BT-Drucksache 16/827

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung -15/6014- Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland - Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - und Stellungnahme der Bundesregierung

Vom 8. März 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/827
16. Wahlperiode 08. 03. 2006

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Diana Golze, Jörn Wunderlich, Elke Reinke, Klaus Ernst
und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
– Drucksache 15/6014 –

Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland
– Zwölfter Kinder- und Jugendbericht –

und

Stellungnahme der Bundesregierung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Bildung, Betreuung und Erziehung gehören in öffentliche Verantwortung.
Politik im Interesse Kinder und Jugendlicher ist Querschnittsaufgabe. Unter
dem Leitmotiv „Bildung, Betreuung und Erziehung vor und neben der
Schule“ erfasst der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht die zentralen Bestim-
mungsfaktoren für die Situation von Kindern und Jugendlichen. Die zen-
tralen Aussagen und Befunde des Berichts sind eine Aufforderung zu einer
Politik im Interesse von Kindern und Jugendlichen. Das von der Bundes-
regierung in diesem Zusammenhang abgelegte Bekenntnis zu einem öffent-
lich verantworteten System von Bildung, Betreuung und Erziehung sowie
zur Verantwortung von Politik für die Schaffung guter Rahmenbedingungen
für das Aufwachsen und Heranwachsen der jungen Generation ist zu be-
grüßen. Es ist Anlass für einen Politikwechsel, der die Interessen von Kin-
dern und Jugendlichen in den Mittelpunkt stellt. Kinder- und Jugendpolitik
ist kein Luxus, dem auf der Haushaltsseite Subventionstatbestände ent-
sprechen. Wer die Ermöglichung eines Aufwachsens in öffentlicher Ver-
antwortung und den Abbau von Benachteiligung als zentrale Herausforde-

rungen einer Politik für Kinder und Jugendliche ernst nimmt, muss sich von
einer Politik der kurzsichtigen Haushaltskonsolidierung auf Kosten der
Handlungsfähigkeit des Staates verabschieden und muss die öffentliche Ver-
antwortung für Bildung, Betreuung und Erziehung steigern.

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2. Bildung, Betreuung und Erziehung müssen auf den Wandel der Arbeitswelt
und die Ausdifferenzierung von Lebensweisen reagieren. Auch Kinder- und
Jugendpolitik muss auf die immer stärker um sich greifende Verunsicherung
am Arbeits- und Ausbildungsmarkt reagieren. Eine steigende Frauen-
erwerbsquote kann nicht über weiterhin manifeste geschlechtsspezifische
Diskriminierungen am Arbeitsmarkt, einen insgesamt steigenden Anteil von
Beschäftigten in prekären Arbeitsverhältnissen sowie einen immer öfter
durch Lohnsenkungen und Massenentlassungen geprägten Arbeitsalltag hin-
wegtäuschen. Auch die Lebensweisen ändern sich. Geschlechtsspezifisch
organisierte Familien mit einer tragenden Erwerbssäule sind nicht mehr die
dominante Lebensweise, in die Kinder hineingeboren werden. Immer öfter
erleben Kinder und Jugendliche Diskontinuitäten von familiären Situatio-
nen. Diese Entwicklungen führen für Kinder und Jugendliche zu einer Aus-
differenzierung des Koordinatensystems, in dem ihr Aufwachsen organisiert
wird. Familie und Schule haben ihren monopolartigen Anspruch als Orte für
Bildung, Betreuung und Erziehung verloren. Die gezielte Stärkung des
chancengleichen Zugangs zu anderen Bildungsorten und Lernwelten liegt in
öffentlicher Verantwortung.

3. Gebührenfreie Kindertagesbetreuung ist fachlich geboten und politisch er-
wünscht. Wie der Bericht festhält, darf frühkindliche Bildung nicht nur als
Vorbereitungszeit für die Schule gesehen werden. Forderungen nach einer
gebührenfreien öffentlichen Kinderbetreuung sind richtig. Die frühkindliche
Betreuung muss qualitativ verbessert werden. Die Ausbildungsstandards für
Erzieherinnen und Erzieher müssen den wachsenden Ansprüchen angepasst
werden. Ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher müssen kontinuierlich
weitergebildet werden. Die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher
muss ein praxisorientiertes Hochschulstudium werden.

