BT-Drucksache 16/8838

15 Jahre nach Änderung des Grundrechts auf Asyl - Für einen rechtsstaatlichen Umgang mit Schutzsuchenden in Deutschland und in der Europäischen Union

Vom 11. April 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8838
16. Wahlperiode 11. 04. 2008

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Wolfgang Neskovic, Sevim Dag˘delen, Jan Korte,
Kersten Naumann, Petra Pau und der Fraktion DIE LINKE.

15 Jahre nach Änderung des Grundrechts auf Asyl – Für einen rechtsstaatlichen
Umgang mit Schutzsuchenden in Deutschland und in der Europäischen Union

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. 15 Jahre nach der gravierenden Einschränkung, der faktischen Abschaf-
fung des Grundrechts auf Asyl ist die damals maßgeblich vorgetragene Be-
gründung weitgehend entfallen. Im Vergleich zu den in der Öffentlichkeit
diskutierten Asylzahlen Anfang der 90er Jahre, mit denen geradezu ein
„Staatsnotstand“ (Helmut Kohl) herbeigeredet wurde, war die Zahl der An-
tragstellerinnen und -antragsteller mit unter 20 000 im Jahr 2007 marginal.

2. Die Lebensbedingungen von Asylsuchenden sind jedoch unverändert restrik-
tiv ausgestaltet und folgen einem rechtsstaatswidrigen Prinzip der Abschre-
ckung und der Verhinderung ihrer Integration. Zugleich trägt die Behandlung
der Asylsuchenden zu ihrer Stigmatisierung und Ausgrenzung bei.

2.1 Das zusammen mit der Grundrechtsänderung im Jahr 1993 beschlossene
Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) wurde kontinuierlich (zuletzt
2007) verschärft. Es führt zu einer häufig entwürdigenden Zwangsunter-
bringung von Asylsuchenden in Massenunterkünften, zu einer ungenü-
genden Existenzsicherung, zu diskriminierenden Versorgungspraktiken
(Gutscheine statt Bargeld, „Esspakete“ usw.) sowie zu Mängeln in der
medizinischen Behandlung. Seit dem Inkrafttreten des AsylbLG vor
15 Jahren wurden dessen Regelsätze den steigenden Lebensunterhalts-
kosten nicht angepasst. Der vom Gesetzgeber behauptete Zweck einer
Existenzsicherung, die dem Prinzip der Menschenwürde gerecht würde,
wird offensichtlich nicht erfüllt (vgl. die Große Anfrage der Fraktion DIE
LINKE. auf Bundestagsdrucksache 16/7213).

2.2 Die europaweit einzigartig restriktive „Residenzpflicht“ begrenzt die
Bewegungsfreiheit von Asylsuchenden schikanös auf einen sehr engen
Raum, zum Teil über Jahre hinweg. Sie führt nicht nur zur Isolation der
Betroffenen, sondern infolge strafbewehrter Sanktionen auch zu ihrer
Kriminalisierung.
2.3 Das Arbeitsverbot im ersten Jahr des Verfahrens und der darauf folgende
sehr beschränkte Arbeitsmarktzugang verhindern, dass Asylsuchende zu
ihrem Lebensunterhalt beitragen und produktiv tätig sein können, und
verfestigt damit zugleich Vorurteile und Vorbehalte in der Bevölkerung
gegen sie.

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3. Die massiven Einschränkungen der Rechte der Asylsuchenden im Asylver-
fahren selbst, die überwiegend bereits vor der Asylrechtsänderung beschlos-
sen wurden, sind nach wie vor in Kraft. Dabei wurden auch sie ursprünglich
vor allem mit der Vielzahl von Asylanträgen und der Notwendigkeit einer
Verfahrensbeschleunigung begründet. Sonderregelungen wie z. B. das „Flug-
hafenverfahren“, verkürzte Rechtsmittelfristen, eine Beschränkung des ge-
richtlichen Instanzenzuges oder gar der Ausschluss des Rechtsschutzes,
erleichterte Inhaftierungen von Asylsuchenden usw. stehen im Widerspruch
zu wesentlichen rechtsstaatlichen Grundsätzen.

