BT-Drucksache 16/9051

Vollzug der Sicherungsverwahrung

Vom 5. Mai 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9051
16. Wahlperiode 05. 05. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Wolfgang Neskovic, Ulla Jelpke, Jan Korte, Petra Pau
und der Fraktion DIE LINKE.

Vollzug der Sicherungsverwahrung

Die Bundesregierung hat am 4. Oktober 2007 einen Gesetzentwurf zur Einfüh-
rung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach dem
Jugendstrafrecht vorgelegt (Bundestagsdrucksache 16/6562). Bereits im Koa-
litionsvertrag vom 11. November 2005 hatten Union und SPD vereinbart, „die
nachträgliche Sicherungsverwahrung soll in besonders schweren Fällen auch
bei Straftätern verhängt werden können, die nach Jugendstrafrecht wegen
schwerster Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die
sexuelle Selbstbestimmung verurteilt wurden. Eine Voraussetzung für die Ver-
hängung wird zudem sein, dass sich die besondere Gefährlichkeit des Täters
während des Strafvollzugs ergeben hat (S. 122)“.

Die Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries, äußerte in diesem Zusam-
menhang, die Sicherungsverwahrung sei eine der schärfsten staatlichen Sank-
tionen und dürfe daher gerade bei jungen Menschen immer nur die „Ultima
Ratio“ sein. Das neue Gesetz betreffe nach ihren Worten eine „verschwindend
geringe Zahl“ von Fällen, vermutlich weniger als zehn pro Jahr.

Dieser Gesetzentwurf stellt den vorläufigen Höhepunkt einer wahren Gesetzes-
flut im Bereich der Sicherungsverwahrung dar und auch die praktische Bedeu-
tung der Sicherungsverwahrung hat seit Mitte der 90er Jahre stark zugenom-
men (1996: 176, 2003: 306, 2005: 350 Untergebrachte, vgl. Statistisches Bun-
desamt FS 10, R.4.1.). So wurde 1998 die Möglichkeit der Anordnung der
Sicherungsverwahrung auf weitere Fallgruppen erstreckt und die bis dahin bei
der ersten Anordnung zeitlich grundsätzlich auf 10 Jahre angelegte Maßregel
durch Streichung der Höchstfrist – auch rückwirkend – in eine potentiell
lebenslange Freiheitsentziehung verändert. 2002 wurde die Möglichkeit der
Anordnung einer vorbehaltenen Sicherungsverwahrung eingeführt (§ 66a des
Strafgesetzbuches (StGB). Seit 2004 ist die nachträgliche Anordnung der
Sicherungsverwahrung auch dann möglich, wenn im Urteil kein entsprechender
Vorbehalt enthalten ist (§ 66b StGB) (vgl. Ullenbruch im Münchener Kommen-
tar zum StGB, § 66 Rn. 2). Ebenfalls im Jahr 2004 wurden die vorbehaltene
und die nachträgliche Sicherungsverwahrung für Heranwachsende eingeführt
und letztere genauso wie die nachträgliche Sicherungsverwahrung gegenüber

Erwachsenen im Jahr 2007 noch weiter verschärft.

Angesichts dieser Entwicklung besteht Grund zur Sorge, dass das verfassungs-
und menschenrechtlich höchst bedenkliche Instrument der Sicherungsverwah-
rung seinen „Ultima-Ratio“-Charakter verliert und sowohl von der Politik als
auch der Bevölkerung und der Justiz als ein gewöhnliches Mittel der sogenann-
ten Kriminalitätsbekämpfung angesehen wird. Dies gibt Anlass zu Nachfragen
hinsichtlich der Praxis der Sicherungsverwahrung.

Drucksache 16/9051 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Personen befinden sich derzeit aufgrund einer gerichtlichen An-
ordnung nach § 66 StGB in Sicherungsverwahrung?
(Bitte nach Bundesländern aufschlüsseln.)

a) Gegenüber wie vielen Personen wurde die Sicherungsverwahrung nach
§ 66 Abs.1 StGB angeordnet?

b) Gegenüber wie vielen Personen wurde die Sicherungsverwahrung nach
§ 66 Abs. 2 StGB angeordnet?

c) Gegenüber wie vielen Personen wurde die Sicherungsverwahrung nach
§ 66 Abs. 3 StGB angeordnet?

d) Wie viele Personen befinden sich derzeit in Sicherungsverwahrung, die
ohne die Rückwirkung des Wegfalls der Höchstfrist der Sicherungs-
verwahrung im Jahre 2002 bis zum jetzigen Zeitpunkt entlassen worden
wären?
(Bitte jeweils nach Bundesländern aufschlüsseln.)