4. Jugendarbeit gehört dazu! Der Kinder- und Jugendbericht legt ein wichtiges
Bekenntnis zu den Leistungen und Angeboten der Jugendarbeit in Deutsch-
land ab. Vor dem Hintergrund von Angriffen auf die Existenzberechtigung
öffentlich geförderter Jugendarbeit ist es richtig, die Vorbildwirkung von
Jugendhilfe zu betonen und anderen Systemen eine Übernahme von deren
Prinzipien, Teilhabe und Verantwortung zu empfehlen. Schule kann vom
eigenständigen Bildungsauftrag der Jugendarbeit profitieren, wo sie sich auf
eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe einlässt. Millionen von Kindern und
Jugendlichen nutzen die außerschulischen Bildungsangebote in Vereinen,
Jugendverbänden und Einrichtungen der Jugendarbeit. Der Deutsche Bun-
destag bedankt sich für die von Freiwilligen, ehrenamtlichen Verantwor-
tungsträgerinnen und -trägern und hauptamtlichen Fachkräften mit viel En-
gagement auch unter widrigen Bedingungen geleistete Arbeit. Die bildungs-
politische Diskussion muss der außerschulischen Bildung höhere Bedeutung
einräumen und das Defizit bei der empirischen Erfassung des Angebots und
der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe beheben. Bund, Länder und
Kommunen tragen Verantwortung für eine nachhaltige und bedarfsgerechte
finanzielle Absicherung der Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit.

5. Bildung gehört in den Mittelpunkt einer Politik im Interesse von Kindern
und Jugendlichen. Der Bericht stellt richtigerweise den Lebenslauf und die
Bildungsbiografie von Kindern in den Mittelpunkt und beschreibt Bildung
als aktiven Prozess, „in dem sich das Subjekt eigenständig und selbsttätig in
der Auseinandersetzung mit der sozialen, kulturellen und natürlichen Um-
welt bildet.“ Vorbildhaft stellt er eine Vielzahl von Lernorten und Lern-
welten dar und öffnet den Blick auf die Vielfalt der Anlässe und Inhalte von
Bildungsprozessen. Dies lenkt den Blick weg von der Fixierung auf das Bil-
dungssystem auf die Analyse von Bildungsprozessen. Eine gleichberech-

tigte Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen an Bildungsprozessen kann Ar-
mutsrisiken verringern. Aus der von der Bundesregierung betonten Gefahr

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von „Armuts-Bildungs-Spiralen“ ist ein Plädoyer für eine breite Anhörung
und Berücksichtigung der Interessen von Kindern und Jugendlichen in allen
sie betreffenden Entscheidungen abzuleiten. Wer in öffentlichen Haushalten
kürzt, handelt nicht im Interesse von Kindern und Jugendlichen, denn gerade
sie sind von den entsprechenden Kürzungen oft überproportional betroffen.
Wer an Kindern und Jugendlichen spart, spart an der Zukunft und verhindert
nachhaltige Bildungspolitik.

6. Kinder- und Jugendpolitik kann nicht durch Familienpolitik ersetzt werden.
Die Familie hat einen zentralen Stellenwert für die Sozialisation und die Bil-
dungsbiografie von Kindern und Jugendlichen. Aber Kinder- und Jugend-
politik darf nicht faktisch der Familienpolitik nachordnet werden. Familien
können nicht auf das Zusammenleben mit Kindern reduziert werden, und
Kinder sind unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer Solidargemein-
schaft Familie selbständig als Akteure in politischen, ökonomischen und so-
zialen Entscheidungsprozessen zu behandeln. Insbesondere ist der an vielen
Stellen auch schon gesetzlich verankerte individuelle Anspruch auf öffent-
lich verantwortete Förderung umfassend zu realisieren. Kinder und Jugend-
liche dürfen auch nicht als Aktivposten in einem demografischen Notfall-
plan instrumentalisiert werden. Sie haben das Recht, ihre Zukunftschancen
außerhalb des sozialen Nahraums zu definieren. Weil Lebenszeit für Kinder
und Jugendliche zu großen Teilen außerhalb von Familie stattfindet, und
weil es geboten ist, das Erleben und Erlernen von sozialer Verantwortung
nicht auf den sozialen Nahraum zu reduzieren, müssen im Mittelpunkt der
Kinder- und Jugendpolitik ohne Wenn und Aber die Interessen von Kindern
und Jugendlichen stehen.