4. Die Bundesrepublik Deutschland hat insbesondere mit der Regelung „sicherer
Drittstaaten“ das rechtliche Instrumentarium dafür geschaffen, die Verantwor-
tung für den Flüchtlingsschutz auf andere Staaten zu übertragen. Sie war zu-
gleich ein maßgeblicher Akteur bei der Vergemeinschaftung des Asylsystems
innerhalb der Europäischen Union. Das – durchaus beabsichtigte – Ergebnis
dieser Entwicklung ist, dass Deutschland als Kernland der EU gemessen an
seiner Bevölkerungsgröße und Wirtschaftskraft keinen angemessenen Beitrag
zum internationalen Flüchtlingsschutz mehr leistet, während vor allem die
südlichen und östlichen Mitgliedstaaten der EU für die Aufnahme bzw. Ab-
wehr von Asylsuchenden verantwortlich sind. Perspektivisch werden immer
weniger Schutzsuchende noch einen Zugang zu einem Asylverfahren in der
EU erhalten und bereits jetzt sterben tausende Menschen jährlich bei dem Ver-
such, die hochgerüsteten Grenzen der Europäischen Union zu überwinden.
Eine unbekannte Zahl von Schutzsuchenden wird zugleich in Länder wie Li-
byen, Marokko, die Ukraine usw. zurückgewiesen, in denen es zu schwerwie-
genden Menschenrechtsverletzungen gegenüber Schutzsuchenden kommt
und in denen kein wirksames und faires Asylsystem existiert. Eine zuneh-
mende Zahl von Asylsuchenden wird von diesen Transitländern gewaltsam an
der Weiterflucht nach Europa gehindert. Die Bundesregierung trägt für diese
Entwicklung eine erhebliche Verantwortung.

5. Eine Lösung dieser menschenrechtlichen Krise des europäischen Asyl-
systems liegt vor allem darin, einheitlich hohe Standards und ein faires Las-
tenteilungsprinzip im EU-Recht zu verankern. Asylsuchende dürfen an den
EU- Außengrenzen oder auf hoher See nicht zurückgewiesen werden. Eine
gewissenhafte inhaltliche Prüfung ihres Schutzgesuchs unter Wahrung
rechtsstaatlicher Standards muss gewährleistet werden. Die in den EU-Richt-
linien vorgesehenen Mindeststandards hindern die Bundesrepublik Deutsch-
land ausdrücklich nicht, eigene höhere Standards beizubehalten oder zu
schaffen.

6. Die angebliche oder tatsächliche Bekämpfung von Fluchtursachen ist keine
Rechtfertigung für eine Beschneidung des internationalen Flüchtlingsschut-
zes. Nach wie vor tragen die westlichen Industrienationen mit ihrer globali-
sierten Wirtschafts- und Produktionsweise und mit ihrer auch auf kriegerische
Mittel setzenden internationalen Politik eine erhebliche Verantwortung dafür,
dass Menschen ihre Herkunftsländer verlassen müssen. Freihandels- und
Fischereiabkommen der Europäischen Union sorgen indirekt dafür, dass Men-
schen z. B. in Afrika ihre Lebens- und Existenzgrundlagen verlieren und zur
Flucht getrieben werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

sich durch gesetzgeberische und andere Maßnahmen für ein System eines
effektiven Flüchtlingsschutzes einzusetzen und dabei insbesondere alle Restrik-
tionen im Flüchtlingsrecht zurückzunehmen, die vom Geist der Abwehr und
Abschreckung getragen sind und die damit im Konflikt zu den Verfassungs-
prinzipien der Menschenwürde, des Rechts- und Sozialstaatsgebots, der freien

Entfaltung der Persönlichkeit und der Gleichheit vor dem Gesetz stehen, und

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1. im Bereich des Asylverfahrens folgende Maßnahmen zu ergreifen:

