Ansicht unterschiedlicher Beobachter bestehen im Kosovo weiterhin
keine Institutionen, die den Schutz von Minderheiten effektiv gewährleisten
können. Der UN-Sondergesandte Kai Ede (Bericht an den UN-Sicherheitsrat
2005, UN-Sicherheitsratsdokument S/2005/635), das UN-Menschenrechtsko-
mitee (Sitzung 2006), die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch
(Weltreport 2007) berichten übereinstimmend: Polizei und Justiz sind die
schwächsten Institutionen innerhalb des Kosovo, und Familien- und Clanstruk-
turen, die Einschüchterung von Zeugen, Polizei- und Justizbediensteten be-
hinderten massiv die Durchsetzung des Rechts. Eine Strafverfolgung bei inter-
ethnischen Straftaten ist demnach geradezu unmöglich. Eine Aussöhnung wird
auch dadurch behindert, dass die von albanischer Seite begangenen Kriegsver-
brechen unaufgeklärt und ungesühnt bleiben.

Zur Frage der weiterhin bedrohten Minderheiten stellt der genannte Bericht von
Human Rights Watch fest, dass Roma, Ashkali und „Ägypter“ die am stärksten
verwundbaren Gruppen im Kosovo sind. Gleiches gelte für Albaner in jenen
Siedlungsgegenden, in denen sie die Minderheit stellen. Pro Asyl wies zuletzt
in einer Pressemitteilung vom 20. Februar 2008 darauf hin, dass „zur Zeit un-
kalkulierbar“ ist, „ob der neue Staat stabil und zum Schutz der Minderheiten
willens und in der Lage ist“.

Neben der weiterhin prekären Sicherheitslage gilt es im Hinblick auf den Um-
gang mit in der Bundesrepublik Deutschland (ausreisepflichtig) lebenden
Flüchtlingen aus dem Kosovo zu bedenken, dass die ökonomischen Zustände
im Kosovo weiterhin desaströs sind. Die Beschäftigungsrate liegt bei einem
Drittel bis der Hälfte der arbeitsfähigen Bevölkerung, in den von Minderheiten
bewohnten Gebieten sogar noch darunter.

Sorge bereitet vor diesem Hintergrund, dass nun die neue Regierung des Ko-
sovo für die Aufnahme der (ehemals) serbischen, aus dem Kosovo stammenden
Staatsangehörigen aus dem Ausland zuständig sein wird. Die United Nations
Interim Administration Mission in Kosovo (UNMIK), unter deren Regie dieser
Aufgabenbereich bisher stand, hatte zumindest kritische Aufnahmeprüfungen
vorgenommen und im Einzelfall auch Abgeschobene zurückgewiesen. Dafür
war sie von deutschen Innenpolitikern hart kritisiert worden, die der UNMIK
sogar Mittelkürzungen androhten (DER SPIEGEL 51/2005, S. 38, „Wut vor
Stil“). Aufgrund dieser Erfahrungen ist zu befürchten, dass die Bundesländer
die einseitig erklärte Unabhängigkeit für verstärkte Abschiebebemühungen
nutzen werden, da die neue Regierung im Kosovo dem deutschen Druck, die
„eigenen“ Staatsangehörigen zurückzunehmen, eher nachgeben wird als bis-
lang die UNMIK. Demgegenüber wäre jedoch gerade angesichts der unsiche-
ren Lage im Kosovo und der ungewissen zukünftigen Entwicklung ein Verzicht
auf Abschiebungen erforderlich.

Zirka 38 000 Personen in Deutschland sind Roma, Ashkali oder „Ägypter“ aus
dem Kosovo. Viele von ihnen leben lediglich mit einer Duldung in Deutsch-
land, weil sie wegen des Zeitpunktes ihrer Flucht oder aus anderen Gründen
nicht unter die Altfallregelung nach § 104 AufenthG fallen (s. a. Neues Deutsch-
land vom 6. März 2008, „Ungewissheit bei Kosovaren in Berlin“). Würden sie
zurückkehren müssen oder abgeschoben werden, befänden sie sich nicht nur als
Minderheitenangehörige in einer völlig unsicheren Situation, auch die ohnehin
labilen Verhältnisse und die angespannte Versorgungslage im Kosovo würden
sich noch einmal verschärfen.

Eine dauerhafte Bleiberechtsregelung insbesondere für Roma aus dem Kosovo
ist auch vor dem Hintergrund der Ermordung von 500 000 Sinti und Roma im
Holocaust und der daraus erwachsenen historischen Verantwortung Deutsch-
lands zu begründen. Vorbild könnte die Aufnahmeregelung für jüdische Flücht-

linge aus der ehemaligen Sowjetunion sein, die vor dem Hintergrund der Ver-
brechen des Holocaust eine Wiederansiedlung und Förderung jüdischen Lebens

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/9143

in Deutschland ermöglichen sollte. In Bezug auf Roma aus dem Kosovo ginge
es nicht einmal um die (Neu-)Aufnahme und den Zuzug von Menschen, son-
dern lediglich um den Verzicht auf Abschiebungen und die aufenthaltsrechtli-
che Absicherung von Roma, die seit Jahren in Deutschland leben und die durch
Abschiebungen in eine völlig unsichere Lebenssituation in einer gesellschaftli-
chen Randlage geschickt würden. In diesem Zusammenhang ist an die am
5. März 2007 im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus veranstaltete Konferenz unter
der Schirmherrschaft der Kinderkommission des Deutschen Bundestages und
des UN-Kinderhilfswerks UNICEF zum Thema „Roma-Kinder in Europa“ zu
erinnern. Dabei vorgestellte Studien machten deutlich, dass Roma-Familien in
Südosteuropa häufig in Ghettos und Slums leben müssen und umfassend dis-
kriminiert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Roma-Kinder
leiden dort überdurchschnittlich häufig an Untergewicht, ernährungsbedingtem
Kleinwuchs und Krankheiten, und vom Gesundheits-, Sozial- und Bildungssys-
tem sind viele Roma faktisch ausgeschlossen.

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