7. Vernetzung von Bildungsorten und Lernwelten braucht verbindliche Stan-
dards. Der Bericht stellt Bildung richtig als offenen und unabschließbaren
Prozess im Kontext einer Trias von Bildung, Betreuung und Erziehung dar.
Die Bedeutung von Bildungsprozessen für das Aufwachsen von Kindern
und Jugendlichen darf nicht auf die Dimension des unmittelbar verwertbaren
Wissens reduziert werden. Die Entwicklung von nationalen Bildungsstan-
dards ist ein erster Schritt zur Vergleichbarkeit von Bildungswegen. Eine
konsequente inhaltliche Rahmensetzung durch den Bund ist Voraussetzung
für die Bewältigung der gleichzeitig nötigen strukturellen Veränderungen.
Die Eigenverantwortung der Schule muss erweitert und die kommunale Ver-
antwortung gestärkt werden. Die Stärkung des Zusammenwirkens von ver-
schiedenen Akteuren im schulischen Bereich und deren Vernetzung ist eine
wichtige Vorraussetzung für den Aus- und Aufbau von Ganztagsschulen und
Schulen mit ganztägigem Angebot. Nur so kann die Chance zur Entwick-
lung einer neuen pädagogischen Kultur an der Schule ergriffen werden. Der
vom UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung geäußerten Kritik
am deutschen Bildungsföderalismus ist deshalb zuzustimmen. Sie ist als
Plädoyer für eine bundesweite Rahmenkompetenz im Bildungsbereich zu
werten.

8. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen des Aufwachsens sind realistisch in
den Blick zu nehmen. Wer die Herausforderungen an Kinder- und Jugend-
politik analysieren will, muss auch jenseits der vom Bericht gezogenen
analytischen Grenzen einen realistischen Blick auf wichtige Bestimmungs-
faktoren lenken, die die Situation von Kindern und Jugendlichen prägen.
Denn deren Chancen auf einen gelungenen Start in ein selbstbestimmtes
Leben haben sich in den letzten Jahren massiv verschlechtert:

a) Die Kinder- und Jugendarmut steigt seit den 90er Jahren konstant an. Die
relative Armutsquote bei den Unter-20-Jährigen lag Ende 2003 bei fast

20 Prozent. Die Verschärfung der Sozialgesetze hat zu einem Armuts-
schub geführt. Mitte 2005 befand sich bundesweit fast jedes 7. Kind unter

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15 Jahren im Sozialgeldbezug. Die jüngst beschlossene Diskriminierung
von Unter-25-Jährigen beim Bezug von Arbeitslosengeld II stellt für die
betroffenen Jugendlichen eine existenzielle Verschärfung ihrer Lage und
für alle Jugendlichen eine existenzielle Bedrohung dar. Ein immer höhe-
rer Anteil von Kindern und Jugendlichen lebt auf einem Einkommens-
niveau, das sie von einer angemessenen sozialen und gesellschaftlichen
Teilhabe ausschließt. Das Armutsrisiko für Kinder ist dann noch höher,
wenn sie in Ostdeutschland geboren werden, oder Eltern mit Migrations-
hintergrund haben oder bei einem allein erziehenden Elternteil auf-
wachsen. Die Bundesregierung macht einen schwer zu korrigierenden
Fehler, wenn sie die dramatische Entwicklung ignoriert und kein Konzept
dagegen vorlegt. Die steigende Einkommensarmut verschärft das Pro-
blem der Bildungsarmut, weil sie den Zugang zu Bildungsangeboten er-
schwert. Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und zertifizier-
ter Leistung verfestigt sich auch durch den Trend zur Ökonomisierung
von Bildungsangeboten von Generation zu Generation.