● Abschaffung des Flughafenverfahrens, das ein rechtsstaatswidriges und
die Schutzsuchenden extrem belastendes „Schnellverfahren“ darstellt,

● Beseitigung aller Einschränkungen im Rechtsschutz für (abgelehnte)
Asylsuchende, d. h. zum Beispiel die Angleichung der Rechtsmittelfris-
ten an die im Verwaltungsverfahren üblichen Bedingungen und Fristen
und die volle Wiederherstellung des sonst üblichen Zugangs zur zweiten
Gerichtsinstanz,

● Schaffung einer unabhängigen und kostenfreien Beratung vor einer An-
hörung im Asylverfahren, die die Bedürfnisse von Opfern geschlechts-
spezifischer Verfolgung, Kindern und Traumatisierten besonders berück-
sichtigt,

● Gleichbehandlung von 16- und 17-jährigen Asylsuchenden mit anderen
minderjährigen Asylsuchenden, u. a. Rücknahme der gesetzlich unter-
stellten „Verfahrensmündigkeit“ ab 16 Jahren und Verzicht auf die Inhaf-
tierung Minderjähriger,

● Beseitigung aller Defizite bei der Umsetzung der asylrelevanten EU-
Richtlinien, die unter anderem in der Anhörung des Innenausschusses
offenbar geworden sind, insbesondere im Bereich des Schutzes von Bür-
gerkriegsflüchtlingen (Schutzlücke in § 60 Abs. 7 des Aufenthaltsgeset-
zes – AufenthG),

● Umsetzung der Empfehlungen des Hohen Flüchtlingskommissars der
Vereinten Nationen (UNHCR), unter anderem durch Änderung der be-
sonders restriktiven Widerrufspraxis;

2. im Bereich der Aufnahme von Flüchtlingen folgende Maßnahmen zu ergreifen:

● Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes und der Residenzpflicht,

● Abschaffung der Arbeits- und Ausbildungsverbote für Asylsuchende und
Geduldete;

3. sich auf europäischer Ebene in der zweiten Phase der Schaffung eines harmo-
nisierten Asylsystems für Schutzstandards und Aufenthaltsbedingungen auf
hohem Niveau einzusetzen und dabei insbesondere

● für eine Geltung des Zurückweisungsverbots der Genfer Flüchtlingskon-
vention auch beim Aufgriff von Flüchtlingen auf hoher See durch Hoheits-
träger der EU-Mitgliedstaaten einzutreten,

● für ein faires Lastenteilungssystem innerhalb der EU einzutreten, das nicht
zulasten der Flüchtlinge und des Flüchtlingsschutzes geht wie das derzei-
tige Dublin-II-System.

Berlin, den 11. April 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Die Änderung des Artikels 16 des Grundgesetzes (GG), die vom Deutschen
Bundestag ungeachtet der breiten gesellschaftlichen Proteste nach 14-stündiger
Debatte am 26. Mai 1993 beschlossen wurde, war eine gravierende Einschrän-

kung, eine faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl, denn der abstrakte
Grundsatz des Absatzes 1 von Artikel 16a GG („Politisch Verfolgte genießen