2. Wie viele Personen, bei denen nach § 66a StGB die Anordnung der Siche-
rungsverwahrung vorbehalten wurde, befinden sich derzeit im Strafvollzug?
(Bitte nach Bundesländern aufschlüsseln.)

3. Wie viele Personen befinden sich derzeit aufgrund einer gerichtlichen An-
ordnung nach § 66a StGB in Sicherungsverwahrung?
(Bitte nach Bundesländern aufschlüsseln.)

4. Bei wie vielen Personen, denen gegenüber eine Sicherungsverwahrung nach
§ 66a StGB vorbehalten wurde, ist seit Einführung der Vorschrift am
21. August 2002 eine Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung er-
folgt, bei wie vielen Personen ist sie unterblieben?
(Bitte nach Bundesländern aufschlüsseln.)

5. Gegen wie viele Personen wurde seit der Einführung des § 66b StGB die
nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet?
(Bitte nach Bundesländern aufschlüsseln.)

a) Gegenüber wie vielen Personen wurde die Sicherungsverwahrung nach
§ 66b Abs.1 Satz 1 StGB angeordnet?

b) Gegenüber wie vielen Personen wurde die Sicherungsverwahrung nach
bzw. in Verbindung mit § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB angeordnet?

c) Gegenüber wie vielen Personen wurde die Sicherungsverwahrung nach
§ 66b Abs. 2 StGB angeordnet?

d) Gegenüber wie vielen Personen wurde die Sicherungsverwahrung nach
§ 66b Abs. 3 StGB angeordnet?
(Bitte jeweils nach Bundesländern aufschlüsseln.)

6. Bei wie vielen Personen liegen die formellen Voraussetzungen der nachträg-
lichen Sicherungsverwahrung nach § 66b StGB vor?

a) Bei wie vielen Personen liegen die formellen Voraussetzungen nach
§ 66b Abs. 1 Satz 1 StGB vor?

b) Bei wie vielen Personen liegen die formellen Voraussetzungen nach bzw.
in Verbindung mit § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB vor?

c) Bei wie vielen Personen liegen die formellen Voraussetzungen nach
§ 66b Abs. 2 StGB vor?

d) Bei wie vielen Personen liegen die formellen Voraussetzungen nach

§ 66b Abs. 3 StGB vor?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/9051

7. Wie viele Personen befinden sich derzeit aufgrund einer gerichtlichen
Anordnung nach § 106 Abs. 3 Satz 2 des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) in
Sicherungsverwahrung, bei wie vielen wurde die Anordnung der Siche-
rungsverwahrung abgelehnt?

8. Wie viele Personen, bei denen nach § 106 Abs. 3 Satz 2 JGG die Anord-
nung der Sicherungsverwahrung vorbehalten wurde, befinden sich derzeit
im Strafvollzug?

9. Gegen wie viele Personen wurde seit der Einführung des § 106 Abs. 5 JGG
die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet?

Bei wie vielen nach bzw. in Verbindung mit § 106 Abs. 5 Satz 2 JGG?

10. Gegen wie viele Personen wurde seit der Einführung des § 106 Abs. 6 JGG
die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet?

11. Bei wie vielen nach Jugendstrafrecht verurteilten Personen liegen die for-
mellen Voraussetzungen zur Anordnung nachträglicher Sicherungsver-
wahrung nach § 7 Abs. 2 JGG in der Fassung der Bundestagsdrucksache
16/6562 vor?

12. Bei wie vielen zurzeit im Strafvollzug befindlichen nach Jugendstrafrecht
verurteilten Personen liegen die formellen Voraussetzungen zur Anordnung
nachträglicher Sicherungsverwahrung nach § 7 Abs. 3 in der Fassung der
Bundestagsdrucksache 16/6562 vor?

13. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung zur Praxis der Länder bei
der staatsanwaltlichen Beantragung der Anordnung nachträglicher Siche-
rungsverwahrung vor?

a) Haben einzelne Bundesländer zur Regelung der staatsanwaltschaft-
lichen Beantragung der Anordnung nachträglicher Sicherungsverwah-
rung Vorschriften erlassen?

Wenn ja, welchen Inhalts?

b) Prüfen einzelne Bundesländer oder einzelne Staatsanwaltschaften bei
Vorliegen der formellen Voraussetzungen der nachträglichen Siche-
rungsverwahrung regelmäßig, ob die materiellen Voraussetzungen eben-
falls erfüllt sind?

c) Prüfen einzelne Bundesländer oder einzelne Staatsanwaltschaften bei
Vorliegen der formellen Voraussetzungen der nachträglichen Siche-
rungsverwahrung regelmäßig, ob tatsächliche Anhaltspunkte für das
Vorliegen der materiellen Voraussetzungen bestehen?

d) Nehmen einzelne Bundesländer die Prüfung der nachträglichen Siche-
rungsverwahrung regelmäßig als Maßnahme in ihre Vollzugspläne auf?

e) Gibt es Überlegungen, eine bundeseinheitliche Praxis sicherzustellen?

Wenn ja, welchen Inhalts?

14. Ist die Bundesregierung der Ansicht, der Grundsatz der Gleichbehandlung
gebiete es, Regelungen der staatsanwaltschaftlichen Beantragung der An-
ordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung Vorschriften zu erlassen?

Wenn ja, welchen Inhalts?

15. Hält die Bundesregierung es für zulässig bzw. sachgerecht, bei Vorliegen
der formellen Voraussetzungen der nachträglichen Sicherungsverwahrung
regelmäßig zu prüfen, ob die materiellen Voraussetzungen ebenfalls erfüllt
sind?
(Bitte begründen.)

Drucksache 16/9051 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
16. Hält die Bundesregierung es für zulässig bzw. sachgerecht, bei Vorliegen
der formellen Voraussetzungen der nachträglichen Sicherungsverwahrung
regelmäßig zu prüfen, ob tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen der
materiellen Voraussetzungen bestehen?
(Bitte begründen.)

17. Hält die Bundesregierung es für zulässig bzw. sachgerecht, die Prüfung der
nachträglichen Sicherungsverwahrung regelmäßig als Maßnahme in Voll-
zugspläne aufzunehmen?

18. Wie viele Anträge auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwah-
rung wurden seit der Einführung der diesbezüglichen Vorschriften jeweils
gestellt?
(Bitte nach Bundesländern, §§, Absätzen, Sätzen und Beantragungszeit-
raum aufschlüsseln.)

19. Wie viele davon wurden durch die Gerichte abgelehnt?
(Bitte nach Bundesländern, §§, Absätzen, Sätzen und Beantragungszeit-
raum aufschlüsseln.)

20. Wie viele Anordnungen nachträglicher Sicherungsverwahrung wurden
durch den Bundesgerichtshof (BGH) aufgehoben, wie viele Anordnungen
wurden durch ihn bestätigt?
(Bitte nach Bundesländern, §§, Absätzen, und Beantragungszeitraum auf-
schlüsseln.)

21. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass bei Vorliegen der formellen Vor-
aussetzungen die drohende Anordnung der nachträglichen Sicherungsver-
wahrung in Konflikt mit dem Erziehungsgedanken des Jugendstrafrechts
geraten kann?
(Bitte begründen.)

22. Wie beurteilt die Bundesregierung insgesamt die Vereinbarkeit der nach-
träglichen Sicherungsverwahrung mit dem Erziehungsgedanken des JGG?
(Bitte begründen.)

23. In welchen Einrichtungen soll der Vollzug der Sicherungsverwahrung bei
Jugendlichen erfolgen, und wie soll er gestaltet sein?

24. Wie viele Personen waren insgesamt von dem in Frage 1 Buchstabe d ge-
nannten rückwirkenden Wegfall der Höchstfrist der Sicherungsverwahrung
im Jahr 2002 betroffen?

Berlin, den 30. April 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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