b) Die Zahl der ganztägigen Kindertagesbetreuungsangebote ist nicht be-
darfsgerecht. Trotz aller Anstrengungen bleibt das Angebot an Kinder-
tagesbetreuungsplätzen besonders in Westdeutschland weit hinter dem
Bedarf zurück. Die rechtliche Situation ist weiterhin unzureichend, weil
ein Rechtsanspruch von Kindern auf einen Kindertagesbetreuungsplatz
ab der Geburt genauso wenig in Aussicht steht wie eine finanziell unter-
setzte Abschaffung der Elternbeiträge für Kindertagesbetreuungsplätze.

c) Die Situation an den allgemein bildenden Schulen ist alarmierend. Fast
jeder siebente junge Mensch eines Jahrgangs verlässt die Schule ohne
Abschluss, bei Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund ist
es sogar jede bzw. jeder fünfte. Die sozialen Folgen dieser seit Jahren an-
haltenden Lage sind in ihrer Gänze heute noch gar nicht abschätzbar.

d) Die außerschulische Kinder- und Jugendarbeit steht unter Druck. Die Be-
funde des Berichts stehen in einem eklatanten Widerspruch zur Erosion
der Förderlandschaft, die sich besonders auf der Ebene der Länder und
Kommunen seit Jahren abzeichnet. Die offizielle Kinder- und Jugend-
hilfestatistik weist für die Jahre 2000 bis 2004 einen Rückgang der Maß-
nahmen der Jugendarbeit um 17 Prozent und einen Rückgang der Teil-
nehmerinnen und Teilnehmer um 19 Prozent aus. In den ostdeutschen
Flächenländern kam es im selben Zeitraum mit einem Maßnahmerück-
gang um 27 Prozent und einem Rückgang der Teilnehmerinnen und Teil-
nehmer um 39 Prozent zu einem regelrechten Einbruch der Jugendarbeit.
Diese Entwicklung stellt die Existenzfrage für die außerschulische Kin-
der- und Jugendarbeit.

e) Die Schwelle zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt wird immer höher.
Die von der Bundesagentur für Arbeit berechnete offizielle Ausbildungs-
platzlücke liefert keinen Blick auf die tatsächliche Lage am Ausbildungs-
markt. Hunderttausende Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz ge-
funden haben, als Altnachfragerinnen bzw. Altnachfrager bereits zum
wiederholten Mal leer ausgegangen sind oder als nicht ausbildungsreif
eingestuft und aus der Statistik herausgerechnet wurden, bilden die bit-
tere Realität zur Schönrechnerei von Wirtschaftsverbänden und Bundes-
regierung. Die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge liegt
auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung. Die Zahl der
betrieblichen Ausbildungsplätze ist 2005 im Vergleich zum Jahr 2004
weiter gesunken. Der Ausbildungspakt ist wirkungslos geblieben. Wenn
wie im Jahr 2005 nur 58 Prozent der Schulabgängerinnen und Schul-

abgänger in ein Ausbildungsverhältnis eingehen, kann von chancenglei-
chem Zugang zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt keine Rede sein.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/827

Auch die Jugendarbeitslosigkeit verharrt auf unerträglich hohem Niveau.
11,8 Prozent der Unter-25-Jährigen waren im Dezember 2005 als arbeits-
los gemeldet, davon mehr als 25 Prozent länger als 6 Monate. Die immer
öfter zu beobachtende Abdrängung von Jugendlichen in so genannte Ein-
Euro-Jobs ist keine Alternative zu einer Berufsausbildung.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

zukünftig ihr politisches Handeln umfassend an den Interessen von Kindern und
Jugendlichen auszurichten. Die Bundesregierung ist aufgefordert, schnellst-
möglich ihre kinder- und jugendpolitischen Ziele in Form einer verbindlichen
und überprüfbaren Handlungsstrategie zusammenzufassen. Grundlage dieser
Handlungsstrategie muss der Ausbau des „Nationalen Aktionsplans für ein kind-
gerechtes Deutschland“ sein, der um klare Zielvorgaben sowie konkrete und
terminierbare Vorhaben zu ergänzen ist. Dabei sind folgende Forderungen zu
berücksichtigen:

1. Kinderarmut wirksam und nachhaltig bekämpfen! Die Bundesregierung
wird aufgefordert, ein Konzept vorzulegen, das für jedes Kind einen indi-
vidualisierten Anspruch auf eine existenz- und teilhabesichernde Grund-
sicherung unabhängig vom sozialen Status der Eltern realisiert. Übergangs-
weise wird die Bundesregierung zur Vorlage von Gesetzesinitiativen zur
Anhebung des Kindergeldes auf einen Betrag von 250 Euro aufgefordert.