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Asylrecht.“) wird durch die nachfolgenden Absätze systematisch wieder zu-
rückgenommen. Kein Flüchtling, der über eine Landesgrenze in die Bundes-
republik Deutschland eingereist ist, kann sich seitdem mehr auf das indivi-
duelle Grundrecht auf Asyl berufen. Schutz muss dessen ungeachtet nach den
völkerrechtlich verpflichtenden Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonven-
tion gewährt werden, wenn der von den Flüchtlingen durchquerte Drittstaat
nicht bekannt und eine unmittelbare Zurückweisung deshalb nicht möglich ist.
Die Schutzsuchenden werden auf diese Weise genötigt, ihren Fluchtweg zu
verschweigen, um in Deutschland Asyl beantragen zu können. Die Annahme,
in den als „sicher“ erachteten Drittstaaten, von denen die Bundesrepublik
Deutschland umgeben ist, sei ein effektives und faires Asylverfahren in jedem
Fall gewährleistet, war nicht nur 1993 in Bezug auf Polen und Tschechien
höchst zweifelhaft, sondern ist es auch heute noch z. B. in Bezug auf den
EU- Mitgliedstaat Griechenland, der vom UNHCR bereits im Jahr 1994 als
nicht „sicher“ erachtet worden war (vgl. Frankfurter Rundschau vom 25. März
1994). Zudem drohen innerhalb des „Dublin-II-Systems“ nicht nur Zurück-
schiebungen in andere europäische Staaten, sondern auch Kettenabschiebun-
gen und Zurückweisungen in Transitstaaten wie Libyen, Marokko und die
Ukraine, unter anderem mit Hilfe der neu gegründeten EU-Grenzschutzagentur
FRONTEX. Die zweite Phase der Asylrechtsharmonisierung innerhalb der
Europäischen Union bietet allerdings die Gelegenheit, die geltenden Regelun-
gen im Flüchtlingsrecht und die Aufnahmebedingungen europaweit zu verbes-
sern sowie Verfahrensstandards auf einem hohen Niveau festzuschreiben, wozu
unter anderem ein effektiver Schutz vor Zurückweisung an den EU-Außengren-
zen gehören muss.

Zahlreiche Restriktionen und Reglementierungen im deutschen Asylsystem
sind ursprünglich mit den hohen Antragszahlen Ende der 80er-/Anfang der
90er-Jahre begründet worden, die jedoch heute nicht mehr zur Rechtfertigung
dienen können. Bereits die damaligen Versuche, eine „Asylantenflut“ zu kons-
truieren, die angeblich die Bundesrepublik Deutschland zu überschwemmen
drohe, entbehrten jeder Grundlage. Die – bis heute – zur Legitimierung der
Asylrechtsänderung genannte Zahl von bis zu 440 000 Asylanträgen im Jahr
1992 ist z. B. keinesfalls identisch mit der Zahl der im Jahr 1992 tatsächlich
nach Deutschland geflohenen Asylsuchenden. Bei einer realistischen Betrach-
tung, d. h. wenn Mehrfach- und Folgeanträge von identischen Personen abge-
zogen werden, ergibt sich, dass lediglich ca. 272 000 Personen im Jahr 1992
um Asyl nachgesucht hatten (vgl. Bundestagsdrucksache 16/7687, Frage 15a).
Zudem stammt eine große Zahl von Asylanträgen von Kindern von Asyl-
suchenden: In den Jahren 2005/2006 waren fast 50 Prozent aller Asylantrag-
stellerinnen und -antragsteller Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Fast
jeder fünfte Asylantrag wurde in diesem Zeitraum sogar „von Amts wegen“ ge-
stellt – für in Deutschland geborene Kinder von Asylsuchenden. Von einer
existenziellen „Bedrohung“ Deutschlands durch Asylsuchende zu sprechen,
war bereits 1992 falsch – heute ist eine solche Sichtweise, die die andauernden
erheblichen Beschränkungen der Lebensbedingungen und Rechte von Asyl-
suchenden rechtfertigen soll, angesichts der zahlenmäßigen Entwicklung nach-
gerade absurd.

