BT-Drucksache 16/8212

Versorgungsqualität der Substituionsbehandlung für Opiatabhängige verbessern

Vom 20. Februar 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8212
16. Wahlperiode 20. 02. 2008

Antrag
der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth Scharfenberg, Silke
Stokar von Neuforn, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Josef Philip Winkler und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Versorgungsqualität der Substitutionsbehandlung für Opiatabhängige verbessern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Substitutionsbehandlung für Opiatabhängige in Deutschland ist zu einer
anerkannten und erfolgreichen Therapiemethode geworden. Mittlerweile wer-
den fast 70 000 Patientinnen und Patienten behandelt (Stand: 1. Juli 2007). Die
Therapie hat vielfach zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation und zur
sozialen Wiedereingliederung der behandelten Patientinnen und Patienten, ins-
besondere zur Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit beigetragen. Damit ein-
hergehend ist auch eine Verringerung des Delinquenzverhaltens festzustellen.
Bei einem Teil der Betroffenen lässt sich nach hinreichender Stabilisierung auch
eine dauerhafte Abstinenz erreichen.

Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte
COBRA-Projekt, eine 2006 abgeschlossene dreijährige Verlaufsstudie zur Wirk-
samkeit der Substitutionstherapie, belegt die insgesamt positiven Praxiserfah-
rungen. Substitutionsbehandlungen haben sich als eigenständige und standardi-
sierte ärztliche Behandlungsmethode für chronisch Opiatabhängige etabliert.

Diese insgesamt erfreuliche Entwicklung ist ohne die Arbeit von Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeitern der Suchthilfeeinrichtungen, Ärztinnen und Ärzten sowie
Therapeutinnen und Therapeuten nicht denkbar. Deren Erfahrungen zeigen
indes, dass die geltenden Bestimmungen des Betäubungsmittelgesetzes und der
Betäubungsmittelverschreibungsverordnung einer weiteren Verbesserung der
Versorgungsqualität in der Substitutionsbehandlung entgegenstehen und teil-
weise sogar eine Verschlechterung bewirken. Die Regelungen zur Applikation
der verschriebenen Medikamente, zur Mitgabe des Substitutionsmittels und zum
Behandlungsabbruch können die Erzielung eines Behandlungserfolges gefähr-
den. Anders als bei anderen chronischen Erkrankungen, wo fachlich begründete
ärztliche Behandlungsregelungen und Leitlinien maßgeblich sind, bilden bei
Opiatabhängigen betäubungsmittelrechtliche Regelungen den entscheidenden
Orientierungsrahmen für ärztliches Handeln. Hierbei besteht oftmals ein Ziel-
konflikt zwischen der Intention des Gesetzgebers, die Sicherheit des Betäu-
bungsmittelverkehrs zu garantieren, und dem Anspruch, die Versorgung von
Patientinnen und Patienten auf hohem und wissenschaftlich begründetem
Niveau sicherzustellen.

Der permanente Konflikt von Substitutionsärztinnen und -ärzten, einerseits
ihrem Berufsethos folgend den größtmöglichen Behandlungserfolg zum Wohle
ihrer Patientinnen und Patienten erzielen zu wollen und andererseits in konkre-

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ten Behandlungssituationen bei Einhaltung der geltenden Betäubungsmittelver-
schreibungsverordnung genau dieses Ziel nicht erreichen zu können, hat teil-
weise einen Rückzug von Ärztinnen und Ärzten aus der Substitutionsbehand-
lung zur Folge. Die Entwicklungen in Niedersachsen, wo vom Sommer 2006 bis
Juni 2007 gegen zahlreiche Ärztinnen und Ärzte wegen vermeintlicher Verstöße
gegen das Betäubungsmittelrecht strafrechtlich ermittelt wurde, hat ebenfalls zu
einer großen Verunsicherung unter substituierenden Medizinerinnen und Medi-
zinern geführt.

Belegt werden diese Erfahrungen auch von der COBRA-Studie des BMBF-
Suchtforschungsverbundes ASAT (Sachsen/Bayern). Befragt nach den Gründen
für die geringe Attraktivität der Substitutionsbehandlung nannten die befragten
Ärztinnen und Ärzte vor allem die „gesetzlichen, rechtlichen, administrativen
Barrieren“ sowie „extrem bürokratische Durchführungsbestimmungen“. Zudem
werden von substituierenden Ärztinnen und Ärzten auch die Vergütungs- und
Honorierungsregelungen für die Konsiliartätigkeit sowie die Behandlung soma-
tischer und psychiatrischer Erkrankungen problematisiert.