2. Bedarfsgerechtes Angebot an elternbeitragsfreien Kindertagesbetreuungs-
plätzen zur Verfügung stellen! Die Bundesregierung wird aufgefordert,
schnellstmöglich Konzepte zu entwickeln und umzusetzen, die Länder und
Kommunen in die Lage versetzen, eine flächendeckende umfassende und
gebührenfreie ganztägige Betreuung für alle Kinder und Jugendlichen von
0 bis 16 Jahren anzubieten bzw. aufzubauen. Darüber hinaus ist ein Rechts-
anspruch auf eine ganztägige Betreuung für jedes Kind und jeden Jugend-
lichen bundesweit festzuschreiben. Der Rechtsanspruch ist auf alle unter-
3- jährigen Kinder auszuweiten und bis 2010 in einen uneingeschränkten
Ganztagsanspruch umzuwandeln. Diese Ansprüche sind als Rechte der Kin-
der und vom sozialen Status der Eltern unabhängig zu gestalten.

3. Ganztagsschulausbau steuern! Die Bundesregierung wird dazu aufgefordert,
die rechtliche Grundlage für ein flächen- und bedarfsgerechtes ganztägiges
Schulangebot zu schaffen. Dieses ist schnellst- und bestmöglich aufzubauen.
Das Konzept muss folgende Kriterien erfüllen:

a) Es muss dem Anspruch eines integrierten Bildungs-, Betreuungs- und
Erziehungskonzeptes gerecht werden und eine bessere Abstimmung der
Angebote auf diesen 3 Gebieten möglich machen, um diese enger zu
verzahnen.

b) Es muss eine Reform in der Aus- und Weiterbildung der pädagogischen
Fachkräfte auslösen, die die Ausbildung auf Hochschulniveau anhebt und
neue Wege in der Verknüpfung von Lehramts- und Sozialpädagogik-
studium geht.

c) Es muss eine umfassende Strukturreform im Bildungswesen beinhalten,
die die Aufhebung der Ungleichbehandlung von Kindern und Jugend-
lichen aus verschiedenen sozialen Schichten zur Folge hat. Ziel dieser
Reform sollte die Aufhebung des vielgliedrigen und von Bundesland zu
Bundesland zu unterschiedlichen Schulsystems hin zu einer Form des
längeren gemeinsamen Lernens von Kindern sein.

d) Es muss einen finanziellen Ausgleich schaffen, da der Ausbau des ganz-

tägigen Schulangebots nicht aus Elternbeiträgen oder kommunalen Haus-
halten zu finanzieren ist.

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e) Im Rahmen des Ausbaus ganztägiger Bildungsangebote an Schulen ist
der Vernetzung von Schulen mit anderen bildungs- und lernrelevanten
Akteuren stärkere Aufmerksamkeit zu widmen. Entsprechende Koopera-
tionen müssen dort gestärkt werden, wo sie auf der Ebene gleichberech-
tigter Zusammenarbeit erfolgen. Der Deutsche Bundestag erwartet von
der Bundesregierung die Entwicklung von Steuerungsinstrumenten, die
eine solche Kooperation zum Kriterium für den Aufbau von Ganztags-
schulen machen.

4. Bundesweite Standards für Bildung schaffen! Die im Rahmen der Föderalis-
musreform geplante Einschränkung der ohnehin schwachen Kompetenzen
des Bundes im Bildungsbereich ist falsch. Die Bundesregierung wird auf-
gefordert, sich für eine Ausklammerung des Bildungsbereichs aus der Föde-
ralismusreform einzusetzen und darauf hinzuwirken, dass Bund und Länder
in Zukunft mindestens in den zentralen Bereichen gemeinsam handeln.
Dazu zählen die Lehrerinnen- und Lehrerbildung, die Entwicklung bundes-
weiter Curricula und Bildungsstandards, die Qualitätssicherung sowie die
Entwicklung von Standards und Eckpunkten, innerhalb derer Schulen
selbstständig Verantwortung übernehmen sollen.