Eine andere maßgeblich vorgetragene Begründung für die Änderung des
Grundrechts auf Asyl war der Verweis auf eine angeblich hohe „Missbrauchs-
quote“. Dabei ist die Gesamtanerkennungsquote wesentlich höher, als es in der
Öffentlichkeit oft wahrgenommen wird (vgl. Bundestagsdrucksache 16/7687).
Im Jahr 2007 betrug sie infolge einer hohen Anerkennung irakischer Flücht-
linge sogar über 25 Prozent. Würde die Zahl der Anerkennungen auf die Zahl
der tatsächlich inhaltlich entschiedenen Fälle bezogen und würden zudem

Asylverfahren von Kindern von Asylsuchenden und von Kriegsflüchtlingen
nicht berücksichtigt oder gesondert ausgewertet, ergäbe sich eine nochmals

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/8838

deutlich höhere Quote. Hinzugezählt werden müssen auch Anerkennungen
durch die Gerichte und Anerkennungen eines „subsidiären“ Schutzes, der z. B.
bei drohender Folter und unmenschlicher Behandlung, Todesstrafe oder exis-
tenziellen Gefährdungen gewährt wird. Bei einer Bewertung der Anerken-
nungsquote ist schließlich von Bedeutung, dass bis zum Jahr 2005 nichtstaat-
liche Verfolgungsgründe in Deutschland asylrechtlich unberücksichtigt blieben.
Nach wie vor weigert sich die Bundesregierung, den europarechtlich gebotenen
Schutz für Kriegsflüchtlinge wirksam umzusetzen (vgl. Bundestagsdrucksache
16/7426, Frage 10.).

Die besondere Situation in der Asylpolitik Anfang der 90er-Jahre hatte vor allem
historische Gründe: Zum einen führten das enorme Wohlstandsgefälle nach Ende
der Ost-West-Konfrontation sowie politische und soziale Verwerfungen in den
Ländern des ehemaligen Warschauer Vertrages (darunter Pogrome gegen Roma
in Rumänien) dazu, dass viele Menschen aus Osteuropa in der Bundesrepublik
Deutschland um Asyl nachsuchten. Zum anderen stellten Kriegsflüchtlinge aus
Jugoslawien seit 1991/1992 einen erheblichen Anteil unter den Asylsuchenden.
Mangels wirksamer Schutzregelungen für Kriegsflüchtlinge waren sie gezwun-
gen, einen Asylantrag zu stellen. Von vielen Kommunen wurden sie aus Kosten-
gründen hierzu sogar gedrängt, obwohl sie nach deutschem Asylrecht keinerlei
Anerkennungschance hatten.

Das Asylverfahrensrecht wurde bereits vor der Asylrechtsänderung auf ein-
fachgesetzlicher Ebene systematisch ausgehöhlt. So sprach der Parlamenta-
rische Staatssekretär beim Bundesministerium des Innern Carl-Dieter Spranger
anlässlich eines Gesetzes zur Änderung asylverfahrensrechtlicher Vorschriften
im Jahr 1988 davon, dass alle „Möglichkeiten, die das geltende Verfassungs-
recht bietet, weitgehend ausgeschöpft“ seien (Plenarprotokoll 11/106, S. 7327).
Dessen ungeachtet gab es weitere Verschärfungen des Verfahrensrechts, etwa
Verkürzungen der Fristen. Nicht eine qualitativ hochwertige Behörden- und
Gerichtspraxis und die Sicherung von Verfahrensrechten der Betroffenen waren
dabei das Ziel, sondern eine maximale Beschleunigung der Verfahren bis zur
verfassungsrechtlich gerade noch zulässigen Grenze.

Die Asylrechtsänderung von 1993 war ein tiefer Einschnitt in die bundesrepu-
blikanische Geschichte. Das individuelle Asylrecht stellte eine praktisch wirk-
same Lehre aus der deutschen Vergangenheit dar, auch vor dem Hintergrund,
dass die europäischen Länder in den 30er- und 40er-Jahren ihre Grenzen vor
Flüchtlingen aus Deutschland verschlossen hatten und dadurch unter anderem
jüdische Flüchtlinge – als „Wirtschaftsflüchtlinge“ diffamiert – dem Nazi-
regime ausgeliefert und ihrem Schicksal überlassen wurden. Auf der Konferenz
von Evian im Juli 1938 versagten alle potentiellen Aufnahmeländer Flücht-
lingen aus Deutschland den Schutz und begründeten dies mit einer angeblich
drohenden „Überbevölkerung“ und hoher Arbeitslosigkeit im eigenen Lande –
die Parallelen zu heutigen Begründungsmustern der Abschottung sind unüber-
sehbar. Heute wie damals sind Schutzsuchende infolge der restriktiven Visa-
und Asylbestimmungen in Europa gezwungen, auf illegalen Wegen und unter
Gefährdung ihres Lebens um Asyl nachzusuchen.