Es ist daher kein Zufall, dass die Anzahl der substituierenden Ärztinnen und
Ärzte stagniert bzw. in einigen Regionen sogar sinkt, und dies vor dem Hinter-
grund insgesamt erheblich ansteigender Patientenzahlen. Beispielsweise ist im
Bereich der Ärztekammer Westfalen-Lippe die Zahl der substituierenden Ärz-
tinnen und Ärzte im Zeitraum 1997 bis 2006 mit 304 (1997) und 313 (2006)
nahezu konstant geblieben. Gleichzeitig hat sich allerdings die Zahl der behan-
delten Patientinnen und Patienten von ca. 4 000 auf ca. 10 000 mehr als verdop-
pelt. Kamen 1997 noch zehn substituierte Patientinnen und Patienten auf eine
Ärztin oder einen Arzt, waren es 2006 bereits 29. Eine entsprechende Entwick-
lung ist in den meisten Regionen Deutschlands zu beobachten.

Auch die Versorgungsqualität der Substitutionsbehandlung vor allem in länd-
lichen Räumen wie auch in Justizvollzugsanstalten ist mangelhaft. Die derzeiti-
gen Bestimmungen zur Vergabe des Substitutionsmittels durch die/den behan-
delnde/n Ärztin/Arzt sowie die Mitgabe des Substitutionsmittels (tage- oder
wochenweise sowie während Urlauben im In- und Ausland) sowie die gesetz-
liche Einschränkung der Substitutionsmittel und Applikationsformen erweisen
sich zudem aus der Sicht stabilisierter Patientinnen und Patienten als zu unflexi-
bel. Nicht zufriedenstellend ist darüber hinaus die Situation der psychosozialen
Betreuung. So variieren Umfang und Inhalt der psychosozialen Maßnahmen von
Bundesland zu Bundesland, von Kommune zu Kommune und von Drogenein-
richtung zu Drogeneineinrichtung. Auch die Finanzierung und das Angebot der
psychosozialen Betreuung (Platzzahl) sind nicht immer bedarfsgerecht ausge-
staltet. Dies ist insbesondere deshalb problematisch, da Substitutionspatientin-
nen und -patienten zur Teilnahme an einer solchen Betreuung faktisch verpflich-
tet sind. Die COBRA-Studie zeigt darüber hinaus eine weitere Unterversorgung
von Suchtkranken auf, etwa bei der Behandlung von Hepatitis C oder komorbi-
den psychischen Störungen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

– die Regelungen der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV)
so zu ändern, dass in § 5 Abs. 6 eine Mitgabe des Substitutionsmedikamentes
an Patientinnen und Patienten mit ärztlich dokumentiertem stabilem Behand-
lungsverlauf in gut begründeten Fällen für zwei Tage und in § 5 Abs. 8 die
Aushändigung der Betäubungsmittelverschreibung an stabilisierte Patientin-
nen und Patienten für mehr als sieben Tage ermöglicht wird;

– die Vertretungsregelungen zu vereinfachen und die bestehende Konsiliarre-
gelung dahingehend zu erweitern, dass ein Arzt/eine Ärztin, der/die die Vor-
aussetzungen nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 BtMVV nicht erfüllt, für bis zu

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zehn Patientinnen und Patienten gleichzeitig ein Substitutionsmittel ver-
schreiben darf;

– die Aufnahme weiterer Substitutionsmedikamente und Applikationsformen
in das Betäubungsmittelgesetz bzw. die Betäubungsmittelverschreibungs-
verordnung zu prüfen und sich hierbei an internationalen Erfahrungen und
aktuellen wissenschaftlichen Studien zu orientieren;

– vor dem Hintergrund des den Betäubungsmittelmissbrauch gleichermaßen
sanktionierenden § 29 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) die Verzicht-
barkeit des § 5 der BtMVV insgesamt zu überprüfen;

– auf bundesweit einheitliche Inhalte und Qualitätskriterien der psychosozialen
Behandlung für Opiatabhängige hinzuwirken;

– bei den Bundesländern und der ärztlichen Selbstverwaltung darauf hinzuwir-
ken, dass Suchtmedizin zum festen Bestandteil der allgemeinen- und haus-
ärztlichen Aus- und Weiterbildung wird;

– bei den Bundesländern auf eine Verbesserung der Substitutionsbehandlung
im Strafvollzug sowie auf ein bedarfsgerechtes Angebot in der psychosozia-
len Betreuung hinzuwirken.

Berlin, den 20. Februar 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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