5. Kinder- und Jugendhilferecht muss Bundesangelegenheit bleiben! Die Bun-
desregierung wird aufgefordert, allen Bestrebungen zur Abschaffung von
bundesweiten Zuständigkeiten und Verpflichtungen im Bereich der Kinder-
und Jugendhilfe entgegenzutreten.

6. Außerschulische Jugendarbeit dauerhaft sichern! Die Bundesregierung wird
aufgefordert, ihr mehrfach geleistetes Bekenntnis zur Wichtigkeit von
Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit in mittelfristige Verpflichtungen zur
Ausstattung und qualitativen Ausgestaltung des Kinder- und Jugendplans
des Bundes münden zu lassen. Darüber hinaus wird die Bundesregierung
aufgefordert, Anstrengungen zu einer verbesserten empirischen Erforschung
der außerschulischen Jugendarbeit einzuleiten, die deren quantitative Ent-
wicklung und ihre Qualität als Bildungsort in angemessener Weise erfasst.
Der mehrfach geäußerte förderpolitische Anspruch, dass die Jugendhilfe-
ausgaben deren Aufgaben zu folgen haben, ist bei allen anstehenden Ver-
änderungsprozessen, die mit Aufgabenerweiterungen für die Jugendarbeit
einhergehen, zu berücksichtigen.

7. Jugendarbeit für Toleranz und Demokratie dauerhaft sichern! Die existieren-
den Bundesprogramme zur Förderung der Zivilgesellschaft (bisher bekannt
unter den Namen CIVITAS und entimon) sind in ihrem spezifischen auf die
Bekämpfung von Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemi-
tismus ausgerichteten Profil dauerhaft und mindestens auf dem bisherigen
Stand abzusichern.

8. Beabsichtigte Kürzungen in Europa rückgängig machen! Die Bundesregie-
rung wird aufgefordert, sich bei den Institutionen der Europäischen Union
dafür einzusetzen, dass die auf Vorschlag des Europäischen Rates bislang
geplanten überproportionalen Kürzungen im Bereich Bildung, Jugend und
Kultur rückgängig gemacht werden.

9. UN-Kinderrechtskonvention ratifizieren! Die UN-Kinderrechtskonvention
muss voll umgesetzt werden. Das Ausländer- und Asylrecht muss im Sinne
des Schutzes und der Rechte von Flüchtlingskindern unter 18 Jahren über-
arbeitet werden. Die Vorbehaltserklärung zur Ratifizierung der UN-Kinder-
rechtskonvention muss endlich zurückgenommen werden. Ein Staat, der
sich für kinder- und menschenfreundlich hält, kann zur Kinderrechtskonven-
tion keine Vorbehalte aufrechterhalten!

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/827

10. Ein bedarfsorientiertes Angebot an beruflichen Erstausbildungsplätzen
schaffen! Die Bundesregierung wird aufgefordert, schnellstmöglich auf
einer realistischen Zahlenbasis und einer fachlich qualifizierten Grundlage
festzustellen, wie hoch der tatsächliche Bedarf an betrieblichen Aus-
bildungsplätzen im Verhältnis zu den tatsächlich einen Ausbildungsplatz
nachfragenden Bewerberinnen und Bewerbern ist. Basis muss dabei das
Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 10. Dezember 1980 (Az. 2 BvF 3/77)
sein, nachdem ein auswahlfähiges Angebot an Ausbildungsplätzen die
Nachfrage um 12,5 Prozent überschreiten muss. Des Weiteren wird die
Bundesregierung aufgefordert, die Einführung eines umlagefinanzierten
Systems der beruflichen Erstausbildung einzuleiten, das die materielle Ver-
antwortung für die Schaffung von betrieblichen Ausbildungsplätzen dauer-
haft den Arbeitgebern überträgt.

Berlin, den 7. März 2006

Diana Golze
Jörn Wunderlich
Elke Reinke
Klaus Ernst
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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