Der von politisch rechten Kräften initiierte und bis zur „erfolgreichen“ Grund-
gesetzänderung betriebene „Kampf gegen das Asylrecht“ war auch ein Teil des
ideologischen Kampfes gegen ein Verständnis Deutschlands als Einwande-
rungsland. Asylsuchende „eigneten“ sich in besonderer Weise als Angriffs- und
Projektionsziel für fremdenfeindliche Ressentiments.

Die Politik ging zudem eine „unheilige Allianz“ mit der „Gewalt der Straße“
ein: Zwar wurden gewaltsame Übergriffe und Brandanschläge von Rechts-
extremisten, die 1992 geradezu an der Tagesordnung waren (so gab es bis zu 78

protokollierte Übergriffe auf nicht Deutsche an nur einem Tag, vgl. Süddeutsche
Zeitung vom 10. November 1992), als Mittel klar abgelehnt, das „Anliegen“

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der Gewalttäter jedoch wurde geteilt. Schlimmer noch: Die handelnden Poli-
tiker waren es, die mit ihrer Instrumentalisierung von Überfremdungsängsten
den Hass in der Bevölkerung mit schürten. So wurde selbst das Pogrom in
Rostock-Lichtenhagen im August 1992 noch dazu genutzt, um die Forderung
nach Änderung des Artikels 16 GG zu bekräftigen.

Der damalige Vertreter des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Natio-
nen in Bonn, Walter Koisser, kommentierte: „Wenn man einen Brandüberfall
auf ein Asylheim hat und zehn Minuten später die Stellungnahme eines Poli-
tikers, der sagt, natürlich, ich kann die Leute verstehen, weil es so viele Flücht-
linge gibt, dann ist das fürchterlich. Die Politik sieht oft nur die Zahlen, nicht
aber die Schicksale und Ursachen. Wenn Politiker ständig von der Asylanten-
schwemme reden und davon, dass wir das nicht schaffen, und die Leute hören
das viermal am Tag, dann sagen die Leute eben vielleicht, daß sie das jetzt
selbst in die Hand nehmen …“ (Süddeutsche Zeitung, 11. September 1992).
Die Abgeordnete Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast beschrieb den Zusammenhang
im Deutschen Bundestag so: „Ausgerechnet diejenigen, die mit warnendem
Unterton die hohen Asylbewerberzahlen immer wieder präsentieren, als drohe
unserem Land ein Dammbruch – so wird es ja dargestellt –, sind es doch, die in
der Bevölkerung dumpfe Ängste auslösen und schließlich über ausländerfeind-
liche Tendenzen wehklagen, die sie im Grunde mit erzeugt haben“ (vgl. Plenar-
protokoll 11/106 vom 10. November 1988, S. 7329).

Herbert Leuninger von PRO ASYL mahnte bereits im Jahr 1994 angesichts der
vermeintlichen „Erfolgsmeldungen“ zurückgehender Asylantragszahlen laut
„Frankfurter Rundschau“ vom 6. Juli 1994: „Alle, die Kanther applaudierten,
sollten sich fragen, ob sich mit dem Rückgang der Asylzahlen ihre eigene so-
ziale Situation verbessert habe. Dann würden sie feststellen, dass ihre Lage
nicht von der Flüchtlingszahl abhänge, sondern Symptom der deutschen Zwei-
Drittel-Gesellschaft sei.“ Die Illusion, dass es vielen Menschen in Deutschland
bei deutlich weniger Asylsuchenden besser ginge, wurde von der Wirklichkeit
widerlegt.

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